Flucht übers Mittelmeer

Grüne kritisiert Abschottung der EU

Spitzenkandidatin: Franziska "Ska" Keller führt Europas Grüne in die Europawahl
Spitzenkandidatin: Franziska "Ska" Keller führt Europas Grüne in die Europawahl © picture alliance / dpa / Maurizio Gambarini
Moderation: Gabi Wuttke · 15.04.2014
Flüchtlinge können die "Festung Europa" kaum noch erreichen, bemängelt die grüne Europa-Politikerin Ska Keller. Sie begrüßt aber, dass das Europäische Parlament heute verbindliche Seenot-Rettungsregeln für den Umgang der Grenzschutzorganisation Frontex mit Flüchtlingsschiffen verabschieden soll.
Gabi Wuttke: 7000 Bootsflüchtlinge in den vergangenen fünf Tagen. Sie konnten europäischen Boden erreichen, die italienische Regierung ächzt und fordert nachhaltige Unterstützung von den europäischen Partnern. Die soll sie heute bekommen, mit neuen Überwachungsregeln auf den Meeren rund um Europa. Das EU-Parlament will heute darüber abstimmen, also auch die Grüne Franziska Keller, Mitglied des EU-Innenausschusses und Spitzenkandidaten für den 25. Mai. Schönen guten Morgen, Frau Keller!
Franziska Keller: Guten Morgen!
Wuttke: Sie haben eine Änderung eingebracht, sie betrifft Vereinbarungen mit Drittstaaten. Was genau würden Sie gerne verhindern?
Keller: Bei dem, was wir abstimmen werden in Straßburg im Europäischen Parlament, da geht es um zwei Sachen. Einerseits geht es darum, dass wir endlich verbindliche Seenotrettungsregelungen haben werden für die Einsätze, die von der Grenzschutzagentur Frontex koordiniert werden. Das ist erst mal eine gute Sache. Allerdings steht in derselben Verordnung auch drin, dass Flüchtlinge in Drittstaaten ausgeschifft werden können, also wieder zurückgeschickt werden können. Und das muss eben nicht unter den Garantien stattfinden, die uns der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auferlegt hat. Denn kollektive Ausweisungen, die sind nun mal illegal.Flüchtlingss
Wuttke: Das ist ja ein Brett, an dem schon sehr lange gebohrt wird. Warum hält sich ganz offensichtlich die Mehrheit im EU-Parlament nicht an das, was Recht gesprochen wurde?
Flüchtlinge können sich gegen Ausschiffung nicht wehren
Keller: Das ist eben auch genau unsere Argumentation. Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sagt, hier gibt es ganz klare Kriterien, wann soll eine Ausschiffung stattfinden, dann muss sich der Gesetzgeber, finden wir, auch daran halten. Die Kommission hat eben einen Vorschlag vorgelegt, der einige der Kriterien aufgreift vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, aber eben nicht alle. Und dazu gehört so was Wichtiges wie, dass sich Flüchtlinge dagegen wehren können, dass sie in Drittstaaten ausgeschifft werden können, dass sie in einer ihnen verständlichen Sprache darüber aufgeklärt werden, was passiert. Und diese Kriterien werden eben nicht berücksichtigt.
Wuttke: Es heißt zumindest im ursprünglichen Vorschlag der Kommission, dass, selbst wenn Schiffe nur mutmaßlich in europäisches Hoheitsgebiet einlaufen, sie zurückgeschickt werden können. Steht dieses "mutmaßlich" jetzt immer noch im Text, der heute verabschiedet werden soll? Beziehungsweise: Was impliziert dieses Wort "mutmaßlich", wie stark ist diese Festung Europa, womit versucht sie sich abzuschotten?
Keller: Die Festung ist leider bereits jetzt sehr stark und die Kommission, vor allem die Mittelstaaten versuchen, sie immer weiter abzuschotten. Und im Kommissionsvorschlag stand unter anderem, dass Flüchtlingsboote bereits auf hoher See abgedrängt werden können. Dabei gilt auf der hohen See freie Fahrt für alle, nämlich da kann niemand von seinem Kurs abgebracht werden. Und das haben wir verhindern können als Grüne, das ist schon mal gut. Allerdings können Flüchtlingsboote aus Küstengewässern der Europäischen Union immer weiter noch abgedrängt werden und, wie gesagt, die Ausschiffung in Drittstaaten, da liegt die Krux verborgen, indem wir uns da nicht an das halten, was auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt hat.
Wuttke: Wie viel größer wird demnächst also der Handlungsspielraum von Frontex sein?
Keller: Frontex hat bereits jetzt sehr umfangreich Handlungsspielraum. Es gibt ja nicht nur die Verordnung, die wir diese Woche abstimmen, es gibt auch das Grenzüberwachungssystem Eurosur, wo Satelliten, aber auch Drohnen eingesetzt werden sollen, um vor allem das Mittelmeer noch stärker zu kontrollieren, um noch kleinere Flüchtlingsboote aufzufinden. Und das geht dann einher mit einer stärkeren Zusammenarbeit mit Drittstaaten, sodass diese dann die Flüchtlinge gleich abfangen, bevor sie überhaupt in Kontakt mit europäischen Gewässern kommen. Also, da gibt es ganz viele weitere Maßnahmen, die dazu führen, dass die Festung Europa immer wieder dichtgemacht wird. Wenn man sich auch nur die Zäune anguckt, die überall in Europa entstehen, in Bulgarien, in Griechenland, aber auch an der marokkanisch-spanischen Grenze, dann kann man nicht davon ausgehen, dass irgendjemand noch legal in die Europäische Union hineinkommen kann, um hier Asyl zu beantragen.
Wuttke: Sie waren ja gerade in Ceuta und in Melilla. Vielleicht können Sie uns mal schildern, was – wir haben gerade über Frontex gesprochen –, was heißt das, was heute verabschiedet werden soll, für Eurosur?
"Eine Sprinkleranlage sozusagen mit Pfefferspray"
Keller: In Ceuta und Melilla haben wir eine Abschottung von Zaunanlage, so muss man das nennen, sechs Meter hoch und höher mit Stacheldraht … In Melilla gibt es auch eine Sprinkleranlage sozusagen mit Pfefferspray, die aufgedreht werden kann, wo dann Pfefferspray rauskommt und auf die Flüchtlinge niedergeht, die sich da befinden. Also, ganz furchtbare Grenzanlagen sind das. Und im Zusammenspiel mit Eurosur führt das dazu, dass schon Drittstaaten wie Marokko, aber auch Libyen, also Drittstaaten, die nicht eine besonders gute Menschenrechtsbasis haben, dass wir die dafür verantwortlich machen, dass sie Flüchtlinge zurücknehmen und auch abhalten davon, in die Europäische Union hineinzukommen.
Wuttke: Wir haben jetzt über ein menschlich verständnisvolleres Verhältnis zwischen den Flüchtlingen – in diesem Fall aus Afrika – zur Europäischen Union geredet. Aber was, Frau Keller, entgegnen Sie Menschen, die fragen: Wenn die EU sicherere Reisewege garantieren würde, was sollten Millionen Afrikaner in Europa? Nur jeder dritte Deutsche, hat Forsa jetzt erfahren, möchte mehr Flüchtlinge im Land.
Keller: Wenn wir uns die weltweite Situation anschauen, dann haben wir ja weit über 40 Millionen Flüchtlinge weltweit. Von denen kommen aber nur neun Prozent überhaupt nach Europa. Die allermeisten Flüchtlinge sind in Pakistan, die sind um Syrien herum zum Beispiel. Libanon hat ja eine Million Flüchtlinge aufgenommen, obwohl sie nur eine Bevölkerung von vier Millionen Menschen haben. Und an der Flüchtlingszahl weltweit sieht man also, dass nur ein ganz kleiner Teil nach Europa kommt. Man sieht aber auch, dass sich eben Flüchtlingszahlen sehr danach orientieren, wo gibt es Konflikte. Und dass man aus Syrien fliehen muss, das ist, glaube ich, für alle Menschen nachvollziehbar.
Und jetzt haben wir ein Asylrecht, das ja entwickelt wurde aus der Erfahrung von Flucht und Vertreibung aus dem Zweiten Weltkrieg heraus, also eine sehr europäische Erfahrung, und ich denke, wir haben daraus gelernt, dass man niemanden allein lassen sollte, der auf der Flucht ist. Und diese Erfahrung, glaube ich, ist weiterhin sehr wichtig. Und wenn jetzt Italien zum Beispiel 18.000 Flüchtlinge gerettet hat in den letzten Monaten, dann ist, glaube ich, auch klar, dass Deutschland da mehr Verantwortung übernehmen muss. Und wenn eben Menschen aus Syrien auf der Flucht sind vor Krieg, sie retten damit ihr Leben, dann ist, glaube ich, auch klar, dass wir nicht einfach daneben stehen können und sagen, ihr bleibt mal bitte in Syrien! Weil, das ist definitiv keine Lösung!
Wuttke: Die Meinung im Deutschlandradio Kultur von der Spitzenkandidatin der europäischen Grünen Franziska Keller. Ich danke Ihnen sehr, guten Tag!
Keller: Ich danke Ihnen!
Mehr zum Thema