Fluchtpunkt Türkei

Der Intendant der Städtischen Oper in Berlin, Carl Ebert, aufgenommen 1954.
Viele damalige Verfolgte fanden Schutz und Arbeit in Ankara, so auch Carl Ebert. © picture-alliance / dpa / Bratke
Von Adolf Stock · 15.03.2014
Als Jude sah der Rechtsprofessor Ernst E. Hirsch in Deutschland für sich keine Zukunft mehr und war froh, in der Türkei gebraucht zu werden. Sein Sohn Enver ist nur einer der vielen Zeitzeugen, die vom türkischen Exil erzählen können. 1933 beschloss die türkische Regierung eine Bildungsreform.
Sie war ein wichtiger Baustein der Verwestlichung des Landes, die Staatsgründer Kemal Atatürk der Türkei nach 1923 verordnet hatte. Ein Glücksfall für verfolgte Künstler und Wissenschaftler aus Deutschland, die in Istanbul und Ankara Schutz und Arbeit fanden: Der Architekt Paul Bonatz, der Politiker Ernst Reuter, Musiker wie Carl Ebert oder Paul Hindemith, Mediziner, Romanisten, Juristen, sie alle haben die moderne Türkei mit aufgebaut. "Dann hat mich der Muezzin geweckt", erinnert sich die Tochter des Bildhauers Rudolf Belling an ihre Kindheit in Istanbul.
Die "Lange Nacht" vom türkischen Exil erzählt die vielen großen und kleinen Geschichten von Menschen, die jenseits der Barbarei in einem faszinierenden, orientalisch geprägten Land für einige Jahre Zuflucht fanden.
Auszug aus dem Manuskript
Fluchtpunkt Türkei: Als die Nationalsozialisten 1933 in Deutschland an die Macht kamen, wurden schon bald politische Gegner und Deutsche jüdischen Glaubens aus ihren öffentlichen Ämtern entfernt.

Es war eine glückliche Fügung, dass eben in jener Zeit die türkische Regierung nach Fachkräften suchte, die helfen konnten, den noch jungen Staat und vor allem das Bildungssystem nach westlichen Vorbild umzugestalten. In den folgenden drei Stunden erzählen Zeitzeugen wie Ernst Reuter oder die Kinder von Ernst E. Hirsch oder Rudolf Belling und Chronisten wie Willy Brandt oder Jutta Limbach berichten über ein Stück deutsch-türkischer Geschichte.

Im Oktober 1923 hatte Kemal Atatürk die Türkei gegründet und ihr ein beispielloses Reformprogramm verordnet. In dieser Umbruchsituation waren die deutschen Künstler und Wissenschaftler hochwillkommen: Ärzte, Juristen, Ökonomen und Architekten fanden in der Türkei Aufnahme und Schutz, und sie fanden einen Arbeitsplatz, der ihren Fähigkeiten entsprach.

1933 verlor der jüdische Mediziner Philipp Schwartz seine Professur in Frankfurt am Main. Er zog zunächst nach Zürich und später in die Türkei. In seinen Erinnerungen von 1940 erzählt Philipp Schwartz von seiner Ankunft in Istanbul.

"Die Sonne war schon untergegangen, als wir am 27. Oktober 1933 in Istanbul ankamen. Eine Traumstadt entfaltete sich vor uns, als wir langsam in den Hafen einfuhren.

Der weiße Marmorpalast Dolma Bahtsche, dunkel umrahmt, erhob sich vom Bosporus durch grelle Scheinwerfer beleuchtet. Tasch Kischla, Ayaz-Pascha, Djihangir, Beyoglu, Tepe Baschi, Galata, die große Brücke, Hügel und Schiffe des Goldenen Horns, die Suleymania, Beyazit, Aya Sofiya, Yeni Djami: Häuser, Paläste, Tempel, Türme, Träger tausender funkelnder Lichter, stiegen steil aus dem Meer empor und vereinigten sich zu einer immensen, phantastischen, graziösen Flammenschrift.

Große Lichtgarben huschten ruhelos über Türme und Häuser vom Boden zum Himmel und zu den Ufern. Plötzlich heulten die Schiffssirenen, jubelnde Schreie, hastig, mit schriller, sich überschlagender Stimme und ohne Ende. Dann sprangen überall gleichzeitig prasselnd platzende Raketen, glühende Geysire, sprühende Springbrunnen und farbenprächtige Märchenpflanzen aus der Erde: Kometen und Planeten durchkreuzten den Himmel. Ein mächtiges Grollen und Donnern von Schiffskanonen und Uferbatterien führte zum Höhepunkt der chaotischen Konvulsion und ermöglichte dann die Rückkehr zu stilleren, doch noch immer überwältigenden Pracht der festlichen Stadt.

Wir landeten am Vorabend des zehnten Jahrerstages der Republik, während der Überfahrt des Präsidenten von HAYDAR PASCHA zum Palast.

Wir fanden im Hotel die Einladung zu einem Staatsempfang vor, der am Abend des 28. Oktober stattfinden sollte. Kleiderordnung Frack. Ich hatte keinen."

Reiner Möckelmann war bis 2006 Generalkonsul in Istanbul. Dort traf er viele Menschen, die noch von damals erzählen konnten, als die Türkei für deutsche Künstler und Wissenschaftler zur Zuflucht wurde.

"In den Jahren ab 1933 sind eine große Zahl deutscher Wissenschaftler, Künstler und Politiker in die Türkei emigriert, gerufen von dem Staatsgründer Kemal Atatürk mit dem Ziel, die türkischen Universitäten, die bis dato noch nach islamischen Recht aufgebaut waren - im Wesentlichen mit Rechtsfakultät, theologischer Fakultät und medizinischer Fakultät - umzuwandeln in solche, die westlichen Standards genügen. Und da traf sich der Umstand, dass in April 1933 nach dem sogenannten Berufsbeamtengesetz alle Professoren und Beamten generell mit jüdischem Glauben, aber auch solche, die nicht der damaligen Ideologie sich angeschlossen haben, entlassen werden konnten und überwiegend auch entlassen worden sind.

In Zürich in der Schweiz hat einer der entlassenen jüdischen Professoren, der Pathologe Philipp Schwartz, eine Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland gegründet, kurz nachdem er entlassen war. Und in großer Schnelligkeit kam eine Liste zustande von mehreren hundert entlassenen deutschen Wissenschaftlern, die neue Beschäftigung suchten. Die Details will ich jetzt nicht weiter anführen, aber die Bedeutung dessen, dass von Astronomen bis zu Zoologen Deutsche - in Deutschland entlassen, zur Elite der Professorenschaft gehörend - dort Fakultäten aufgebaut haben, Studenten ausgebildet haben, türkische Nachfolger ausgebildet haben, wissenschaftlich geforscht und publiziert haben. Es sind einzelne von Ihnen nicht aus der Türkei zurückgekommen, sind dort geblieben, dort gestorben, teilweise mit Ehrengräbern - diese deutschen Professoren und Wissenschaftler haben das Hochschul- und Ausbildungssystem revolutioniert und haben Generationen einer Wissenschaftselite herausgebildet und haben diese auf westlichen Standard gebracht."

Literatur:
Heinz Anstock: Erinnerungen. Aufzeichnungen für unsere Kinder
Mit einem Nachwort von Horst Müller.
Herausgeber Ino Jacobs
Minden (Privatdruck) 2007
Zu beziehen über: ino.jacobs@arcor.de

Paul Bonatz: Leben und Bauen
Stuttgart, Engelhornverlag Adolf Spemann, 1950

Burcu Dogramaci: Kulturtransfer und nationale Identität
Deutschsprachige Architekten, Stadtplaner und Bildhauer in der Türkei nach 1927

Berlin, Gebr. Mann Verlag, 2008

Erichsen, Regine: Das türkische Exil als Geschichte von Frauen und ihr Beitrag zum Wissenschaftstransfer in die Türkei von 1933 bis 1945
In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte (0170-6233)
28 (2005) 4, Seite 337-353

Regine Erichsen: Die Türkei und ihre Emigranten
www.regineerichsen.com
Corry Guttstadt: Die Türkei, die Juden und der Holocaust, Assoziation A, Berlin 2008
Ernst E. Hirsch: Als Rechtgelehrter im Land Atatürks
Berlin, Deutscher Wissenschaftsverlag, 2008
Kritik DeutschlandRadio Kultur

Barbara Humpeler: Clemens Holzmeister und die Türkei
Salzburg, Pustet Verlag, 2008

Bernd Nicolai: Moderne und Exil. Deutschsprachige Architekten in der Türkei 1925 - 1955
Berlin, Verlag für Bauwesen, 1998

Christopher Kubaseck/ Günter Seufert (Hg.): Deutsche Wissenschaftler im türkischen Exil
Würzburg, Ergon Verlag, 2008

Leyla Kudret-Erkönen: Familie Reuter in Ankara
In: Erinnerungen an Ernst Reuter.
Herausgeber: Presse- und Info-Amt Land Berlin
Reihe: Berliner Forum 6/78
Berlin, Eigenverlag, 1978
Fritz Neumark: Zuflucht am Bosporus. Deutsche Gelehrte, Politiker und Künstler in der Emigration 1933-1953, Verlag Josef Knecht, Frankfurt 1980

Rudolf Nissen: Helle Blätter - dunkle Blätter
Erinnerungen eines Chirurgen

Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt, 1969

Reiner Möckelmann: Wartesaal Ankara. Ernst Reuter - Exil und Rückkehr nach Berlin
Berliner Wissenschafts-Verlag, 2013
Mehmet Mihri Özdogan: Nation und Symbol
Der Prozess der Nationalisierung am Beispiel Türkei
Frankfurt am Main, Campus Verlag, 2008
Orhan Pamuk: Istanbul
Erinnerungen an eine Stadt

München, Carl Hanser Verlag, 2006

Arnold Reisman: Turkey's Modernization
Refugees from Nazism and Atatürk's Vision

Washington DC, New Academia Publishing

Edzard Reuter: Schein und Wirklichkeit. Erinnerungen
Berlin, Siedler Verlag, 1998

Georg Rigele (Hg.): Clemens Holzmeister (Ausstellungskatalog)
Innsbruck, Haymon Verlag, 2000

Dankwart A. Rüstow: Die Türkei
Brücke zwischen Orient und Okzident

Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1990

Zafer Şenocak: Gefährliche Verwandtschaft
München, Babel Verlag, 1998

Philipp Schwartz, Helge Peukert (Hg.): Notgemeinschaft
Zur Emigration deutscher Wissenschaftler nach 1933 in die Türkei
Marburg, Metropolis-Verlag, 1995

Farun Sen, Dirk Halm (Hg.): Exil unter Halbmond und Stern
Herbert Scurlas Bericht über die Tätigkeit Deutscher Hochschullehrer in der Türkei während der Zeit des Nationalsozialismus

Essen, Klartext Verlag, 2007

Verein Aktives Museum (Hg.): Haymatloz
Exil in der Türkei 1933 – 1945 (Ausstellungskatalog)

Berlin, Schriftenreihe des Vereins Aktives Museum, Band 8, 2000

Haymatloz CD-ROM
10,00 Euro. Zu beziehen über das Aktive Museum
www.aktives-museum.de

Links:
Die Pianistin Idil Biret
Auszug aus dem Manuskript
Jutta Limbach war Präsidentin des Verfassungsgerichts in Karlsruhe, danach leitete sie bis 2008 das Goethe-Institut. In den 50er-Jahren wurde sie Assistentin bei Ernst E. Hirsch.

"Er war mir ja schon aus der Studentenzeit als ein gestrenger aber gerechter Hochschullehrer bekannt, der damals auch besondere Bedürfnisse der studentischen Jugend nach integeren Persönlichkeiten erfüllte. Er war ja emigriert, und das hat ihn nicht nur davor bewahrt, irgendwie in nationalsozialistisches Unrecht verstrickt zu werden, sondern er hat durch diese Emigration in die Türkei und die Tatsache, dass er dort alsbald den Unterricht im Handelsrecht und in der Rechtsphilosophie aufgenommen hat, in besonderer Weise wirklich gelernt, über den Tellerrand der juristischen, häufig sehr selbstgenügsamen Dogmatik hinauszuschauen.

Er hat immer präsent gehabt, dass es einen Unterschied gibt zwischen den Gesetz in den Büchern und der Rechtswirklichkeit. Denn das muss man bedenken: Hirsch ist ja damals in eine Türkei gegangen, die sich in einem Modernisierungsprozess befunden hat, und die ja doch dieser Bevölkerung in diesem Lande fremd war und sich nicht immer ohne weiteres mit der Kultur des Landes klug harmonisieren ließen. Und dieses Wissen hat er an uns weitergegeben.

Das war auch das Argument, mit dem Reuter ja Hirsch zurückgeholt hat, dass er sagte: 'Wir sind hier dabei, eine just gegründete Freie Universität neu aufzubauen. Eine Universität, die eben gerade ihren Wert in diesem Freiheitsanspruch sieht.' Und da war es ihm wichtig, Personen hierherzuholen, die diesen Anspruch auch glaubwürdig verkörpern, und das war bei Hirsch im besonderen Maße der Fall. Er hatte nicht nur, ja, Diskriminierung erfahren, wir selbst, wir Schülerinnen und Schüler haben auch immer davon profitiert. Vorurteile duldete er nicht, und Sie können sich vorstellen, ich war häufig in meinem Leben die erste Frau: die erste Frau, die hier promoviert hat, die erste Frau, die sich hier habilitiert hat und dann Professorin geworden ist. Das ging nur mit einem Mann wie Ernst Eduard Hirsch, der Geschlechtsunterschiede in der Geisteswelten nicht akzeptierte."

Ein Glücksfall für Jutta Limbach, die in Berlin auf einen Rechtsgelehrten traf, der seine Erfahrungen für den Aufbau einer neuen demokratischen Universität nutzen konnte. Doch war dieses Wissen nicht überall gefragt. Die Historikerin Christiane Hoss hat einen guten Überblick, wie die Situation der Rückkehrer war.

"Viele hatten eben auch, nach all den Erfahrungen - man hat ihre Verwandten ermordet und so - nun wirklich von Deutschland für dass Leben genug und versuchten verzweifelt überall anders [hinzukommen], bloß nicht nach Deutschland. Das ist auch der Mehrheit gelungen, kann man nicht anders sagen - manchmal schon während des Krieges oder kurz danach oder eben auch später. Viele haben auch sehr lange ausgeharrt. Andere, wie zum Beispiel Ernst Reuter, die unbedingt wieder hier eine politische Rolle spielen wollten und möglichst sofort, haben also verzweifelt dagesessen und kamen nicht weg, weil ja erst einmal ein Einreiseverbot war von den Alliierten, keiner überhaupt rein durfte.

Reuter ist relativ früh weggekommen, aber andere haben ganz, ganz lange noch warten müssen, und viele warteten hier vergeblich auf den Rückruf, das hat gedauert. Von Berlin, haben unter dem Einfluss von Ernst Reuter relativ viele Leute zurückgerufen, ihnen einen Posten verschafft und so. Das war aber… der Motor war eindeutig Ernst Reuter, kein anderer Mensch war daran interessiert, und er selber ist ja hier auch alles andere als herzlich empfangen worden und musste sich schwer durchbeißen.

Die Institutionen, die großen Institutionen von Berlin, ob das nun die Universität war, die Hochschule der Künste, die Theater oder so, die Opern, die einen Riesenverlust gehabt hatten an Emigranten, die waren überhaupt nicht gut mit Zurückrufen, und es gibt also schlimme Episoden, das ist ja bekannt, dass also die Vorbehalte gegenüber den Leuten, die da in der Emigration gewesen waren, sehr groß waren, und die, die da nun ausgerechnet auch noch am Rande der Welt saßen, in Istanbul oder Ankara, hatten es da noch viel schwerer.

Gleichzeitig wurde ihre Situation unangenehm, ihre Assistenten wollten jetzt endlich Professor werden. Man sagte eben ihnen dauernd, ja es ist schön, was ihr hier gemacht habt, und wir sind auch sehr dankbar dafür, aber wir möchten das bitte jetzt selber übernehmen. Wir können es jetzt, danke schön! Das war schwierig. [Sie] haben eben abwarten müssen, ob sie noch einmal eine Chance kriegen, mit dem Ausbau des Hochschulwesens, was dann ja irgendwann auch wieder anfing, haben die letzten dann noch einmal einen Job gekriegt, aber sehr viele haben es nicht mehr - zum Beispiel eben - zu einem vollen Ordinariat oder so etwas gebracht - und haben also so als außerordentliche oder irgendwie noch ein bisschen was bekommen, sind nicht wieder in ihre alten Stellen zurückgekommen, dann aber, weil sie selbst sahen, in der Türkei wird der Nationalismus, der Druck auf uns immer stärker, dann eben hier auch zweit- und drittrangige Posten angenommen in Deutschland, aber trotz allem ist das eine Minderheit. Die große Mehrheit ist nach Amerika gegangen. Das muss man einfach feststellen."

Sind die deutschen Künstler und Wissenschaftler, die vor dem Naziterror in die Türkei geflüchtet waren, nur noch ein historisches Randnotiz?

Türkische Mitarbeiter von Ernst E. Hirsch, die zunächst seine Assistenten waren, wurden später selbst Professoren. Sie schickten später ihre besten Schüler zum Promovieren nach Berlin. Jutta Limbach ist ihrem einstigen Lehrer dankbar. Sie fördert bis heute die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei.

"Dass man in überstaatlichen Notsituationen menschenrechtliche Hilfe leisten kann, dass kann man nicht genug betonen. Wenn ich im Bundesverfassungsgericht türkische Gäste hatte, habe ich das immer betont. Und das andere, was man gerade an Hirsch so lernen kann, ist, dass man, wenn man die Kultur eines anderen Landes kennen will oder überhaupt die Menschen verstehen will, man bei der Sprache beginnen muss. Hirsch hat ja binnen zweier Jahre so gut Türkisch gelernt, dass er den Unterricht schon ein Jahr früher als er vertraglich versprochen hatte, in Türkisch abhalten konnte. Er hat aber auch weiterhin hier Türkisch gesprochen. Und zu unseren Assistenten und Studenten zu meiner Assistentenzeit gehörten Türken in jedem Lebensalter. Professoren, Assistenten, Studenten waren hier, und es kommt ja nicht von ungefähr, dass mein ersten Doktorand auch ein Türke gewesen ist. Und das ist ja das Bemerkenswerte an der Türkei, dass sie sich Kodifikationen ins Land geholt hat, die eigentlich anders entwickelten Völkern entstammten, von anderen Kulturen geprägt wurden. Und nun zu erforschen, rechtssoziologisch zu erforschen: Was hat diese Türkei etwa aus diesem Handelsrecht? Was hat diese Türkei aus diesem Familienrecht gemacht? Was kann man denn daraus lernen? Warum ist die eine oder andere Rezeption missglückt? Was muss man bedenken, um es später besser zu machen? Und da sind solche Erfahrungen, wie sie die Türkei mit deutschen Emigranten gemacht hat und mit den eigenen Juristen, eminent wichtig."

Gerhard Ruben:

"Ich muss gestehen, dass ich die Türkei zum Teil erst sehr viel später verstanden habe, denn wir kamen ja hin vom Dorf. Das heißt, unsere Vorstellungen waren völlig anders, und das Türkische, die Situation dort, die haben wir als negativ empfunden. Es war uns oft unverständlich und wir fühlten uns einfach sehr fremd. Was aber historisch dahintersteckt,
habe ich erst verstanden, als ich eben gebildeter war und mehr wusste und mehr gelernt habe.

Diese Zwiespältigkeit der Türkei: Atatürk, der mit Gewalt eine Modernisierung durchführte, die zum Teil leicht sozialistische Züge hatte, an sich der nationalen Erhaltung nur diente; die er nun mit aller Brutalität durchführte und auf teilweise primitive Weise. Er hat einfach die Gesetzesbücher der Schweiz, Deutschlands und so weiter genommen und in der Türkei erklärt, so die gelten jetzt bei uns. Ich habe früher nie so verstanden, als ich dort lebte, nie so verstanden, was das eigentlich für die Türken bedeutete, die damit leben mussten, mit einem Gesetzesapparat, mit Bestimmungen, mit einem neuen System, mit einem neuen Apparat, der ihnen völlig fremd war, der überhaupt nicht zu ihnen passte.

Das war ja noch eine alte orientalische Gesellschaft. Das wichtigste war die Familie, die Sippe, auf die konnte man sich verlassen. Auf den Staat konnte man sich nie verlassen. Das heißt, die Einstellung zum Staate war eine ganz andere, als wir sie gewohnt waren, und damit auch das Verhältnis zur Gesellschaft überhaupt, wie sehe ich mich in der Gesellschaft? Und das ist für die Bevölkerung eine ganz schwierige Entwicklung gewesen. Ich glaube, dass sie noch heute daran zu tun haben, das zu verinnerlichen. Und das erstaunliche ist, die Türkei, dass das Volk das geschafft hat. Atatürk hatte ein solches Renommee unter seinen Leuten, dass sie das erst einmal akzeptiert haben und bis heute fortsetzen. Das bedeutet aber, dass sie die Demokratie, wie er sie übernommen hat, die europäische, den europäischen Stil, das die gar nicht so bleiben konnte. Sie musste ja irgendwie angepasst werden ihren Bedürfnissen. Das musste ja kompatibel werden. Und das führt manchmal dazu, dass wir den Eindruck haben, die Türken, na die sind ja primitiv oder das sind ja gar keine Demokraten oder so was. Wir vergessen, dass das ein schwieriger Entwicklungsprozess ist, und also bewundernswert, wie manche es schaffen, damit fertig zu werden, daraus was zu machen."

Gerhard Ruben, Sohn des Indologen Walter Ruben, hat seine Jugend in Ankara verbracht. Er bewundert den Mut den die türkische Bevölkerung bei der Umgestaltung ihres Landes aufgebracht hat. Das moderne Gesicht der Türkei wurde von deutschen Künstlern und Wissenschaftlern mitgeprägt. Chronist Mesut Ilgim erzählt, wer mit offen Augen durch Istanbul oder Ankara geht, wird auf Schritt und Tritt an die deutschen Künstler und Professoren erinnert, die beim Aufbau des Landes mitgeholfen haben. Mesut Ilgim:

"Wenn Sie in Istanbul rumlaufen, sagen wir am Eingang der Istanbuler Universität ist ein Marmorpodest mit einem Messingschild, ein Dankbarschreiben von Weizsäcker an das türkische Volk, die diese Emigranten aufgenommen haben. Und wenn Sie ein bisschen runterfahren, da kommen Sie an eine Ecke, da steht auf einem Riesenschild 'Botanischer Park von Alfred Heilbronn' oder in der Ankara-Universität ein Schild in einem Labor 'Ernst Hirsch unterrichtete hier' oder in Çapa der Erich-Frank-Hörsaal und solche Sachen. Mein Mission ist - und darin bleibe ich hart -, dass man dieses Kapitel weitererzählt, weitererarbeitet, weiterüberträgt. Denn das, was diese Menschen geleistet haben, ist ein Gottesgeschenk für ein Land, das die Ära der Aufklärung nicht erlebt hat, verpasst hat unter osmanischer Regierung, und das war nicht möglich. Das heißt, wenn man dieses Universitätswesen betrachtet, was Atatürk vorfand, das waren zwei militärische Hochschulen, eine Darülfünun Universität, in westlicher Form, eine Kunstakademie und 400 Medressas, das heißt Hochschulen für Religionswesen. Und dieses zu ändern, das war nur unter Atatürk möglich."

Fluchtpunkt Türkei.
Die Lange Nacht über Aysl für Deutsche in der NS-Zeit.

Eine Sendung von Adolf Stock
und
Rudolf Belling
Paul Bonatz
Willi Brandt
Martin Greve
Enver Hirsch
Ernst E. Hirsch
Christiane Hoss
Mesut Ilgim
Leyla Kudret Erkönen
Jutta Limbach
Reiner Möckelmann
Winfried Nerdinger
Orhan Pamuk
Ernst Reuter
Edzard Reuter
Gerhard Ruben
Philipp Schwartz
Wolfgang Voigt
Elisabeth Weber-Belling