Flüchtlingsdrama

"Die Situation ist außer Kontrolle"

Die Aufnahme zeigt Flüchtlinge, die mit ihrem Boot in unmittelbarer Nähe eines Frachtschiffes auf dem Mittelmeer gekentert sind.
Die Aufnahme zeigt Flüchtlinge, die mit ihrem Boot in unmittelbarer Nähe eines Frachtschiffes auf dem Mittelmeer gekentert sind. © dpa / picture alliance / Opielok Offshore Carriers
Christopher Hein, Direktor des italienischen Flüchtlingsrats, im Gespräch mit Nana Brink  · 21.04.2015
Der nach dem jüngsten Flüchtlingsdrama beschlossene Zehn-Punkte-Plan der EU enthalte nicht viel Neues, kritisiert Christopher Hein, der Direktor und Gründer des italienischen Flüchtlingsrats. So sei keine Rede davon, wie die Ursachen des Schlepperwesens bekämpft werden könnten.
Der Direktor und Gründer des italienischen Flüchtlingsrats in Rom, Christopher Hein, hat den nach dem jüngsten Flüchtlingsdrama beschlossenen Zehn-Punkte-Plan der Außen- und Innenminister der EU kritisiert.
In diesen Vorschlägen könne er nicht sehr viel Neues erkennen, sagte Hein am Dienstag im Deutschlandradio Kultur. So werde etwa die Bekämpfung des Schlepperwesens keinen Erfolg haben, solange man nicht zugleich dessen Ursache bekämpfe:
"Und davon ist in diesem Zehn-Punkte-Plan keine Rede. Die Ursache ist natürlich, dass es den Markt gibt. Weil es keine Möglichkeit gibt, legal und normal in die europäische Union als Flüchtling reinzukommen. (...) Solange da keine anderen Öffnungen stattfinden werden, werden die Schlepper auch weiterhin ihr schmutziges Geschäft machen können."
Stabilisierung Libyens ist notwendig
Libyen sei seit mittlerweile 13 Jahren das wichtigste Durchgangsland für Flüchtlinge nach Südeuropa, äußerte Hein:
"Und man fragt sich natürlich: Was ist in den letzten 13 Jahren passiert, sowohl vor als nach der Gaddafi-Revolution? Da hat es ja bisher überhaupt keine Auswirkungen gegeben, trotz der Anstrengungen, die hier und da gemacht worden sind."
Eine Stabilisierung von Libyen ließe sich nur eine massive ökonomische, politische und kulturelle Einflussnahme auf das Land erzielen, "Die aber auch Geld bedeutet. Und davon ist bisher keine Rede."
"Ein Sicherheitsrisiko für uns alle"
Die Situation in Bezug auf die Schlepperorganisationen an der libyschen Küste sei "absolut außer Kontrolle", so die Einschätzung von Hein. Man befürchte, dass mittlerweile auch die Terrororganisation Islamische Republik infiltriert und damit zum Nutznießer geworden sei. Zudem seien die Schlepperorganisationen auch mit den bewaffneten Brigaden vernetzt, die 2011 während der Gaddafi-Revolution entstanden seien:
"Man darf nicht vergessen, dass es hier auch um ein Sicherheitsrisiko für uns alle geht. In der Weise, dass solange die Schlepper den Markt haben, es auch bedeutet, dass unsere Sicherheit über die Finanzierung der terroristischen Organisationen gefährdet ist."

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Die Katastrophe, die hätte verhindert werden können – so muss man das Drama um die über 800 ertrunkenen Flüchtlinge aus Afrika wohl nennen. Die Zahl haben ja jetzt Überlebende benannt, die gestern in Catania angekommen sind. Und jetzt ist die Betroffenheit groß, wie auch gestern Abend bei den EU-Außenministern, die das Thema schnell auf die Tagesordnung gesetzt haben. Aber es gibt keine einfachen Antworten, wenn wir sie auch gerne angesichts der menschlichen Tragödien, die sich auf dem Mittelmeer abspielen, hören würden. Christopher Hein ist Gründer und Direktor des italienischen Flüchtlingsrates in Rom. Ich grüße Sie, Herr Hein!
Christopher Hein: Guten Morgen!
Brink: Das Ergebnis der gestrigen Sitzung der EU-Außenminister war unter anderem, dass man jetzt Triton, das ist ja eigentlich eine Operation der europäischen Grenzsicherungsagentur, das möchte man jetzt ausweiten. Damit sie auch vor der europäischen Küste entfernt eingreifen kann, also da, wo das Boot am Wochenende ja gekentert ist. Wird das solche Tragödien verhindern?
Hein: Das könnte immerhin dazu beitragen, dass eine schnellere Seenotrettung erfolgt und dass der Radius der Operationen der Seenotrettung vergrößert wird. Ich würde sagen, das ist einer der sehr, sehr wenigen Punkte aus dem Zehn-Punkte-Plan, der gestern von den Außen- und Innenministern der Europäischen Union verabschiedet wurde, der sicherlich einen Beitrag geben könnte zumindest, um eine Fortsetzung, was früher die Operation Mare Nostrum, eine rein italienische Operation der Seenotrettung gewesen ist, jetzt auf europäische Ebene auszuweiten. Bisher war diese Operation Triton beschränkt auf einen Radius von nur 30 Seemeilen von der Küste entfernt. Und das war einer der eigentlich Gründe auch, warum Triton in keiner Weise die Operation Mare Nostrum hat ersetzen können.
Brink: Hätte die denn verlängert werden sollen oder hätten Sie erwartet, dass die verlängert wird von den EU-Außenministern gestern? Würde das etwas bringen?
Hein: Das würde immerhin jedenfalls dazu beitragen können, dass eine größere Überschattung dieses Teils des Kanals von Sizilien stattfinden könnte mit dem Radarsystem und dem Satellitensystem, die damit verbunden sind. Die andere Sache ist, dass Triton sehr viel weniger Schiffe und Hubschrauber zur Verfügung hat bisher als vorher Mare Nostrum und auch eine finanzielle Dotierung, die absolut unzureichend ist.
Die Arbeit der Schlepperorganisationen
Brink: Immer wieder wird ja, wie auch von Innenminister de Maizière, auf die Schleuserbanden hingewiesen, auch mit dem Argument, eine Ausweitung von Triton würde ihnen in die Hände spielen. Was wissen Sie über diese Schlepperorganisationen?
Hein: Die Schlepperorganisationen gibt es natürlich seit langer Zeit. Sie haben sich aber in den letzten anderthalb Jahren sehr viel besser und miteinander vernetzt organisiert. Was die große Befürchtung ist: Dass mittlerweile auch die Islamische Republik da mit infiltriert ist. Und damit auch Nutznießer geworden ist von den Hunderten, von Millionenen von Euro, die verdient werden mit den Schiffen, mit den Booten, mit den Flüchtlingen und Migranten, die für die Überfahrt mindestens 1000 Euro von der Nordküste Libyens bis nach Sizilien zahlen müssen.
Die Schlepperorganisationen heute sind hier und dort in der libyschen Küste auch vernetzt mit den bewaffneten Brigaden, die während der Anti-Gaddafi-Revolution 2011 entstanden sind, und die Situation ist absolut außer Kontrolle. Man darf nicht vergessen dabei, dass es hier auch um ein Sicherheitsrisiko für uns alle geht in der Weise, dass, solange die Schlepper den Markt haben, es auch bedeutet, dass unsere Sicherheit über die Finanzierung der terroristischen Organisationen gefährdet ist.
Brink: Können Sie denn bestätigen, dass so auf diesen Flüchtlingsbooten vonseiten der IS auch auf die italienische Küstenwache geschossen worden ist? Das hat ja Italien immer wieder behauptet.
Ursachen des Schlepperwesens müssen bekämpft werden
Hein: Das ist von Augenzeugen bestätigt worden, dass es zwei Fälle gab, wo tatsächlich geschossen wurde. Das bedeutet jetzt nicht, dass ein Krieg ausgebrochen wäre, das war ein ganz, sage ich mal, ökonomisches Interesse: Die Schmuggler wollten ihre Boote zurückhaben, die beschlagnahmt worden waren, und haben dann eben auch Waffengewalt benutzt dafür.
Ich möchte aber sagen: Die Bekämpfung des Schlepperwesens wird keinen Erfolg haben, solange nicht die Ursache des Schlepperwesens auch bekämpft ist, und davon ist in diesem Zehn-Punkte-Plan keine Rede. Die Ursache ist natürlich, dass es den Markt gibt, weil es keine Möglichkeit gibt, legal und normal in die Europäische Union als Flüchtling reinzukommen und dass daher die Leute gar keine andere Wahl haben, als sich den Schlepperdiensten anzunehmen und die zu bezahlen. Und so lange da keine anderen Öffnungen stattfinden werden, werden die Schlepper auch weiterhin ihr schmutziges Geschäft machen können.
Brink: Und Sie machen es ja von Libyen aus. Sie haben es selbst erwähnt, das ist eigentlich der Dreh- und Angelpunkt des gesamten Schlepperwesens. Darauf hat auch der Außenminister Frank-Walter Steinmeier hingewiesen.
Frank-Walter Steinmeier: Mit Blick auf die Situation in Nordafrika ist Libyen das wichtigste Transitland für die Flüchtlinge, deshalb kommt es darauf an, dass wir helfen, Libyen zu stabilisieren.
Brink: Wie will man diesen Schlepperbanden, den Kriminellen das Handwerk legen in Libyen?
Libyen ist das wichtigste Durchgangsland für Flüchtlinge
Hein: Na, Libyen ist das wichtigste Durchgangsland für Flüchtlinge, die nach Südeuropa und vor allem nach Italien kommen, seit mittlerweile 13 Jahren. Das ist jetzt keine neue Sache. Und man fragt sich natürlich: Was ist in den letzten 13 Jahren passiert, sowohl vor als auch nach der Gaddafi-Revolution oder gegen die Gaddafi-Revolution? Da hat es ja bisher überhaupt keine Auswirkungen gegeben trotz Anstrengungen, die hier und da gemacht worden sind.
Ich sehe in diesen Vorschlägen wirklich nicht sehr viel Neues, weil tatsächlich die wirkliche Ursache dabei gar nicht angegangen wird. Wie gesagt, eine Stabilisierung von Libyen ist, wenn man die militärische Lösung ausschließen will – was ich hoffe und das scheint auch bestätigt worden zu sein gestern, dass die militärische Lösung keine Option ist –, dann bedeutet die Stabilisierung von Libyen tatsächlich eine massive ökonomische, politische und auch kulturelle Einflussnahme auf Libyen, die aber auch Geld bedeutet. Und davon ist bisher keine Rede.
Aber ich wiederhole: Die Schlepperwesen hängen jetzt nicht nur von der Instabilität Libyens ab oder von dem Funktionieren der Polizei oder des Militärs in Libyen, die Garde, die hat sehr gut funktioniert unter Gaddafi. Und trotzdem haben die Schlepper funktioniert, manchmal mit und manchmal ohne die Mithilfe der Polizei. Der wirkliche Grund dieser ganzen tragischen Situation der Flüchtlinge im Mittelmeer wird damit nicht angegangen.
Brink: Christopher Hein, Gründer und Direktor des italienischen Flüchtlingsrates in Rom. Vielen Dank, Herr Hein, für Ihre Zeit!
Hein: Okay, ja!
Brink: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema