Flucht übers Mittelmeer

"Kultur bedeutet nicht, sich an einem Ort festzusetzen"

Raoul Schrott im Gespräch mit Joachim Scholl · 13.07.2015
Das Mittelmeer ist zugleich Sehnsuchtsraum, Fluchtort - und ein Motiv in der Weltliteratur. Der Schriftsteller Raoul Schrott meint: Europa würde es ohne Völkerwanderung über das Mittelmeer nicht geben. Flüchtlingen aus Afrika müsste man "Tür und Tor öffnen".
Joachim Scholl: Der Tag des Mittelmeers im Deutschlandradio Kultur und hier in der Lesart. Und wir sind jetzt verbunden mit Raoul Schrott. Der Schriftsteller hat vor einigen Jahren Furore gemacht mit einer neuen Übersetzung der "Ilias" von Homer, einer der zentralen Mythen dieser Welt des Mittelmeers. Raoul Schrott ist uns jetzt aus einem Studio im österreichischen Vorarlberg zugeschaltet, wo er lebt. Guten Tag, Herr Schrott!
Raoul Schrott: Hallo, guten Tag!
Scholl: Ist Odysseus, Herr Schrott, der erste Bootsflüchtling?
Schrott: Nein, nicht in diesem Sinne, dass er flüchtet, sondern er kehrt zurück von da, wo er eigentlich hergekommen ist, vor langen, langen Kriegsjahren. Das ist also die umgekehrte Situation zu den Flüchtlingen von heute, die dorthin wollen, in diesen europäischen Krieg, in dem es ums Geld und vor allen Dingen auch um Überleben geht. Aber beide sind sie Kriegsflüchtlinge.
Scholl: Als Übersetzer auch des babylonischen Gilgamesch-Epos, als Homer-Forscher sind Sie zu einem anerkannten Experten für diese antike mediterrane Welt geworden, Herr Schrott. Welche Rolle spielt das Mittelmeer in dieser Epoche für die Menschen der Antike?
Schrott: Das Mittelmeer ist ein Raum, um den vieles kreist. Das kann man zum einen genetisch sehen, dann muss man aber das Mittelmeer ausdehnen auf die Nachbarländer, die Mittelmeeranrainerländer. Genetisch gesehen sind wir Europäer Homo Sapiens, der jetzt erstmals nachweisbar ist aus Äthiopien und der vor 60.000 Jahren vor uns ankommt, vor unserer Zeit ankommt. Dort trifft er auf Neandertaler, die die Reste einer Homo-Erectus-Population sind, die von Georgien ursprünglich eingewandert ist, um sich hier zum Neandertaler zu entwickeln. Die beiden vermischen sich, das ist die Basis unseres Genoms. Und dann kommen vor 9.000 Jahren Farmer aus Nordsyrien und aus Anatolien zu uns hoch, bringen ihre Getreidesäcke mit, bringen Einkorn, Weizen, Gerste, all diese Dinge mit, vermischen sich hier mit uns und bringen die erste indoeuropäische Sprache mit. Und dann, vor 5.000 Jahren in etwa, kommen aus den kasachischen Steppen die Leute, die Pferde ritten und die Wagen hatten und die Milch produzierten zum ersten Mal, Milch tranken, Milch aßen in Form von Käse. Die kommen dann hier hoch, und dann werden die bei euch da oben zu den sogenannten Schnurbandkeramikern und bei uns zu den Glockenbecherleuten.

"Wir sind ein buntes Völkergemisch"

Also, wir sind ein buntes Völkergemisch, und die Idee, dass es etwas autochthon Europäisches gäbe, genetisch gesehen, als moderne Form von Rasse quasi – wir sind die, die hier sind, und die anderen sind die Fremden –, das ist völlig illusorisch. Wir waren immer nur die Endstation, weil die Halbinsel Europas hier eben endet. Kulturell gesehen ist das Ganze noch viel deutlicher. Was wir alles übernommen haben aus dem Nahen Osten, ist also nicht nur das Getreide, sondern sind auch die ersten domestizierten Tiere, die Kühe, die Schafe, die Ziegen, all diese Dinge. Wir haben die Schrift von dort übernommen aus dem Zweistromland. Schon allein dieser Weg zeigt, wie verschlungen und wie es permanent ums Mittelmeer geht. Kultur bedeutet nicht, sich an einem Ort festzusetzen, sondern Kultur bedeutet, etwas zu entwickeln, was weitergegeben wird, um in einem neuen Kontext neu adaptiert zu werden.
Scholl: Aus dieser antiken Epoche, mit der Sie sich so speziell und intensiv beschäftigt haben, Herr Schrott, stammen die großen Erzählungen, die in dieser mittelmeerischen Welt spielen, die "Ilias", die "Odyssee" des Homer, Vergils "Aeneis", die Argonauten-Sage, die "Theogonie" des Hesiod, die Sie auch, Herr Schrott, übersetzt, erläutert haben. Wie ist in diesen Mythen denn dieses Mittelmeerische und das Mediterrane, das Motiv des Meeres, gestaltet?
Schrott: Ja, ich glaube, Sie werden jetzt erschrecken, wenn ich Ihnen sage, dass selbst die griechischsten aller Götter aus dem Nahen Osten übernommen worden sind. Apollo, der als der griechischste Gott gilt, war ursprünglich mal ein anatolischer Gott, der Apalunias hieß, Vater der Löwen. Athene war die Schwester des Baal, den wir vielleicht von Brecht noch kennen. Und all das, was Hesiod in der "Theogonie" erzählt, und das ist der erste europäische Text, den wir haben; die ganzen Mythen, die er dort erzählt, wie die Götter entstehen, wie die Welt entstanden ist, wie die Frauen entstanden sind, aus Lehm gemacht wie in der Bibel, wohlgemerkt, all das kommt aus dem nahöstlichen Raum, von der heutigen türkisch-syrischen Grenze und bildet die Basis unseres europäischen Denkens.
Und dazu kommt noch als zweiter Text "Ilias", und Homer hat bereits Hesiod als Vorlage benützt. Und das wurde nicht nur für die Griechen zum ersten Geschichtsdokument, in dem sie zeigen können, wir haben auch eine Vergangenheit. Denn vorher waren sie Migranten, vorher haben sie in den verschiedensten östlichen Mittelmeerländern gearbeitet, waren Schiffstransporteure, waren meisten aber auch als Raubritter und als Wikinger unterwegs. Und das geht weiter und weiter und weiter, bis man dann die "Ilias" neu entdeckt hat, die dann im 19. Jahrhundert in Deutschland vor allen Dingen instrumentalisiert worden ist, weil man in diesen ganzen zerstrittenen Griechen ein Muster dafür gesehen hat, wie sich die Einigung Deutschlands von diesen kleinen Fürstentümern legitimieren lässt. Also insofern sind wir ohne Griechenland nicht denkbar, aber insofern ist Griechenland auch ohne das gesamte Mittelmeer und vor allen Dingen den Hochkulturen des Umraums nicht denkbar.
Scholl: Was denkt ein Schriftsteller, ein Gelehrter wie Sie mit diesem weiten kulturgeschichtlichen Hintergrund über diese aktuelle Situation, wenn Sie abends Nachrichten gucken und wieder über dieses Flüchtlingsdrama hören?
Schrott: Ich denke darüber zwei Dinge: Zum einen ist es so, wie wenn man in einen Zug steigt ,wo keiner reserviert hat und die Leute, die dann die Plätze besetzen, das sind auch immer die, die rechts und links von sich dann alles freihalten. Da muss man dann erst mal sagen, Entschuldigung, darf ich hier Platz nehmen, was immer unangenehm ist für beide Seiten, aber was diesen Zug dann erst voll macht. Wir sind geografisch am Ende einer Halbinsel, da staut es sich eben. Aber es ist diese Art von Völkerwanderungen, die machen uns aus.

"Die Flüchtlinge kämpfen um ihr Leben"

Zum Zweiten: Ich war vor Kurzem erst in der ägyptischen Wüste, wo die Flüchtlingstrecks, diese ganzen Schlepper-LKW durchfahren und habe dort ein Grab gesehen von einem 17-jährigen Jungen, der in Äthiopien gestartet ist, im Sudan im Flüchtlingslager war und dort elendig verdurstet ist, wie man daran sehen konnte, dass eine leere Plastikflasche da war und ein paar aufgestochene Thunfischkonserven, in denen der Fisch vertrocknet ist, weil er nur diese Salzlake mehr zu trinken hatte. Davor das Gesicht eines Jungen, der eben 17 Jahre alt war. Ich weiß seinen Namen noch, und daneben war eine Telefonnummer aus Mannheim. Dort habe ich angerufen, am Nachmittag, diese Familie, haben gesagt, ja, die warten auf ihren Neffen, der natürlich dann nicht gekommen ist.
Also schon allein den Mut dazu zu haben, als 17-Jähriger über eine Distanz mit völlig ungewissen Mitteln unter Einsatz seines Lebens über eine Distanz, die so weit ist wie von hier bis zum Baikalsee, völlig in Ungewissheit quer durch eine Wüste und dann quer über das Meer – also das sind keine Leute, die nicht wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen und die sich bloß die reichen Dinge holen wollen, sondern die kämpfen um ihr Leben, wie wir das genauso tun würden. Und wenn wir uns schon als christliches Abendland sehen in diesem Pegida-Sinn, ja dann ist das Christlichste, was man tut, ist, den Leuten eben Tür und Tor zu öffnen. Es gehört übrigens auch im Islam zur Pflicht eines Reichen, zehn Prozent seines Reichtums ungebeten an die Armen abzugeben. Das nennt man das Zakât. Das könnte man bei uns auch lehren oder zumindest so christlich sein und den Leuten sagen, ja, ihr habt doch sicher irgendwo Platz. Den wir auch haben.
Scholl: Raoul Schrott, ich danke Ihnen für das Gespräch. Und wir erweitern gleich den kulturgeschichtlichen Raum des Mittelmeers. Wie haben die Literatur, die Schriftsteller des 20. Jahrhunderts die mediterrane Welt gesehen, und wie hat sich der Blick in der literarischen Moderne gewandelt. Das sind unsere nächsten Fragen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Beim Thementag "Das Mittelmeer - Sehnsuchtsort und Flüchtlingsfalle" kooperiert Deutschlandradio Kultur mit der taz. Weitere Beiträge finden Sie auch auf der taz-Themenseite.
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