Flüchtlinge

Abstrakte Menschenrechte nützen wenig

Eine Aufnahme zeigt 105 Flüchtlinge, die in einem Schlauchboot vor der italienische Insel Lampedusa darauf warten, gerettet zu werden.
"Die Unbeliebtheit der Flüchtlinge hat viel mit dem zweideutigen legalen Status zu tun, unter dem sie leiden", schreibt Hannah Arendt. © dpa / picture-alliance / Darrin Zammit Lupi
Von Arno Orzessek · 21.06.2015
Im Mittelmeer ertrinken tausende Flüchtlinge − auch weil die EU ihre Menschenrechte weitgehend ignoriert. Dahinter steckt ein Muster, das schon die Philosophin Hannah Arendt hellsichtig analysiert hat, kommentiert Arno Orzessek.
Man mag es sinnvoll, effektheischerisch oder makaber finden, dass sich das "Zentrum für politische Schönheit" buchstäblich mit fremden Leichen schmückt. Fest steht, dass die Aktionen des ZPS die komfortable innere Distanz zwischen uns und der Todeszone Mittelmeer schmerzhaft verringern und den Verdacht verstärken, dass die EU hinsichtlich der sterbenden Flüchtlinge die Menschenrechte weitgehend ignoriert.
Was nolens volens den englischen Philosophen und Politiker Edmund Burke bestätigt. Burke hatte 1790 die von der Französischen Revolution proklamierten universellen Menschenrechte als eine abstrakt-geschichtslose Konstruktion gegeißelt, die zum Scheitern verurteilt sei. Die Rechte eines Engländers oder Bürgers anderer Nationalität, die konnte sich Burke vorstellen - aber keineswegs die Rechte des Menschen an sich. Für Burke ließen sich Menschenrechte nur als konkrete Bürgerrechte verwirklichen.
Der edle Anschein, bedingungslos zu gelten, ist ein leeres Versprechen
Bootsflüchtlinge aber, die aus einsichtigen Gründen keine Ausweispapiere bei sich tragen und ohnehin oft aus zerstörten Gemeinwesen kommen, sind de facto staatenlos. Ein finsterer Zustand, den die Philosophin Hannah Arendt, die 1933 aus Deutschland floh, jahrelang am eigenen Leib erlebt hat.
"Die Unbeliebtheit der Flüchtlinge hat wenig mit ihrem Verhalten und viel mit dem zweideutigen legalen Status zu tun, unter dem sie [...] leiden", bemerkte Arendt im Blick auf jüdische Flüchtlinge in Amerika. Und polemisierte später unter Berufung auf Burke gegen den von der UN nobilitierten Begriff "Menschenrechte". Der edle Anschein, bedingungslos zu gelten, sei ein leeres Versprechen.
Die Welt, so Arendt auch im Rückblick auf den Holocaust, "hat an der abstrakten Nacktheit des Menschseins an sich nichts Ehrfurchterregendes finden können".
Das "Zentrum für politische Schönheit" macht sich verdient, insofern es diese tödliche Ignoranz, die bis heute anzutreffen ist, drastisch sichtbar macht. Andererseits steht auch das ZPS auf der Sonnenseite der Geschichte und unterliegt dem Fundamentalwiderspruch, den Arendt fixiert hat:
"Keine Paradoxie zeitgenössischer Politik [wetterte sie] ist von einer bittereren Ironie erfüllt als die Diskrepanz wohlmeinender Idealisten, welche beharrlich Rechte als unabdingbare Menschenrechte hinstellen, derer sich nur die Bürger der blühendsten und zivilisiertesten Länder erfreuen, und die Situation der Entrechteten selbst."
Die nackte menschliche Existenz aber begründet kein politisch wirksames Recht
Der Verweis auf das in Deutschland grundgesetzlich garantierte Asylrecht löst das Dilemma übrigens nicht auf. Armut und Hunger, düstere Lebensperspektiven, Ungerechtigkeitserfahrungen oder simple Sehnsucht nach Wohlstand und Sicherheit, Motive, die im hiesigen Alltag das Streben nach Veränderung voll und ganz rechtfertigen, gelten nicht als legitime Fluchtgründe, die Aussicht auf Asyl gewähren. Wer abgelehnt wird, fällt in die Rechtlosigkeit zurück.
Die nackte menschliche Existenz aber begründet kein politisch wirksames Recht - das haben für Arendt die Erfahrungen der Staatenlosen während des Nationalsozialismus bewiesen. Ein fundamentales "Recht auf Rechte" müsse sich vielmehr stets auf ein politisch organisierte Gemeinschaft beziehen, nicht allein aufs Menschsein.
Für Arendt ist dieses - einer funktionierenden Gemeinschaft anzugehören - gerade im Blick auf die Staatenlosen, die Flüchtigen, die displaced persons das erste Menschenrecht.
Falls das "Zentrum für politische Schönheit" noch intellektuelle Kapazitäten frei hat, könnte es sei¬ne spektakulären Aktionen mit dieser anspruchsvollen Forderung unterfüttern. Der Forderung nach einer globalen Konvention, die sämtlichen Flüchtlingen, also auch Wirtschaftsflüchtlingen, einen einklagbaren Rechtsstatus garantiert, auf den sie sich an jedem Ort berufen können - auf hoher See genauso wie in der Abschiebe-Unterkunft.
Denn abstrakte Menschenrechte zählen dort fast nichts.
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