Flüchtlingskrise

"Deutschland wird konservativer werden"

Zukunftswissenschaftler Horst W. Opaschowski
Fordert eine "soziale Vision" für Deutschland: der Zukunftsforscher Horst Opaschowski © Paul Zinken/dpa
Horst Opaschowski im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 04.11.2015
Der Zuzug hunderttausender Flüchtlinge werde die Wertehierarchie der Deutschen grundlegend verändern, meint der Zukunftsforscher Horst Opaschowski. Von der Politik fordert er einen "Deutschland-Plan": Man könne nicht einfach alles auf sich zukommen lassen.
Dass der Zuzug hunderttausender Flüchtlinge die deutsche Gesellschaft verändern wird, ist klar. Aber in welche Richtung? Nach Ansicht des Zukunftsforschers Horst Opaschowski deutet sich eine konservative Wende an. Nicht mehr das Ego oder die Selbstverwirklichung würden künftig im Vordergrund stehen, sondern der mitmenschliche Umgang. Emanzipation werde durch Konvention ersetzt.
Ökologische Fragen künftig sekundär
"Soziale Konflikte werden als bedrohlicher angesehen als ökonomische Probleme", sagt Opaschowski. Auch ökologische Fragen würden künftig sekundärer.
Der Politik wirft Opaschowski Zukunftsblindheit vor. Sie reagiere in der aktuellen Situation hektisch und wie eine Getriebene. "Wir brauchen doch so etwas wie eine soziale Vision für die nächsten 10 bis 15 Jahre und können nicht einfach alles auf uns zukommen lassen. Wir brauchen einen Deutschland-Plan, einen Perspektiv-Plan, der konkrete Angaben darüber macht, wie wir in Zukunft leben wollen."

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Wenn man Horst Seehofer so harmonisch mit der Kanzlerin sieht wie gestern nach der Unionsfraktionssitzung, dann könnte man für einen Moment glauben, alles wird gut. Wir werden sehen, morgen, wenn CSU und CDU auf eine SPD treffen, die hadert mit Transitzonen und Zäunen. Der Ausgang dieses aktuellen Streits ist ungewiss, und, egal, wie er ausgeht, die Riesenherausforderung bleibt die gleiche: Wie kann ein Land so viele neue Mitmenschen vernünftig integrieren, wie wird sich unser Land dabei verändern? Gestern früh habe ich mit Alois Glück, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Katholiken in Deutschland, gesprochen und ihn nach seinen Erwartungen gefragt.
Alois Glück: Wie es sich im Einzelnen auswirkt, wir werden bewusster auch eine Wertedebatte brauchen, und es wird, so gesehen, vielleicht ein Stück heilsame geistige Auseinandersetzung sein in unserem eigenen Lande, und dann werden wir in dem Prozess lernen müssen.
Und im Einzelnen kann man nicht genau sagen, wie es gehen wird. Es wird alle Bereiche natürlich berühren, vom Alltagszusammenleben, es wird ganz wichtig sein, wie die Dinge in der Berufswelt gelingen, und es geht natürlich auch bis zu Fragen der inneren Sicherheit. Aber wir können auch lernen dabei.
"Die Wertehierarchie wird sich grundlegend verändern"
Frenzel: Alois Glück vom Zentralrat der Katholiken. Wie dieser Prozess aussehen könnte, das wollen wir weiter diskutieren mit jemandem, dessen Geschäft der professionelle, der wissenschaftliche Blick in die Glaskugel ist, Horst Opaschowski, Zukunftsforscher seit 1970 gibt er Prognosen zur Zukunft Deutschlands heraus. Eine erste beschäftigte sich übrigens damals mit den sozialen Folgen der Zuwanderung. Herr Opaschowski, guten Morgen!
Horst Opaschowski: Ja, einen schönen guten Morgen!
Frenzel: Herr Glück war ja recht vorsichtig, recht vage in seiner Perspektive. Wagen Sie eine genauere? Wie wird sich die hohe Zahl an Flüchtlingen auswirken in Deutschland?
Opaschowski: Wir sind ja schon weiter, als er angedeutet hat. Wir brauchen eine Wertedebatte, sagt er – nein, wir haben sie schon länger. Es gibt zwei große Veränderungen. Einmal die Wertehierarchie der Deutschen wird sich grundlegend verändern. Und zweitens, die Angstskala der Deutschen wird sich verändern.
Fangen wir mit der Wertedebatte an. Nicht mehr das Ego oder die Selbstverwirklichung stehen dann im Vordergrund, sondern eher der mitmenschliche Umgang. Vor allen Dingen Emanzipation, unser Schlagwort der 68er-Zeit, wird durch Konvention ersetzt. Das heißt, konservative Werte kommen wieder. Und wenn Sie jetzt schon die Deutschen fragen, das wird Sie überraschen, ich habe aktuell in unserem Institut danach gefragt, wie würden Sie heute Kinder erziehen, dann stehen ganz oben an Ehrlichkeit und Anstand und richtiges Benehmen. Das haut einen wirklich vom Hocker.
Fleiß, Disziplin und Pflichterfüllung stehen wieder ganz oben
Frenzel: Das heißt, unser Land wird konservativer werden?
Opaschowski: Ja, insgesamt wird das Land konservativer werden. Es werden natürlich auch damit verbunden Arbeitstugenden verändert, also alles das, was vielleicht in der Nach-68er-Zeit nicht mehr so gefragt war, wie Fleiß, Disziplin, Pflichterfüllung, steht wieder obenan.
Aber das Zweite muss ich auch sagen, die Angstskala der Deutschen verändert sich. Also, soziale Konflikte werden als bedrohlicher angesehen als ökonomische Probleme. Ökonomische Probleme wie Armut und Arbeitslosigkeit. Wir können jetzt schon nachweisen, dass sehr starke Konflikte zwischen Einheimischen, Ausländern, Christen, Muslimen befürchtet werden, die als sozialer Zündstoff für die Zukunft folgenreicher eingeschätzt wird als etwa die Kluft zwischen arm und reich.
Und, wissen Sie, so Flugbegleiterstreiks, Pilotenstreiks, Lokführer, Kita, Post oder was es alles gibt, das ist nebensächlich. Und Generationskonflikte haben in Zukunft überhaupt keine Bedeutung mehr.
"Wachsende Kluft zwischen Einheimischen und Ausländern"
Frenzel: Sie sagen, diese Konflikte werden befürchtet. Ist das eine unberechtigte Angst oder glauben Sie, dass diese Konflikte auch wirklich stattfinden werden?
Opaschowski: Nein, die Angst vor dem Fremden, die ist ja in uns Menschen angelegt, die war schon immer so. Ich stelle nur seit 2002, seitdem wir diese Befragung durchführen, diese wachsende Kluft zwischen Einheimischen und Ausländern fest. Und die Angst wächst, Zukunftssorgen werden einfach größer, und Ökonomisches wird sekundärer, genauso wie Ökologisches.
Frenzel: Was sind denn da die Stellschrauben? Wenn wir sagen, gut, das ist Ihre Zukunftsperspektive, aber wir hätten es gern anders, wir möchten eigentlich nicht, dass diese Angst um sich greift.
Opaschowski: Vieles ist ja schon da. Sie rufen mich aus Hamburg an, hier gibt es schon heute mehr Muslime als Katholiken. In München sind etwa 38 Prozent der Münchener Einwohner mit Migrationshintergrund, also es hat eigentlich alles schon begonnen. Und man muss sagen, wenn ich einen Vorwurf mache, die Politik, die jetzt so hektisch, wie Getriebene reagiert – sie hat das alles eigentlich schon längst wissen müssen. Frau Merkel soll ja mal kürzlich gesagt haben, ja, damals, das war alles weit weg. Nein, das ist nicht mehr weit weg im Zeitalter der Globalisierung ist das alles angekommen, und meine Warnung vor über 20 Jahren lautete: Armut benötigt keinen Pass, um internationale Grenzen zu überwinden. Wenn wir das nicht beachten, dann droht eines Tages ein Aufstand der Armen, und die Kluft zwischen Arm und Reich wird explosiv.
Die Politik verhält sich "zukunftsblind"
Frenzel: Aber, Herr Opaschowski, müssen wir uns da nicht alle an die eigene Nase fassen in diesem Nichtsehen des Problems? Ich habe mal in Ihre letzte Zukunftsprognose geschaut, Deutschland 2030, 2013 veröffentlicht, und da finde ich auch keine Vorahnung darauf, dass Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland kommen.
Opaschowski: Nein. Über Quantitäten können Sie nicht reden. Aber diese Prognosen von mir, von 1970 bis 1993, 2002 taucht immer wieder auf, dass wir mit weltweiten Wanderungs- und Flüchtlingsbewegungen rechnen müssen. Also konkret gesagt, die Politik verhält sich ein wenig zukunftsblind, vielleicht wir auch. Natürlich wollen alle gut, möglichst sogar besser leben, und diesen Wunsch haben eben die vielen Kriegsflüchtlinge, die jetzt auch nach Deutschland kommen.
Frenzel: Aber was erwarten Sie denn dann von verantwortlichen Politikern? Wie macht man denn zukunftsgerechte Politik in diesem Feld?
Opaschowski: Ich glaube, wir brauchen doch so etwas wie eine soziale Vision für die nächsten zehn bis 15 Jahre und können nicht einfach alles auf uns zukommen lassen. Wir brauchen einen Deutschlandplan, einen Perspektivplan, der konkrete Angaben darüber macht, wie wir in Zukunft leben wollen, ja, eigentlich müsste ich sagen, wie wir in Zukunft zusammenleben wollen.
Meine Vision für die Zukunft lautet: gut zusammenleben. Das müsste ganz oben anstehen. Wir müssen uns auf eine Gemeinschaft auf Gegenseitigkeit einstellen, wo wir voneinander lernen und auch teilweise, eben gerade im Wirtschaftsbereich, voneinander profitieren können.
"Gut leben" statt "mehr haben"
Frenzel: Glauben Sie denn, dass es einen solchen Konsens in der Gesellschaft gibt, sich auf so etwas zu einigen?
Opaschowski: Ja, wir sehen ja auch jetzt diese konservative Wende, die sich andeutet. Wahrscheinlich wird man eines Tages über ein Schulfach 'Anständiges Benehmen' diskutieren. Man wird die Ideale von gleichberechtigter Partnerschaft ganz obenan stellen. Vieles andere steht uns noch bevor. Trotzdem, Sie haben recht, auch die Bürger müssen mehr Zukunftshunger beweisen und nicht nur sozusagen an ihren Besitztümern festhalten wollen. 'Gut leben' ist das, was wir brauchen, und nicht immer nur 'mehr haben'.
Frenzel: Horst Opaschowski, der Zukunftsforscher zu der Frage, wie wird sich Deutschland durch die Flüchtlinge verändern. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Opaschowski: Ja, einen schönen Tag!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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