Flüchtlinge als Chance

Die Stunde der Zivilgesellschaft

Drei junge Frauen stehen mit einem Begrüßungsplakat mit der Aufschrift "Refugees Welcome" für Flüchtlinge an den Gleisen.
Willkommenskultur am Hauptbahnhof Frankfurt am Main © dpa / Frank Rumpenhorst
Von Florian Goldberg · 17.09.2015
Man muss den Flüchtlingen eine langfristige Perspektive in Deutschland bieten, findet Florian Goldberg. Denn die Vergangenheit habe gezeigt, dass Menschen, die in ständiger Unsicherheit leben, nie richtig ankommen. Das werde zwar nicht leicht, aber: "Es gibt immer etwas zu lösen".
Seien wir mal ehrlich: Die meisten von uns nach 1945 geborenen Deutschen sind in einer Welt aufgewachsen, in der es nie so richtig um etwas ging. Klar, wir hatten alle unsere Steckenpferde: Vergangenheitsbewältigung, Anti-Atomkraft, Anti-Kommunismus, Öko-Bewegung, Friedensbewegung, New Age...
Wir sind die diversen Karriereleitern rauf und runter geklettert. Wir haben diskutiert, konkurriert, demonstriert, meditiert. Aber alles in allem haben wir uns den Bauch vollgehauen und unsere jeweiligen Neurosen gepflegt.
Keiner von uns, zumindest wenn er aus dem Westen des Landes kommt, hat jemals am eigenen Leib die Nöte von Krieg und Vertreibung erfahren oder woanders als in einer Diätklinik Hunger gelitten. Die wirklichen existentiellen Probleme waren zu unserem großen Glück immer schön weit weg.
Das ändert sich gerade. Dank der Globalisierung kommen nicht nur indische Mangos in unsere Kühlschränke und kongolesisches Silizium in unsere Handys, sondern auch immer mehr Menschen auf die Idee, ihre in Syrien, dem Irak oder sonst wo zerbrochene Hoffnung gegen zumindest die Möglichkeit eines besseren Lebens einzutauschen.
Endlich können wir uns mal bewähren
Aus dem Fernsehen oder dem Internet wissen sie, wie es bei uns ist: Friedlich, frei und gut organisiert. Es gibt zu essen für alle und Dächer über dem Kopf. Man kann sich ein Leben aufbauen. Genau das wollen sie auch, für sich und ihre Kinder.
Und plötzlich geht es auch für uns um etwas. Wir dürfen uns bewähren! Wir können beweisen - uns selbst, nicht der Welt - dass wir in unserem Wohlstand nicht verblödet sind, sondern die lange friedliche Zeit gut genutzt haben. Dass wir gewillt sind und fähig, unsere zivilisatorischen Errungenschaften mit anderen nicht nur zu teilen, sondern gemeinsam mit ihnen weiterzuentwickeln.
Die Ansätze dazu sind vielversprechend. Das Gesicht Deutschlands sind nicht die paar Verwirrten mit ihren Parolen, Knüppeln und Brandsätzen, auch nicht der bayrische Innenminister mit seinem "wunderbaren Neger", sondern tausende Menschen, die zu spontanen Hilfsaktionen aufbrechen. Darunter mein Hausarzt, der an seinen freien Tagen unentgeltlich Flüchtlinge behandelt. Oder die 80-jährigen Eltern einer Freundin, die eine irakische Familie in ihrem Gartenhäuschen untergebracht haben. Oder mein Friseur, der den Laden früher schließt, um mit seinem zehnjährigen Sohn ehrenamtlich in einem Flüchtlingsheim zu arbeiten.
Sprachkurse, Staatsbürgerkunde, solche Dinge
Aber natürlich weiß auch mein Friseur, dass das nicht ausreicht. Als Berliner ist er in der Nachbarschaft von Menschen aufgewachsen, die ständig von der Abschiebung bedroht waren. Menschen, die nicht arbeiten durften, manchmal mehr als zehn Jahre lang. Und die daher in der neuen Heimat, die sich ihnen verweigerte, nie richtig angekommen sind. Er kennt die Verzweiflung und die Angst, die aus dauernder Unsicherheit erwachsen. Und er weiß von der Wut, die sich daraus ergeben hat.
"Es dürfen jetzt nicht dieselben Fehler gemacht werden", sagte er. "Die Leute müssen eine Perspektive bekommen. Sie wollen ja was, sie können was, und sie haben eine enorme Kraft. Also müssen wir ihnen helfen, sich bei uns zu orientieren. Sprachkurse, Staatsbürgerkunde, solche Dinge. Dann müssen sie arbeiten dürfen und für sich selbst sorgen. Wenn wir ihnen das ermöglichen, nützt es am Ende uns allen. Wenn nicht, wird es schwierig!"
Das ist wahrscheinlich untertrieben. Es kommen Hunderttausende. Ich möchte mir nicht ausmalen, was geschieht, wenn sie an unzähligen bürokratischen Hürden verzweifeln. Viel lieber denke ich über die Chancen nach, die für uns alle darin liegen, wenn wir diesen Menschen echte, langfristige Perspektiven als Mitbürger bieten. Wenn in der Normalität alltäglicher Arbeit ein Austausch auf Augenhöhe beginnt.
Leicht wird das nicht, schon klar. Es kann problematisch werden mit den neuen Mitbürgern. Übrigens kann es auch ohne sie problematisch werden. Übrigens: das Leben ist problematisch. Es gibt immer etwas zu lösen. Die Frage ist eigentlich nur, mit welchem Geist wir die Probleme, die sich stellen, angehen.
Florian Goldberg, hat in Tübingen und Köln Philosophie, Germanistik und Anglistik studiert und lebt als freier Autor, Coach und philosophischer Berater in Berlin. Er hat Essays, Hörspiele und mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt "Wem gehört dein Leben?"



Der Autor, Coach und philosophische Berater Florian Goldberg
Der Autor, Coach und philosophische Berater Florian Goldberg© privat
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