Flüchtlinge

Hilfe für traumatisierte Mütter

Traumatologe hilft Terroropfern aus dem Nordirak
Psychologen: "Mütter beschreiben, dass sie eine Art Nötigung durch das Kind erfahren." © picture alliance / dpa / Stefanie Järkel
Von Lydia Heller · 09.03.2017
Wer Krieg, Verfolgung und Flucht erlebt hat, wird die Bilder nicht so schnell los. Psychologen wollen verhindern, dass geflüchtete Mütter aus Syrien, Afghanistan und den Maghreb-Staaten die Traumatisierungen an ihre Kinder weitergeben. Gestörte Bindungen können zu Aggression und Radikalisierung führen. Einblicke in das Projekt "Hand in Hand" am Klinikum Berlin-Neukölln.
"Hallo, hallo – schön dass Ihr da seid."
Ein sonniger Freitag, zehn Uhr morgens. Acht junge Frauen sitzen im Kreis auf einem Teppich.
"Die Aram ist da, die Daniela ist da, der David ist da…"
Einige haben Neugeborene im Arm, in ihrer Mitte spielen Kleinkinder, ein Mädchen malt in einer Ecke und neben den Müttern, an einem nett gedeckten Frühstückstisch, sitzt ein Junge in einem Hochstuhl und zerpflückt ein Brötchen. Die Frauen halten ein Tuch in ihren Händen, schwingen es – und singen ein Begrüßungslied. Typische Krabbelgruppen-Atmosphäre – aber: hier geht es um mehr. ‘Hand in Hand’ richtet sich speziell an Frauen, die aus ihren Herkunftsländern flüchten mussten – viele hier kommen aus Syrien, Afghanistan und den Maghreb-Staaten.
Hildegard Rossi: "Wichtig ist uns dabei, einen Rahmen zu geben, in dem sie mit ihren Ängsten und Nöten, die sie vielleicht durch Fluchterfahrung haben, die Möglichkeit haben, sich darüber auszutauschen und sie ein bisschen bewältigen helfen." Familiensoziologin Hildegard Rossi vom Verein Kindergesundheitshaus organisiert das Projekt seit Anfang 2016 in Berlin.
Hildegard Rossi: "Die Idee dabei, dass wir uns bemühen selbst zu beobachten – die Gruppenleiterinnen sind darin geschult und werden auch supervidiert: Wie gehen die Frauen mit den Neugeborenen um? Welches Verhältnis schaffen sie zu den Kindern aufzubauen?"

Traumaverdacht: Wie ist die Beziehung zwischen Mutter und Kind ?

Anders als Wirtschaftsmigranten sind Flüchtlinge häufig traumatisiert – gerade, wenn sie vor Krieg und Gewalt geflohen sind. Und Traumata – das weiß man unter anderem aus der Holocaust-Forschung – können die frühe Mutter-Kind-Bindung beeinflussen. Hildegard Rossi: "Die Erfahrung ist, dass traumatisierte Frauen mit unbewältigten, schwierigen Erlebnissen oft nicht in der Lage sind, adäquat auf das Verhalten ihrer Kinder zu reagieren."
"Haarewaschen, Haarewaschen muss ein jedes Kind…"
Gruppenleiterin Sophie Groth-Meyer hat ein neues Lied angestimmt. Während sie singt, streicht sie dem Krabbelkind vor ihr sanft über den Kopf – passend zum Liedtext – und motiviert die Frauen und ihre Kinder, ebenfalls mitzuspielen.Die Sing- und Berührungsrituale können erste Hinweise darauf liefern, ob die Beziehung zwischen den Müttern und ihren Kindern gestört ist, die Frauen möglicherweise traumatisiert sind.
Sophie Groth-Meyer: "..weil wir sie dann wirklich beobachten und auch wahrnehmen können. Und bei einigen Müttern ist es so – die dann ganz still sind, die ganz bei sich sind. Man merkt es, wenn ein Baby da liegt und die Gruppe lacht und freut sich, weil das Baby so entzückend da liegt und etwas greift und die Mutter reagiert nicht. Es berührt sie gar nicht." Korinna Fritzemeyer: "Eine gesunde Mutter mit einem sicheren Bildungssystem, da wird neurobiologisch das Belohnungssystem aktiviert: wenn das Kind schreit, dann gehe ich hin. Traumatisierte Mütter – da wird auch neurobiologisch das Vermeidungssystem angeworfen."
Psychologin Korinna Fritzemeyer vom Sigmund-Freud-Institut, das das ‚Hand in Hand‘-Konzept mitentwickelt hat.
Korinna Fritzemeyer: "Mütter beschreiben, dass sie eine Art Nötigung durch das Kind erfahren. Das Kind ist ja zunächst hilflos, es schreit einfach. Und diese Hilflosigkeit ist eine ähnliche Hilflosigkeit wie in einer traumatischen Situation. Das reaktiviert auf unbewusster Ebene die Erfahrung: Ich war alleine in dieser Situation, so dass die Mutter sich nicht wieder dem Kind zuwenden kann. .. Die Mutter muss das Kind erst einmal ganz alleine lassen. Oder die Mutter wird wahnsinnig wütend auf das Kind. Es kommt vielleicht sogar zu Gewalt, insofern ist ‘Hand in Hand’ auch absolut ein Präventionsprojekt für Kindesmisshandlung."

"Hand in Hand" hilft Frauen aus 32 Ländern

Sechs Gruppen gibt es im Rahmen von ‚Hand in Hand‘, in denen sich sechs bis acht Frauen aus 32 Ländern regelmäßig treffen. Gibt es Hinweise auf Traumatisierungen – zweimal war das bisher der Fall – versuchen die Betreuerinnen, die Frauen an Spezialisten zu vermitteln. Die ‘Hand in Hand’-Gruppen sollen dagegen vor allem die Empathie-Fähigkeit der jungen Mütter stärken und so verhindern, dass sie die Traumata an ihre Kinder weitergeben. Denn: werden deren Gefühle von den frühesten Bezugspersonen nicht adäquat aufgenommen und widergespiegelt – und das immer wieder – können sich Bindungsstörungen entwickeln.
Korinna Fritzemeyer: "Das kann wirklich eine wahnsinnige Vielfalt an Auswirkungen haben. Wenn ein Kind keine sichere Bindung entwickelt, dann ist die Sprachentwicklung gestört, die motorische Entwicklung gestört – man weiß, dass eine unsichere Bindung dazu führen kann, dass die Schulnoten schlechter sind und sich das durch das ganze Leben hindurch führt."
Auch eine spätere Neigung zu Delinquenz, Aggression und sogar Radikalisierung können mit frühen Traumatisierungen und gestörten Bindungen zusammenhängen.
Korinna Fritzemeyer: "Die einen Kinder werden unruhig, andere Kinder werden aggressiv und wenden die Enttäuschung und die Trauer und ihre eigenen Gefühle von Verlassenheit gegen die anderen und können sich dann auch verschiedenen Gruppen, die ihnen vielleicht auch Anerkennung bieten – dass sie sich identifizieren und dass sie dem dann auch folgen."
Stabilität, Verbindlichkeit und Verlässlichkeit sind daher ganz wesentliche Säulen von ‘Hand in Hand’. Geflüchteten jungen Eltern einfach einen Kaffee-Treff zum Erfahrungsaustausch anzubieten habe gar nichts gebracht, sagt Korinna Fritzemeyer – das zeige die Begleitforschung zu einem Vorgängerprojekt. Das Stress-Niveau der Kinder sank nicht, viele Mütter kamen nur unregelmäßig. Die Hand-in-Hand-Gruppen dagegen sind geschlossen, Migrantinnen, die schon länger in Deutschland sind, unterstützen die Neuankömmlinge und fehlt eine Frau bei einem Termin, rufen die Gruppenleiterinnen sie an.
Korinna Fritzemeyer: "Und dann gibt es feste Rituale in der Gruppe. Es gibt ein Lied und dieses ritualisierte Lied hat auch die Funktion des ‚Immer wieder willkommen heißen‘. Du hast hier einen Platz. Vielleicht hast du den in deiner Heimat verloren aufgrund von Krieg und Verfolgung. Du kannst nicht zurückkehren, aber hier hast du jetzt einen Platz. Du wirst vermisst."
Sophie Groth-Meyer: "Für viele ist das ein bisschen Familie hier. Schön, dass Ihr da seid, halli-hallo – wir freuen uns ja so."
Mehr zum Thema