Flüchtlinge

Eine Dusche, saubere Kleidung und Mitgefühl

Die Migrantin Karla Lara und ihre Tochter Dalisei warten am 25.06.2014 im Hilfszentrum der katholischen Sacred Heart-Kirche von McAllen (Texas) auf ihre Abreise nach Chicago.
Im Hilfszentrum der katholischen Sacred Heart-Kirche im texanischen McAllen erhalten die Flüchtlinge eine Erstversorgung. © picture alliance / dpa / Johannes Schmitt-Tegge
Von Samuel Jackisch · 19.08.2014
Über 60.000 Frauen und Kinder aus Mittelamerika sind seit letztem Jahr im US-Grenzgebiet aufgegriffen worden, die meisten im Süden von Texas. Kirchen und Privatinitiativen kümmern sich um die Neuankömmlinge, andere melden sie der Polizei.
Wenn eine neue Gruppe ankommt, drehen sich alle zur Tür und applaudieren. Diesmal sind es zehn junge Frauen, jede mit einem Kind an der Hand oder auf dem Arm. Sie sehen verunsichert aus und erschöpft, manche tragen nicht einmal Schuhe.
Seit zwei Monaten ist der Gemeindesaal der Sacred Heart Church in McAllen, Texas so etwas wie ein Auffanglager: Auf großen Tischen stapeln sich bunte Kinder-T-Shirts, Babysocken und Hygieneartikel, es riecht ein bisschen nach Kleiderschrank. Zwischen den Kleiderbergen steht Brenda Riojas, sie ist die Sprecherin der katholischen Diözese im Rio Grande Valley. In ihren Händen balanciert sie zwei Handys und ein prall gefülltes Clipboard mit Dokumenten.
"Wir versorgen sie hier mit dem Nötigsten: Eine Mahlzeit, eine Dusche, saubere Kleidung, Mitgefühl, ein Lächeln. Das sind zwar nur Grundlagen, aber es macht einen großen Unterschied. Nur Minuten später, nach einer Dusche sehen sie plötzlich wieder erfrischt und lebendig aus. Es ist erstaunlich, was das ausmacht."
Jeden Tag kommen bis zu 200 Mütter und Kinder hierher. Die Mitarbeiter der Kirche sammeln sie direkt von den Straßen und Bushaltestellen in McAllen auf.
"Das Essen das wir anbieten ist eine einfache Suppe. Anfangs haben wir den Fehler gemacht ihnen große Portionen Geflügel und schweres Essen zu kochen. Aber davon wurde ihnen schlecht, weil sie so lange nichts gegessen hatten. Deshalb bieten wir ihnen jetzt etwas Leichteres für den Magen."
Mehr als 60.000 Frauen und Kinder aus Mittelamerika sind seit vergangenem Jahr im US-Amerikanischen Grenzgebiet aufgegriffen worden, die meisten davon hier, im Süden von Texas. Sie stammen aus Honduras, Guatemala oder El Salvador, drei der gefährlichsten Länder der Welt.
"In El Salvador ist es grässlich. So viel Kriminalität, so viel Tod. Es ist schrecklich. Aber man versucht eben, das Beste aus seinem Leben zu machen."
Wochenlange strapaziöse Reise
Beatriz ist 22, ihre Tochter Ivania ist fünf, auf eine seltsame Art sehen beide deutlich älter aus. Wochenlang sind sie in Bussen, Güterzügen und Lkws Richtung Norden gereist erzählt sie, bis sie schließlich an einer unbeobachteten Stelle den Rio Grande überquert haben, den Grenzfluss zwischen Mexiko und den USA.
"Mir haben sie vorher alle möglichen Dinge erzählt: Dass sie mir das Kind wegnehmen könnten. Dass sie mich vergewaltigen oder uns beide töten könnten. Aber Gott sei Dank ist all das nicht passiert."
Beatriz und Ivania wollen heute noch weiter nach North Carolina, wo eine entfernte Tante wohnt. Die hat auch das Geld für die Schlepperbande bezahlt – die "Coyotes“, genau jene Kartelle, die ihre Heimat zur Hölle machen.
"Die 'Coyotes' haben uns 7000 Dollar abgenommen. Die Überfahrt über den Fluss hätte da schon dabei sein sollen, aber als wir schließlich dort angekommen sind, haben sie uns gesagt, dass das extra kostet. Ich musste dann nochmal 1800 Dollar zahlen, für mich und meine Tochter. Nur dafür, dass wir über den Fluss durften."
Norma Pimentel, die Geschäftsführerin der Sacred Heart Church, hört solche Geschichten täglich. An einem langen Tisch bietet die rundliche Frau mit dem gütigen Blick und dem altersweisen Lächeln den Flüchtlingen ihre Beratung an. Zeigt ihnen auf einer Karte wo sie sich befinden, sucht Busverbindungen heraus, lässt sie telefonieren.
"Ganz am Anfang, da war diese kleine, junge Mutter. Sehr zierlich, mit einem kleinen Kind auf dem Arm. Die Frau selbst war hochschwanger – und ich frage sie 'Warum tust du dir das alles hier an, in diesem Zustand?' Da zeigt sie mir ihre Hand, die völlig zerschnitten ist und sagt: 'Siehst du das hier? Das war eine Gang. Sie sind in unser Haus eingebrochen und haben uns mit einer Machete angegriffen und ich habe mich gewehrt. Wenn ich jetzt nicht hier wäre, wäre meine Tochter heute tot.' Für mich steht diese Geschichte für so viele Mütter, die ihre Heimat verlassen und dabei ihr Leben riskieren, nur in der Hoffnung, dass ihre Kinder hier bei uns im Norden sicher sind."
Haben sie die strapaziöse Reise hinter sich, lassen sich die Flüchtlinge freiwillig festnehmen und registrieren, dann werden sie am nächsten Busbahnhof abgesetzt. Bis über ihre Aufenthaltserlaubnis entschieden wird, müssen die Frauen ein paar Monate warten und sich dann wieder bei den Behörden melden, was kaum eine von ihnen tun wird – zu groß ist die Angst vor der Abschiebung. Wer keine Verwandten in den USA hat, der taucht gleich ab in die Illegalität, versucht auf eigene Faust nach Norden zu kommen. Um dabei jeden Kontakt mit der Polizei zu vermeiden, schlagen sich die meisten quer durch die Steppe, zum Beispiel über die Ranch von Linda Vickers.
"Wir nennen sie 'kriminelle Eindringlinge'. Das ist für mich Alltag: Ich sitze auf meiner Veranda, hebe den Kopf und plötzlich rennen da sechs Leute an mir vorbei. Sie wissen schon – Illegale! Auf dem Weg nach Norden."
Perfide Menschenjagd oder Selbstverteidigung?
Linda Vickers hat deshalb die Texas Border Volunteers gegründet, eine Art Nachbarschaftswache unter modernen Cowboys. Jeden Tag fährt die kleine blonde Frau mit ihrem großen offenen Jeep und ihren vier Schäferhunden auf Patrouille über ihre Ranch, die Pistole immer am Gürtel. Kilometerweit nichts als Steppe, hier und da ein paar Büsche oder eine Baumgruppe, die Hitze ist um die Mittagszeit unerträglich. Alle paar hundert Meter schlagen die Hunde an, finden eine kalte Spur oder eine leere Wasserflasche im Gebüsch, Menschen sind weit und breit nicht zu sehen.
"Ich bin immer bewaffnet, habe immer mein Handy dabei und ich gehe auf meiner Ranch nirgendwo hin ohne das BEST-Team: Blitz, Elsa, Schatten und Tinkerbell. Die sind darauf trainiert, Illegale aufzuspüren und wissen genau wer hier nicht hergehört. Allein dieses Jahr haben die Hunde und ich 207 Illegale der Grenzpolizei gemeldet. Das ist eine ganz ordentliche Zahl."
US-Grenzpolizisten patrouillieren auf einem Feld. Über ihnen sucht ein Hubschrauber nach Menschen, die den Fluss Rio Grande passieren wollen, um in die USA zu gelangen.
US-Grenzpolizisten auf der Suche nach illegalen Einwanderern nahe McAllen in Texas.© picture alliance / dpa / Larry W. Smith
In der Ferne fliegt ein Hubschrauber der Grenzpolizei vorbei. Was auf Außenstehende wie eine perfide Menschenjagd wirkt ist für Linda nicht mehr als Selbstverteidigung. Statistisch lässt sich die viel zitierte Gefahr durch kriminelle Einwanderer in Texas zwar nicht nachweisen; Linda fühlt sich trotzdem bedroht, sagt sie. Ihr gerade noch freundlicher Blick wird plötzlich finster.
"Es sind nicht nur Mexikaner, nicht nur Menschen die hier arbeiten wollen. Ich hatte ein MS-Thirteen Gangmitglied im Baum vor meinem Haus sitzen. Tango Blast, Pistoleros, das sind keine freundlichen Leute. Aber ich wohne hier, und ich sollte mich sicher fühlen können. Und die Grenze sollte sicher sein."
Dass statt Gangmitgliedern in letzter Zeit auch immer mehr Mütter und Kinder aus Mittelamerika über ihre Ranch ziehen, das ist auch Linda nicht entgangen. Einen Unterschied macht es für sie allerdings nicht.
"Krank und ausgedurstet stand einmal ein kleines Mädchen vor meiner Tür, mit ihrer Mutter. Ich habe ihnen was zu trinken gegeben und trotzdem sofort die Grenzpolizei gerufen. Egal ab gute oder schlechte Menschen: So lang es nach mir geht, gehen sie alle zurück."
Zurück an der Grenze, wo 90 Prozent der Einwohner aus Mittel- und Lateinamerika stammen, wird es deutlich: Die Idee eines reichen, weißen Amerikas, das sich gegen Eindringlinge verteidigen müsste, gibt es hier unten nicht – es hat sie noch nie gegeben, sagt Lazaro Fernandez Jr. Im legeren Anzug gekleidet gönnt er sich eine eiskalte Cola an einer Imbissbude. Vor Jahrzehnten ist Lazaros Vater aus Kuba geflohen und hat in McAllen ein Textil-Geschäft eröffnet. Sein Sohn, der auch als Rasierwasser-Model arbeiten könnte, exportiert heute Stoffe aus Mexiko in die gesamten USA. Die meisten seiner Angestellten wohnen auf der anderen Seite des Flusses; überqueren die Grenze jeden Morgen und jeden Abend, ganz legal. Hier unten, sagt Lazaro, ist man nicht Mexikaner oder Texaner, man ist "Tejano".
Jahrzehntelanger Streit um Einwanderungsreform
"Wir haben eine gemeinsame Grenze, von Brownsville bis San Diego. Unsere Wirtschaft ist seit Jahren miteinander verheiratet. Du kannst die Grenze nicht einfach dicht machen, wir sind eine vereinte Gesellschaft. Die Einwanderer sind keine schlechten Menschen, sondern harte Arbeiter. Diese ehrlichen Arbeiter müssen wir aus dem Untergrund herausholen, damit sie Steuern zahlen können. Damit wir wissen wer sie sind, wo sie wohnen, was sie tun – das ist wichtig."
Die heute gültigen Immigrationsgesetze der USA stammen aus dem Jahr 1951, zuletzt angepasst wurde sie vor 25 Jahren. Seitdem wird in Washington über eine Einwanderungsreform gestritten, die bürokratische Prozesse beschleunigen soll und trotzdem unterscheidet, zwischen Flüchtlingen und Arbeitern, Neuankömmlingen und solchen, die schon seit Jahrzehnten Steuern zahlen. Weil diese Gesetze fehlen, so sieht es Lazaro, ist entlang der 2000 Meilen langen Grenze ein blühendes Geschäft für Kriminelle entstanden.
"Ich habe keine Angst vor den Guten, sondern vor den Bösen die rüber kommen – und auch davon gibt es eine Menge. Diejenigen nämlich, die nicht nur Menschen sondern auch Drogen ins Land schmuggeln, und häufig auch selbst hier bleiben, die machen mir Sorgen. Wir brauchen ein System, bei dem wir den Überblick behalten, wer rein und wer raus kommt. Es macht mir wirklich Angst, nicht zu wissen, wer sich in meinem Land aufhält."
Als ein regelrechtes Konjunkturprogramm für Schmuggler hat sich ein Gesetz aus dem Jahr 2008 erwiesen, nachdem Kinder und Jugendliche aus sogenannten "gefährlichen Regionen“ nicht direkt wieder abgeschoben werden dürfen. Ursprünglich gedacht um Opfern von Menschenhandel und Zwangsprostitution zu helfen, wirkt es heute als Magnet für zehntausende Kinder, die der Gewalt und Perspektivlosigkeit Mittelamerikas entfliehen wollen.
"Am Tag nachdem man so etwas bemerkt, hätten sie das Gesetz ausbessern müssen. Das bräuchte eine Seite, eine Zeile! Wir sind nicht blöd hier unten in McAllen, es ist nicht so schwierig wie alle behaupten. Jedes Problem kann gelöst werden, aber es braucht Willen und Disziplin. Das hat unser Land nicht."
Egal, wen man im Rio Grande Valley fragt: Mit der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik in Washington ist hier kaum jemand zufrieden, zuallerletzt Ruben Villareal: Er ist Bürgermeister von Rio Grande City, trägt Lederstiefel und Cowboyhut, auf seiner Gürtelschnalle prangt das Gemeindewappen. Auch in seiner Stadt werden täglich Flüchtlinge aufgegriffen, auf die versprochenen Bundesmittel für deren Versorgung wartet er noch heute.
"Wir kriegen hier einen Eimer Wasser und einen Laib Brot hingestellt und sollen damit Hunger und Durst von Zehntausenden stillen. Laut der Verfassung unseres großartigen Landes hat die Regierung in Washington nur einige wenige Aufgaben. Dazu gehört, unsere Grenzen zu sichern und die Immigration zu regeln. Bei beidem stellen sie sich gerade ziemlich armselig an."
Politischer Stillstand beim Thema Einwanderung
Am Highway von McAllen nach Rio Grande City zeigt Ruben eine riesige beige Lagerhalle ohne Fenster. Sie wird gerade eilig umgebaut, von einer Regierungsbehörde, Zutritt ist strengstens verboten. In wenigen Wochen sollen hier Kinder untergebracht werden, die gänzlich ohne Begleitung an der Grenze aufgegriffen werden – bevor sie an Verwandte vermittelt oder, in den meisten Fällen, direkt wieder abgeschoben werden. Das eigentliche Problem des politischen Stillstands beim Thema Einwanderung löse man damit aber nicht, sagt Ruben. Nach seinem Eindruck haben "die in DC“, wie es ausdrückt, "schon längst aufgehört, ihren Job zu machen“.
In der Sacred Heart Church hat man sich damit abgefunden, den Mangel an politischen Lösungen durch privaten Einsatz auszugleichen. Brenda Riojas, die Frau mit dem Clipboard, winkt bei der Frage nach der politischen Dimension ihrer Arbeit ab. Mit dieser Diskussion will sie nichts zu tun haben.
"Sie wandern aus denselben Gründen aus, aus denen wir alle einmal ausgewandert sind: um einen sicheren Ort zu finden, an dem wir unsere Kinder groß ziehen können. Ich glaube, weil wir uns so sehr auf die politische Dimension des Ganzen konzentrieren, vergessen wir die Menschlichkeit. Das hier sind echte Menschen, die Hilfe brauchen. Und das ist es doch, was wir tun müssen: uns gegenseitig helfen."
Anfangs haben Freiwillige wie Mayra hier in 16-Stunden-Schichten gearbeitet und Mütter mit Kindern sogar über Nacht mit nach Hause genommen. Mayra ist um die 30, die Geschichten der Flüchtlinge um Mord, Angst und Vergewaltigung, nehmen sie sichtbar mit.
"Ich glaube, die Leute, die hier so gegen die Einwanderer schimpfen, die haben keine Ahnung von deren Leben. Wenn sie einmal hören würden was ich höre, dann würden sie nicht mehr so denken."
Auf die Frage, mit welchem Gefühl Mayra nach einem Arbeitstag hier nach Hause geht, fällt ihr nur ein Wort ein.
"Traurigkeit! … Ich möchte nicht weinen, aber man kann ihnen nicht helfen. Ich mach mir Sorgen um sie. Sie glauben, nur weil sie jetzt hier sind, ist endlich alles gut. Weil sie in einem freien Land sind, in einem sicheren Land. Aber sie wissen doch nicht, was sie hier erwartet. Niemand weiß, wie es mit ihnen weitergeht."
Während sie sich noch die Träne aus dem Gesicht wischt geht hinter Mayra die Tür auf. Sie dreht sich um, schluckt einmal, lächelt und applaudiert.

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