Flüchtlinge in Berlin

Endlich sind sie da

Doppelstockbetten stehen in einer Turnhalle
Flüchtlingsunterkunft in einer Turnhalle © dpa/picture-alliance/Uni Siegen
Von Sieglinde Geisel · 21.12.2015
Weltgeschichte vor der eigenen Haustür: In ihrem Berliner Bio-Spießerkiez herrscht geradezu Euphorie über die Ankunft von Flüchtlingen, berichtet die Journalistin Sieglinde Geisel. Warum ist anderswo so schwierig, was dort so einfach scheint?
Seit Monaten diskutieren wir darüber, und seit einer Woche ist es so weit: Die Turnhalle in der Winsstraße ist beschlagnahmt. Wo letzte Woche noch unsere Kinder geturnt haben, sind nun in Doppelstockbetten zweihundert Menschen aus Syrien, Afghanistan, Iran und Irak untergebracht.
Es ist, als hätten wir nur auf sie gewartet: Jeder möchte dabei sein, es ist nicht leicht, im rasch eingerichteten Doodle einen Platz für die Hilfe bei der Essensausgabe oder in der Kleiderkammer zu ergattern. Über unsere Euphorie staunen wir selbst.
Flüchtlinge tun uns gut – warum?
Doch Euphorie worüber? Euphorie darüber, dass sie endlich angekommen sind in unserer Mitte und nicht nur in den Nachrichten. Euphorie darüber, dass wir unserer Hilflosigkeit entkommen, weil wir nun endlich helfen können.
Und ein kleiner narzisstischer Bonus: Es geht um Teilhabe an der Weltgeschichte, vor unserer Haustür. Wir tun etwas Wichtiges, und damit sind wir auch selbst wichtig. Mit anderen Worten: Die Flüchtlinge tun uns gut.
Ein Märchen? Dass sie bei uns angekommen sind, sieht jeder, der über "die Marie" geht, die grüne Freifläche hinter der Turnhalle, Garten und Dorfplatz des Winskiezes. Nun sitzen Frauen mit Kopftuch in der Dezembersonne, dunkelhäutige Kinder probieren die gespendeten Rollerblades aus, junge Männer sprechen erregt in ihre Handys, ältere Männer stehen zusammen und blicken scheu um sich.
Niemand sagt: "Das ist nicht mehr unsere Marie!" Im Gegenteil: Die Flüchtlinge sind die Stars. Weil sie sich willkommen fühlen, entspannen sie sich, aus ihren Gesichtern spricht Dankbarkeit und Erleichterung. Wir begrüßen uns lächelnd, und ich fühle mich geschmeichelt, wenn mich einer wiedererkennt, mit dem ich gestern bei der Essensausgabe mit Händen und Füßen ein paar Worte gewechselt habe. Wir sind uns nicht mehr fremd.
Gleiche Bedürfnisse
Das erste deutsche Wort, das alle können, heißt Nutella, so habe ich beim Frühstücksdienst gelernt, und ich habe dabei unwillkürlich an die Worte aus dem "Kaufmann von Venedig" gedacht. "Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?", lässt Shakespeare den Juden Shylock sagen. "Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?" Die Flüchtlinge, egal woher sie kommen, essen offenbar genauso gern Nutella wie wir. Wäre das für die Ängstlichen in unserem Land ein Argument, sich in den Fremden wiederzuerkennen?
Hier hört das Märchen wohl auf. Warum ist anderswo so schwierig, was im Winskiez so einfach scheint? Nur, weil es uns hier gut geht? Die Gründe liegen tiefer: Es geht um die seelische Kraft der Euphorie, hier wie dort. Denn gemeinsame Empörung euphorisiert genauso wie gemeinsame Begeisterung. Auch unter dem Schlagwort "Nein zum Heim" wird für eine gemeinsame Sache gekämpft, nur besteht diese in der Ablehnung und nicht in der Einladung – und leider schweißt der Kampf gegen etwas eine Gemeinschaft noch besser zusammen als der Kampf für etwas.
Spaß jenseits der Moral
Die Erfahrung im Winskiez – und an vielen anderen Orten, wo die Hilfsbereitschaft der Anwohner alle überrascht – macht etwas klar: Ob wir es schaffen, ist nicht eine Frage der Ressourcen oder der Energie, sondern eine Frage dessen, wofür wir diese einsetzen.
Die wichtigste Botschaft aus meinem Bio-Spießerkiez jedoch, mit all seinen Gutmenschen, hat nichts mit Moral zu tun. Es macht einfach Spaß – das ist für uns die größte Überraschung. Und das gilt nicht nur für Kieze, sondern auch für Staaten: In einer Gesellschaft, die sich mit ihren Fremden verbündet, lebt es sich lustiger als hinter den Barrikaden der Herzen.
Sieglinde Geisel, 1965 im schweizerischen Rüti/ZH geboren, studierte in Zürich Germanistik und Theologie. 1988 zog sie als Journalistin nach Berlin, von 1994-98 war sie Kulturkorrespondentin der NZZ in New York, seit 1999 ist sie es in Berlin. Sie arbeitet für verschiedene Medien als Literaturkritikerin, Essayistin und Reporterin. An der FU hat sie einen Lehrauftrag für Literaturkritik. Buchpublikationen: "Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert" (2008) und "Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille" (2010).
Sieglinde Geisel, freie Journalistin
Sieglinde Geisel, freie Journalistin© privat
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