Flüchtlingsdebatte in Polen

Das Fremde und die Angst vor der Selbstaufgabe

Jarosław Kaczyński, Vorsitzender der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit, beim Gebet in einer Kirche; Aufnahme vom Oktober 2010
Jarosław Kaczyński, Vorsitzender der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit, beim Gebet im Jahr 2010. Heute behauptet er, dass Flüchtlinge Parasiten ins Land einschleppen. © Marcin Lobaczewski / AFP
Von Martin Sander · 18.11.2015
Die polnische Gesellschaft ist eine katholische Gesellschaft. Und im Land gibt genug Populisten, die darauf beharren, dass Andersgläubige in Polen besser nicht leben sollen. Entsprechend aufgeheizt ist die Stimmung angesichts der aktuellen Flüchtlingskrise.
Wrocław ist Europäische Kulturhauptstadt 2016. Die Hauptstadt Niederschlesiens war unter dem Namen Breslau bis 1945 eine deutsche und ist seit der Westverschiebung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg eine polnische Stadt. Viele Flüchtlinge aus den von Stalin annektierten polnischen Ostgebieten kamen damals in die Stadt an der Oder, nahmen den Platz der zuvor vertriebenen oder geflüchteten Deutschen ein. Die Erfahrung dieses Bevölkerungsaustauschs mag die gegenwärtige Debatte über die Aufnahme von Flüchtlingen beeinflusst haben. Jedenfalls diskutiert man in Wrocław mit mehr Engagement als in anderen Städten Polens.
Krzysztof Mieszkowski: "Breslau hat eine multikulturelle Tradition. Das ist die Kraft, die in dieser Stadt steckt. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es hier eine polnische, eine jüdische Minderheit und die Deutschen. Nach dem Krieg wandelte sich Breslau in eine Stadt, in der nur Flüchtlinge lebten. Es ist höchste Zeit, dass wir uns anderen Kulturen öffnen."
Das sagt Krzysztof Mieszkowski, der Direktor des Polnischen Theaters, das in Breslau die Rolle des früheren deutschen Schauspielhauses übernommen hat.
Auch auf der Bühne von Mieszkowskis Theater geht es derzeit um Flüchtlinge. Anfang Oktober hatte eine Neuinszenierung des antiken Stoffs der Medea Premiere, übertragen auf unsere Zeit und auf das Schicksal von Migrantinnen.
Wrocław ist mit seiner multikulturellen Tradition die Ausnahme in Polen
Doch das, was das Theater in Wrocław macht, ist eher eine Ausnahme. In Polen ist die Angst vor Flüchtlingen und dem Eindringen fremder Kulturen besonders ausgeprägt.
Krzysztof Ruchniewicz: "Die polnische Gesellschaft ist eine katholische Gesellschaft. Und es gibt genug Populisten, die diese Sache zum Anlass nehmen, um zu zeigen, das sind keine Christen, das sind Muslime, also: Europa wird ganz anders aussehen und so weiter."
Argumentiert der Historiker Krzysztof Ruchniewicz, Leiter des Willy-Brandt-Zentrums der Breslauer Universität. Ruchniewicz kritisiert:
"Man beruft sich nicht auf die polnische Geschichte, auf die polnische Tradition. Polen war ein Auswanderungsland. Viele Polen haben in der Vergangenheit das polnische Territorium verlassen. Also entweder zur Zeit der Teilungen Polens oder auch im 20. Jahrhundert – immer wieder. Und sie haben eine Erfahrung gemacht – wie man in der Fremde auch leben kann."
In der aufgeheizten Stimmung der letzten Monate zählen solche Argumente allerdings kaum. In Polen wurde vor allem der Wahlkampf von der Nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit und ihren Verbündeten genutzt, um Stimmung gegen Fremde und Flüchtlinge zu machen, statt latente Vorbehalte zu dämpfen. Die Ablehnung von Flüchtlingen wurde zur nationalen Selbstbehauptung verklärt.
Jarosław Kaczyński: Flüchtlinge schleppen Cholera und Parasiten ein
Jarosław Kaczyński, Vorsitzender der Partei Recht und Gerechtigkeit, behauptete kurz und bündig: Flüchtlinge würden Cholera und Parasiten einschleppen. Auch durch solche Sprüche ist er der neue starke Mann im Land. Widerspruch kommt kaum aus dem etablierten bürgerlichen und postkommunistischen Lager. Im Gegenteil: Leszek Miller, früherer Premier und einer der Anführer des Linksbündnisses SLD, hat nach den Pariser Anschlägen Angela Merkels Flüchtlingspolitik für gescheitert erklärt und sie selbst als Schädling bezeichnet.
Wenn Ausländer, wie kürzlich ein Syrer in Poznan, zusammengeschlagen werden, sind es meist Einzelpersönlichkeiten, Bürgerinitiativen und NGOs - wie die Gruppe Nomada, die sich in Wrocław für die Rechte der Roma einsetzt, etwa wenn Roma gewaltsam aus dem Stadtzentrum vertrieben werden.
Olimpia Ṥwist: "Die Leute waren gerade alle nicht in ihrer Behausung. Da kamen sechs Polizeiautos und ein Bulldozer vorbei und zerstörten alles – einschließlich der Ausweise, was ich besonders tragisch finde. Man verlangt ja immer einen Ausweis von den rumänischen Roma, und es ist für sie sehr schwer, welche zu bekommen, besonders für die, die schon hier geboren wurden."
Der Umgang mit den Roma ist ein Symptom, die von etablierten Politikern geduldete Gewalt gegen arabische Flüchtlinge ein weiteres. Entscheidend ist, dass die bürgerliche Mitte Polens und viele Intellektuelle Gewalt zwar verurteilen, zugleich aber überzeugt sind, dass Polen ein moralisches Recht auf Abwehr des Fremden besäße. Im Westen könne man das nicht verstehen, sagte der Danziger Schriftsteller Stefan Chwin, weil die Nationen dort nie der Gefahr einer Auslöschung ausgesetzt gewesen seien. Polen aber schon. Es klingt so, als ob aus der Geschichte ein Recht auf Xenophobie erwachsen würde.
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