Flucht aus der DDR

Ein Stück deutsche Geschichte ganz persönlich

Flüchtlinge aus der DDR besprechen am 17. August 1989 im Garten der katholischen Kirche von Zugliget in Budapest (Ungarn) den Fluchtweg über die österreichisch-ungarische "grüne Grenze" in die Bundesrepublik.
DDR Ungarn Grenze © dpa picture-alliance/ Wolfgang Kumm
Von Imke Griebsch · 09.03.2014
Olaf Hintze floh im Sommer 1989 aus der DDR. Seine Erlebnisse hat er zusammen mit Susanne Krones in "Tonspur" verarbeitet, anhand von Liedern, die er damals gehört hat, und anhand eines Buches von Stefan Zweig. Das passt nicht immer zusammen, gibt aber trotzdem einen guten und persönlichen Einblick in die damaligen Ereignisse.
Es war keine Schnapsidee von Olaf Hintze, die DDR für immer zu verlassen und über die grüne Grenze von Ungarn nach Österreich zu flüchten. Im Gegensatz zu anderen, die die Gunst der Stunde im Sommer '89 nutzten und sich in Ungarn spontan zur Flucht entschlossen, hatte Olaf Hintze seine Flucht geplant.
Er war weder ein Querulant noch ein Gescheiterter: Nach der Technikerlehre bei der Deutschen Post hatte er beim Fernmeldeamt Erfurt gearbeitet. Um später mal zu studieren, hatte er nach der Arbeit die Abendschule besucht. Seine Vorgesetzten nahmen ihm jedoch jegliche Hoffnung auf einen Studienplatz, denn Hintze wollte nicht in die Partei eintreten. So blieb für Olaf Hintze, der seine Träume verwirklichen wollte, der sich nach Freiheit sehnte und der sein Leben leben wollte, nur ein Ausweg: die Flucht in den Westen.
"Ich war nicht naiv und hatte die Grundregel schon früh begriffen: Entweder schleimen und vorwärts kommen oder keine Entwicklung mehr und nichts weiter."
Das alles ist 25 Jahre her. Wie erinnert man sich? Diese Frage stellten sich Olaf Hintze, um dessen Geschichte es hier gehen soll, und Susanne Krones, die diese Geschichte aufgeschrieben hat. Die beiden haben lange Gespräche geführt. Und sie haben die alten Mappen und Kisten von Olaf Hintze geöffnet - viele davon zum ersten Mal seit der Wende.
So sind sie auf Fotos, Kalendereintragungen und Listen mit seinen Lieblingssongs gestoßen, haben Bibliotheks-Leihscheine und Konzertkarten mit kleinen Kommentaren gefunden, Briefe gelesen und Textpassagen studiert, die Hintze aus verschiedenen Büchern abgeschrieben hatte.
Eine Tonspur als Leitfaden
Einige Dokumente waren Auslöser für Erinnerungen, die schon verblasst oder ganz verschüttet gewesen waren; mit anderen ließen sich die Ereignisse zeitlich einordnen. Einige der Originaldokumente sind im Buch abgebildet. So hat Susanne Krones die Geschichte von Olaf Hintze rekonstruiert - sie erzählt nicht nur die Geschichte seiner Flucht, sondern auch sein Leben in der DDR und die ersten fünf Jahre in der Bundesrepublik. Der Leitfaden beim Erzählen ist eine Tonspur aus lauter Songs, die der musikbegeisterte Hintze im Laufe der Zeit gehört hat. Englische Liedzeilen werden immer wieder bestimmten Situationen zugeordnet. Und über jedem Kapitel steht ein Songtitel als Motto:
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Cover: "Tonspur - Wie ich die Welt von gestern verließ" von Olaf Hintze / Susanne Krones© Deutscher Taschenbuch Verlag
"One way ticket" - Olaf Hintze macht sich mit zwei Freunden auf den Weg nach Bulgarien, wo sie ihren Urlaub verbringen wollen.
"If you leave me now" - Im bulgarischen Urlaubsort Varna verlässt Hintze seine Freunde, um nach Ungarn zu fahren und von dort aus über die grüne Grenze nach Österreich zu flüchten. Seine Freunde hatte er vorsichtshalber nicht eingeweiht.
"Magnetic fields" - Hintzes erster Fluchtversuch schlägt fehl. Ungarische Grenzsoldaten bringen ihn auf der Ladefläche ihres Jeeps zurück, setzten ihn am Straßenrand ab und fahren ohne ein Wort davon.
"It's a heartache" - Der zweite Fluchtversuch über die grüne Grenze gelingt. Olaf Hintze ist endlich im Westen.
Diese Tonspur ist für diejenigen, die mit der Popmusik der 80er Jahren nicht vertraut sind, eine ziemlich fremde Spur, frei von Assoziationen und Erinnerungen. Für diejenigen, die die englischen Song-Texte komplett kennen, erscheinen manche Zeilen in einem unpassenden Kontext. Zum Beispiel das Zitat aus Suzan Vegas Song "Luka": "Ich heiße Luka / ich wohne im zweiten Stock / ich wohne über dir / ja, ich glaube, du hast mich schon mal gesehen."
"Wie oft hatte er den Text im Ohr, als er sich nach seinen kleineren und größeren Umzügen in München wieder neuen Nachbarn und Mitbewohnern vorstellte. Die vielen Leben, die sich in einem Stadthaus überschnitten. Die freundliche Unverbindlichkeit, mit der neue Beziehungen innerhalb eines Hauses entstanden und wieder gelöst wurden. Großstadtpoesie vom Feinsten."
In dem Suzan-Vega-Song geht es nicht um "freundliche Unverbindlichkeit", wie es die ersten vier Zeilen vielleicht vermuten lassen - es geht um Kindesmisshandlung aus der Sicht des Kindes Luka. Hier kommt die Tonspur vom Kurs ab.
Stefan Zweigs Buch als zweite Orientierungshilfe
Die zweite Spur, in die die Erlebnisse von Olaf Hintze immer wieder eingebettet werden, ist eine Textspur. Die Sätze dazu stammen aus Stefan Zweigs Buch "Die Welt von Gestern". Ein Buch, in dem der 60-jährige Schriftsteller auf sein Leben und seine Epoche zurückblickt. Als Zeitzeuge von zwei Weltkriegen setzt Stefan Zweig sich mit dem Verfall der moralischen und kulturellen Werte und mit dem Wesen der Freiheit auseinander. Für Olaf Hintze war dieses Buch zu DDR-Zeiten eine Offenbarung.
Auch Susanne Krones hat es gelesen und viele Erlebnisse Hintzes mit Zitaten aus dem Buch garniert. Eine Fleißarbeit, die oft bemüht wirkt und Olaf Hintze ein Stück von uns wegrückt. Viel unmittelbarer wirkt es, wenn Olaf Hintze ab und zu in kenntlich gemachten Zitaten zu Wort kommt. Dafür sorgt schon die Ich-Form:
"Während ich auf den Zug gewartet habe, konnte ich eine Mutter im Gespräch mit ihrer Tochter beobachten. Das Mädchen hat mich genau gemustert. 'Was ist denn das für ein armer Mann?' Darauf erklärte ihr die Mutter: 'Das ist ein Flüchtling.' Bis dahin hatte ich mich selbst nie so genannt. Aber - ja, das stimmte."
Susanne Krones wurde zehn Jahre vor der Wende in Oberbayern geboren und lebt in München. Sie erzählt also aus der West-Perspektive. Das merkt der in der DDR sozialisierte Leser schon beim Vokabular, wenn zum Beispiel von der "Firma" statt vom "Betrieb" oder von "Jugendtouristik" statt von "Jugendtourist" die Rede ist. Oder auch wenn erwähnt wird, dass viele DDR-Bürger ein Wohnmobil besaßen - dabei gab es damals kaum welche und man fuhr mit dem Wohnwagen am Auto in den Urlaub.
Trotzdem bekommen Leser, die die DDR nicht kennen und die Wende nicht bewusst erlebt haben, eine gute Vorstellung davon, wie es im Osten zuging und warum Tausende DDR-Bürger im Sommer '89 das Land verließen. Viele sorgsam recherchierte Fakten stellen Hintzes Geschichte in einen historischen und politischen Kontext. Eine Zeittafel im Anhang gibt einen guten Überblick über die Biographie Olaf Hintzes in der einen und über die politischen Ereignisse in der anderen Spalte.
Im Glossar sind typische DDR- und Wende-Wörter wie "Bausoldat", "Delikatladen", "Perestroika" und "Währungsunion" kurz erläutert. Olaf Hintze und Susanne Krones haben es geschafft, anhand eines Einzelschicksals dem Leser ein Stück deutsche Geschichte auf sehr persönliche Weise näher zu bringen.

Olaf Hintze / Susanne Krones: Tonspur - Wie ich die Welt von gestern verließ
Deutscher Taschenbuch Verlag
360 Seiten, 14,95 Euro (eBook 12,99)