Fluchtpunkt Tschechien

Von Stefan Heinlein (ARD Prag) · 08.10.2012
Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Auseinanderbrechen des Warschauer Paktes verhalten sich viele Tschechen bis heute gegenüber den Russen, den Besatzern von 1968, abwartend bis feindselig. Nichtsdestotrotz ist Prag für viele Russen zur neuen Heimat geworden.
Samstagabend im Restaurant Dnister. Nastassja feiert ihren 30. Geburtstag. Es gibt
Wodka aus großen Wassergläsern - dazu salzige Heringe, eingelegte Gurken und Pelmeni - Teigtaschen mit Hackfleischfüllung. Alles wie daheim in Moskau. Doch Nastassja wohnt seit drei Jahren in Prag:

"Ich lebe so gerne in Tschechien. Alles ist sehr einfach - selbst die Sprache ist fast wie Russisch. Super auch, dass so viele russische Emigranten hier wohnen."

Der Vater von Nastassja ist wohlhabender Geschäftsmann. Einen großen Teil seines Vermögens hat er in Tschechien investiert - vor allem in Häuser und Wohnungen. Eine sichere Investition in Zeiten der Krise und ein gutes Geschäft für Maklerin Natalja Makowik. Ihr nobles Büro im Prager Stadtzentrum hat sich auf die neue russische Kundschaft spezialisiert.

"Das Interesse der Russen an Tschechien ist in den letzten Jahren enorm gestiegen. Viele sind unzufrieden mit der politischen Situation in Moskau und sie haben kein Vertrauen in die Banken dort. Deshalb kaufen sie lieber Immobilien hier in Prag - oft für viele Millionen Euro. Das Geld ist dann sicher verpackt."

Noch vor Jahren galt allein die westböhmische Kurstadt Karlsbad als noble Ferienadresse russischer Oligarchen. Doch mittlerweile entschließen sich immer mehr Russen dauerhaft in Tschechien zu leben. Ihre Zahl hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verfünffacht. Prag ist heute Fluchtpunkt für über 20.000 russische Emigranten.

Tanja zeigt das Angebot ihres kleinen Lebensmitteladens im Prager Stadtteil Hurka. In der Tiefkühltruhe Fisch, Krabben und Fleisch - direkt importiert aus Russland. Im Regal lagern Bonbons, Schokolade und andere Süßigkeiten. Vor 13 Jahren kam die Ingenieurin mit ihrer Tochter als Touristin aus St. Petersburg. Heute ist die Plattenbausiedlung Hurka ihre neue Heimat:

"Wir Russen kommen nach Prag nicht, nur um für kurze Zeit ein bisschen Geld zu verdienen. Wir wollen für immer hier leben. Wer die Wahl hat Moskau oder Prag - entscheidet sich natürlich für Prag. Hier kann man ohne Angst auch nachts unterwegs sein - das ist ein wichtiger Grund warum wir Russen hier leben wollen."

Wenige Meter von Tanjas Laden entfernt ist das russische Cafe. Ein beliebter Treffpunkt der Exilgemeinde. Am Nachmittag kommen die jungen Mütter mit Kinderwagen. In Prag, so erzählt Jelena, ist es leichter als in Berlin oder London an das begehrte Schengen-Visum zu kommen.

"Ich kam hierher, um zu arbeiten - dann habe ich gemerkt, man kann hier viel angenehmer leben als zu hause. Noch warte ich auf meine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung, aber das wird sicher klappen. Hier in Prag geht es uns zu hundert Prozent besser als zuhause."

Moskauer Bezirk heißt die Plattenbausiedlung Hurka im Volksmund. In vielen Geschäften und Restaurants steht die kyrillische Schrift wie selbstverständlich neben der tschechischen Landessprache. Doch 20 Jahre nach dem Abzug der Roten Armee freuen sich längst nicht alle Prager über die Rückkehr der Russen.

"Die Russen verhalten sich auch heute noch wie Besatzer, meint dieser Student. Sie kaufen unsere Häuser und unser Land. Das gefällt mir nicht - sie sind bei uns nicht willkommen."

Tatsächlich ist die Erinnerung an die russischen Panzer die 1968 den Prager Frühling brutal beendeten noch immer im Gedächtnis der meisten Tschechen. Der deutsche Korrespondent Christian am Ende schilderte am 21. August 1968 den Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen.

Auch über 40 Jahre nach den dramatischen Ereignissen landen die Russen in Umfragen stets abgeschlagen auf den hintersten Plätzen der Beliebtheitsskala. Die Spätfolgen der russischen Invasion für das Verhältnis beider Völker hatte schon 1968 der Journalist Christian am Ende vorhergesagt.

Die Verkäuferin Elischka war 1968 noch ein Kind als die russischen Panzer auf dem Wenzelsplatz rollten. Sie erinnert sich auch heute noch nur ungern auf die Vergangenheit:

"Ich habe die Jahre der Besatzung miterlebt. Damals mussten wir alle die russische Sprache lernen. Wenn die Russen heute zu uns kommen benehmen sie sich immer noch so als ob ihnen unser Land gehört. Das ist sehr unangenehm."

Der Soziologe Jan Cervenka beschäftigt sich seit Jahren mit dem schwierigen Verhältnis beider Nationen. Das Misstrauen gegenüber dem großen Nachbarn sitze tief - der persönliche Kontakt mit den neuen Mitbewohnern in Prag werde nur langsam die historischen Vorurteile verändern.

"Die ältere Generation hat nur schlechte Erfahrungen mit den Russen gemacht. Die Jüngeren haben die Besatzung zwar nicht mehr bewusst erlebt aber sie werden durch ihre Eltern und Großeltern geprägt. Das Verhältnis bleibt also auch heute noch durch das Jahr 1968 belastet."

Eine Tatsache die sich im Alltag der russischen Emigranten in Tschechien zeigt. Obwohl Maklerin Natalja Makowik nach über 10 Jahren in Prag die Landessprache mittlerweile fast akzentfrei beherrscht, sammelt auch sie regelmäßig schlechte Erfahrungen in ihrem neuen Heimatland.

"Viele Tschechen sind sehr fremdenfeindlich - besonders gegenüber uns Russen. Ich höre oft wie sie ganz offen schlecht über uns reden. Sie nennen uns Besatzer und Mafiagangster. Wir reden deshalb nur selten russisch auf der Straße. Wenn mein Handy in der Straßenbahn klingelt - spreche ich immer nur ganz leise oder noch besser - ich spreche tschechisch."

Die Russenfeindlichkeit vieler Tschechen steht im Widerspruch zur politischen Führung des Landes. Präsident Vaclav Klaus ist Stammgast im Kreml. Vladimir Putin und Dimitri Medwedew kommen gerne regelmäßig nach Prag. Anders als mit vielen EU-Politikern ist die Kontaktpflege mit Moskau für Vaclav Klaus von zentraler Bedeutung, meint der Politikwissenschaftler Petr Kratochvil:

"Es ist tatsächlich so. Klaus und Putin sind in den meisten Fragen der internationalen Politik einer Meinung. Der Nationalstaat ist für sie von zentraler Bedeutung - das erklärt auch die Europafeindlichkeit des Präsidenten. Umgekehrt hat Vaclav Klaus ein fast irrationales Verhältnis zu Moskau. Er ist absolut russophil."

Russen und Tschechen. Geschichte und Gegenwart. Opernsänger Alexej sieht die Sache gelassen. Zu seinen Liederabenden im russischen Salon im Prager Szeneviertel Vinohrady kommen regelmäßig auch tschechische Gäste. Die Vergangenheit müsse beiseite gelegt werden. Nach dem Ende des Sozialismus sei für junge Tschechen und Russen das neue Europa doch viel wichtiger:

"Tschechien ist ein wichtiges kulturelles Zentrum. Prag ist die Tür nach Deutschland oder, Österreich - ein Sprungbrett nach Europa. Das bedeutet doch für uns alle - Prag öffnet neue Horizonte."
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