Fischstäbchen schwimmen im Meer

Von Beate und Stefan Becker · 27.12.2006
Der Natursoziologe Rainer Brämer hat das Verhältnis von Natur und Mensch untersucht. Herausgekommen waren "desaströse Ergebnisse", wie er sagt. Beispielsweise konnten Jugendliche keine fünf heimischen Kräuter nennen.
Hutter: "Ja, die Situation ist in der Tat erschreckend. Wir haben es mit einer regelrechten Wissenserosion zu tun, in Sachen Natur, in Sachen Landschaft, Landwirtschaft, aber auch was die Ernährung und die Gesundheit anbelangt. Die "lila Kuh" ist ein berühmtes Beispiel aber es gibt viele andere. Kinder denken heute Orangen wachsen in England, Fischstäbchen schwimmen im Meer und viele Kinder aber auch schon Erwachsene können heute eine Amsel nicht mehr von einem Spatz unterscheiden."


Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen.

Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie; was war, kommt nicht wieder alles ist neu und doch immer das alte. Johann Wolfgang von Goethe über die Natur.

Claus-Peter Hutter leitet die Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg. Sein schockierender Befund: Der Mensch heute weiß nichts mehr über die Natur.

Hutter: "Über Jahrhunderte hinweg wurde Wissen automatisch weitergegeben. Von Großeltern zu Eltern, von Eltern zu Kindern. Und das musste gar nicht in den Schulbüchern drinstehen, sondern man hat einfach automatisch, durch die Lebensumstände Dinge vermittelt, die auch zu Selbstkompetenz geführt haben von Kindern und später Erwachsenen, die dann automatisch wussten: wie ernähre ich mich richtig, wie verhalte ich mich in der Natur. Und das war so ein automatisches System, und dieses bricht nun erstmals seit Jahrhunderten zusammen."


Auch der Bildungsreferent des Deutschen Jagdschutz-Verbandes in Bonn, Ralf Pütz, zeigt sich angesichts des zunehmenden Natur-Analphabetismus besorgt.

Pütz: "Wir haben in den letzten Jahren mitgearbeitet an dem "Jugendreport Natur" vom Rainer Brämer. Dieser "Jugendreport Natur", der hat im Blick die Jugendlichen in einer Altersgruppe von um die zehn bis dreizehn Jahre. So ganz grob. In diesem Alterssegment stellen wir fest, dass das Wissen um die Natur rapide abnimmt."


Der "Jugendreport Natur" 2006 wurde unter dem Titel "Natur obskur" veröffentlicht. Bereits in Vorgängerstudien von 1997 und 2003 untersuchte Rainer Brämer das Verhältnis von Jugendlichen zur Natur. Er ist Natursoziologe am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Marburg. Sein Forschungsschwerpunkt ist das Verhältnis von Natur und Mensch.


Brämer: "Wir wissen ja aus unseren Studien, dass zumindest Natur für Jugendliche langweilig ist. Und da hat man also verschiedene Formen des Abstandes zur Natur, der Entfremdung, das eine das kennen wir schon aus 1000 Untersuchungen, das ist einfach, dass man sich gar nicht mehr auskennt, dass man also die Blätterarten nicht mehr unterscheiden kann von Bäumen oder dass man eine Blume nicht mehr ansprechen kann oder Tiere beim Namen nicht mehr nennen kann, die üblichen Untersuchungen. Wie viele Zugvögel gibt es oder sind es überhaupt Zugvögel? Da kommen ja eigentlich desaströse Ergebnisse heraus."



Diese Studien machen deutlich: Jugendlichen können keine fünf heimischen Kräuter nennen, sie können das Bild eines Lindenblattes nicht einer Linde zuordnen. Selbst in nadelwaldreichen Gebieten kann kaum einer die Farbe von Fichtenblüten bestimmen. Ein Viertel der Jugendlichen weiß die Farbe von Bucheckern nicht, den Früchten des verbreitetsten Laubbaumes unserer Mittelgebirge.

Pütz: "”Und es immer wieder erstaunlich wie viele Kinder also einen Brachiosaurus, eine T-Rex und einen Stegosaurus und alles möglich kennen aber ganz erstaunt sind wenn sie hören, dass also richtige große, dicke, echte Wildschweine im deutschen Wald leben. Das hat für die einen unglaublichen Überraschungseffekt.""


Pütz: "Das Reh ist nicht die Frau vom Hirsch. Früher als Kind hab ich wahrscheinlich auch gedacht, das Reh ist die Frau vom Hirsch, aber dass beides eigenständige Tiergattungen sind, das ist dann in dem Fall nicht so richtig klar."


Reinwald: "Auch Kaninchen und Hasen werden eben sehr oft in einen Topf geworfen, dabei sind das sehr unterschiedliche Tiere, die ganz unterschiedliche Biologie vorweisen und auch unterschiedliche Lebensräume beanspruchen. Das Kaninchen lebt eben gerne in Höhlen, gräbt sich seine Bauten, ist sehr gesellig und der Hase, der macht das nicht, das ist ein reines Steppentier, der lebt eben auf der Erde und ist eher ein Einzelgänger."


Sagt Torsten Reinwald, Redakteur beim Deutschen Jagdschutz-Verband.


Brämer: "Ist ja auch `ne tolle Luft heute. Heute ist so richtig schön herbstlich. Die Luft riecht im Herbst auch besonders schön würzig. Das hat ein bisschen den Hauch von Tabak, ja weil diese alt werdenden Blätter auch solche Gerüche ausströmen und das empfinden wir, glaube ich, als sehr angenehm. Da werden unsere Nasen gereizt, die sonst ja solche Gerüche gar nicht wahrnehmen. Das ist ja ein sehr breiter, würziger Geruch. Noch mit den Pilzen dazu, die das noch anreichern, wie diese Baumpilze zum Beispiel, die riecht man dann auch heraus."

Pütz: "”Dieses Wissen um die Natur wird nicht mehr gesehen und wir stellen auch fest, nicht nur bei jungen Leuten, also da möchte ich auch gerne so etwas differenzieren. Dieser Jugendreport bezieht sich zwar auf junge Leute aber wenn man auch ganz ehrlich ist und ganz genau hinguckt, das geht eigentlich über alle Altersgruppen mittlerweile hinweg.""

In der Küche und im Wohnzimmer meiner Großeltern standen zwei Öfen, die mit Brennholz befeuert werden mussten. Meine Schwester und ich sind immer gerne mitgekommen, wenn Opa Bäume fällen ging. Die ganz schmalen durften wir bearbeiten; dazu haben wir ein Seil um den Stamm gelegt und daran gezogen, so fest wir konnten. Opa hat immer noch ein bisschen nachgeholfen, und irgendwann gab das Bäumchen nach und wir konnten es so weit zerteilen, dass es auf den Bollerwagen passte. Ich mag bis heute den Geruch von frisch gespaltenem Holz sehr gerne. Es riecht ein bisschen wässrig, sehr sauber, so weiß wie das Holz, das unter der dunklen Rinde zutage tritt. Aus einem Tagebuch.
Hutter: "Ich möchte nicht sagen, dass die Leute nichts mehr wissen, die wissen heute andere Dinge. Die kennen heute 20 Handyklingeltöne aber vielleicht gerade noch zwei Vogelstimmen. Die kennen 20 Automarken aber keine Wildblumen mehr."


Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremd. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken beständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie.

Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen. Sie baut immer und zerstört immer, und ihre Werkstätte ist unzugänglich. Johann Wolfgang von Goethe über die Natur.

Was sind die Ursachen für das, was die Experten als Naturferne, Naturdistanz oder Naturentfremdung bezeichnen und was in eklatanten Wissenslücken zutage tritt?

Hutter: "Ich kann nur vermuten, warum diese Wissenserosion in Sachen Natur, in Sachen Essen, in Sachen Landschaft und Landwirtschaft so große Ausmaße annimmt. In Deutschland arbeiten nur noch, wenn’s hochkommt, zwei Prozent der Leute direkt oder indirekt in der Landwirtschaft oder in der Forstwirtschaft. Leute also, die noch mit dem Wetter, mit der Urproduktion zu tun haben und damit mitbekommen, wie Lebensmittel erzeugt werden, die einfach von der Natur lernen. Das ist das eine Phänomen. Das andere Phänomen ist, dass wir es bei der gegenwärtigen Elterngeneration mit einer Generation zu tun haben, die vieles selbst nicht mehr weiß oder einfach vergessen hat."

Pütz: "Es kommt vermutlich daher, dass die Kontakte zur Natur nicht mehr für jeden selbstverständlich sind. Wir haben eine, in den letzten Jahrzehnten natürlich eine massive Verstädterung erlebt. Wir haben auch, was für uns Jäger und für Förster natürlich immer eine Diskussion ist, das Phänomen der Flächenzerschneidung, der Versiegelung der Landschaft."


Nie zuvor haben sich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen so gewandelt wie in den letzten hundert Jahren. Motor dieser Veränderungen war die moderne Technik, die allmählich Eingang in sämtliche Bereiche unserer Lebens- und Arbeitswelt fand, bis tief in die Gesellschaftsstrukturen und in das Verhalten des einzelnen Menschen hinein.

Mit der Entwicklung hin zu einer hochtechnisierten Gesellschaft veränderten sich die Anforderungen, die Interessen und damit verbunden auch das Wissen. Naturwissen, bzw. ,Natur’ wird aus unserem Alltag verdrängt.


Brämer: "”Es ist klar, dass von der Zeit her, die wir in Räumen und andererseits im Grünen verbringen, wir nur noch im Grünen zu Gast sind und eigentlich leben in unserer zivilisatorischen Welt, in unseren Wohnungen und Autos und Büros, von daher ist schon klar, dass Natur nicht mehr ein wesentlicher Raum in unserem Alltag darstellt.""


Pütz: "”Früher ist man raus gegangen in den Wald, man hat Bäche gestaut, man hat also sich stundenlang auf Feldern rumgetrieben irgendwo. Das scheint heute nicht mehr selbstverständlich zu sein. Dafür ist unter anderem wohl auch verantwortlich der zunehmende Autoverkehr, Zunahme an Straßen und so weiter aber auch, muss man sagen, der zunehmende Einfluss elektronischer Medien.""


An der Universität Marburg hat man im Rahmen des "Jugendreport Natur" besonders den Einfluss des PC- und Fernsehkonsums auf die junge Generation erforscht.

Brämer: "Wir haben uns gedacht, es könnte zusammenhängen mit einem steigenden Medienkonsum, wir haben also jetzt mal gleichzeitig nachgefragt das Interesse an der Natur und die Aktivitäten in der Natur auf der einen Seite und auf der anderen Seite wie viel guckt man fern, wie lange sitzt man vor dem PC, wie viel besitzt man von diesen Geräten und da stellt sich in der Tat heraus. Erstens: der Fernsehkonsum hat sich kaum verändert, aber der PC-Konsum sozusagen, das Spielen am PC, die Internet-Spiele sind sehr stark nach vorne gedrungen. Und je mehr Jugendliche das machen, desto weniger interessieren sie sich noch für Natur, umso weniger sind sie draußen und bewegen sich dort draußen, also da gibt es einen eindeutigen Zusammenhang."


Nur noch jeder 2. Jugendliche kann sich an ein einschneidendes Naturerlebnis erinnern. In ihrer natürlichen Umwelt kennen sie sich nicht mehr aus. Nur ein Drittel der befragten Jugendlichen kennt die Farbe von Raps, obwohl die gelben Felder im Frühjahr das Landschaftsbild dominieren. Sie scheinen die Natur nicht mehr in Augenschein nehmen zu wollen.

Brämer: "”Erwachsenwerden, heißt erst mal groß werden, auch Größenfantasien ausleben, die kann man in Naturritualen ausleben, indem man jetzt den großen Entdecker spielt in den Wäldern der Umgebung oder auf Abenteuertour und Expedition geht, das geht aber offenbar viel besser in diesen Cyberräumen in diesen abenteuerlichen Spielen, die so einerseits diese Herausforderung haben, ich will siegen. Andererseits doch noch ne schöne Sicherheit, ich sitze ja doch noch in meinem Sessel, das ist glaube ich den Kombination, die ganz elementare Bedürfnisse von Heranwachsenden befriedigt und ich habe auch das Gefühl, dass diejenigen, die diese Dinge konstruieren, auch genau darauf setzen. Das heißt, also die Spielwelten, die Kunstwelten, in denen Jugendliche heute leben, die werden von den Konsumjägern, so sehe ich sie mal, also diejenigen, die diese Produkte herstellen, werden immer stärker auf die elementaren Bedürfnisse von Jugendlichen zugeschnitten und da kommt dann manchmal die Natur nicht mehr mit.""


Brämer: "Von daher kann man auch Jugendliche nicht dafür verantwortlich machen, dass sie immer größeren Abstand zur Natur gewinnen. Es ist die immer komplizierte, arbeitsteiligere Gesellschaft, die dabei eine große Rolle spielt und eigentlich die wichtige Welt ist nicht mehr die, wo unsere Produkte entstehen, wo wir also das, was wir zum Leben brauchen herstellen, sondern die wichtige Welt ist die Konsumwelt."


Nicht nur dieses Wissen schwindet, sondern auch das Wissen um die Zusammenhänge von Natur, Ressourcennutzung, Produktherstellung und Konsum.
Den Menschen heute ist nicht mehr bewusst, dass alles, was sie konsumieren aus der Natur kommt.

Hutter: "Also wer nie gelernt hat wie man einen Kartoffelsalat selbst zubereitet, wer nicht kochen gelernt hat, der ist auch kritiklos gegenüber der Fertignahrung und bekommt gar nicht mehr mit, wie Lebensmittel erzeugt werden. Und wer das nicht mehr weiß gibt es auch nicht an die Kinder weiter."


Reinwald: "Spinat ist ja eigentlich nur gepflückt, gewaschen und eingefroren. Natürlicher geht’s ja fast gar nicht, wenn man sich aus der Tiefkühltruhe bedient. Trotzdem erkennen das die Kinder nicht als Natur."


Brämer: "”Das, was uns am meisten erschüttert hat, war, dass nur 50 Prozent der Jugendlichen wussten, woher eigentlich Rosinen kommen, dass sie aus Trauben kommen, ein Großteil dachte, dass sie vielleicht aus Pflaumen kommen, andere wussten gar nichts und auch auf die Frage, woher eigentlich das Porzellan kommt, das man jeden Morgen auf den Tisch stellt, das haben nur 10 Prozent gewusst, dass das aus Ton herauskommt, also einem Naturprodukt.""


Dass Kinder und Jugendliche nur vor dem Fernseher oder der Spielkonsole sitzen und sich von Fastfood oder Mikrowellenkost ernähren, ist mehr als ein Klischee.
Die Eltern dieser Kinder haben keine Zeit mehr zu kochen oder gar das Gemüse selbst anzubauen und zu verarbeiten. Die Lebensmittelindustrie bedient mit ihrem "functional food" diese Klientel.

Hutter: "Das hat ja oftmals mit Lebensmittel nichts mehr zu tun. Das heißt es hat auch eine geistige Abkopplung stattgefunden, von der Erzeugung auf der einen Seite, zu dem was man auf dem Teller oder in der Hand hat auf der anderen Seite."


Brämer: "Und hier gibt es jede Nacht Wildschweine. Man riecht sie ganz leicht hier im Augenblick. Also, wo Wildschweine waren nachts riecht man sofort. Das riecht so nach Kräuterkäse. Wenn sie also dahin kommen, wo sie gerade waren riecht es ganz stark nach Kräuterkäse und hier haben wir so einen leichten Kräuterkäsegeruch jetzt in der Luft. Die waren heute Nacht wieder hier."


Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig, und ist kein Moment Stillestehen in ihr. Fürs Bleiben hat sie keinen Begriff, und ihrem Fluch hat sie ans Stillestehen gehängt. Sie ist fest. Ihr Tritt ist gemessen, ihre Ausnahmen selten, ihre Gesetzte unwandelbar.

Gedacht hat sie und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur. Sie hat sich einen eigenen allumfassenden Sinn vorbehalten, den ihr niemand abmerken kann. Johann Wolfgang von Goethe über die Natur.

Es stellt sich die Frage, ob nicht andere pädagogische Konzepte nötig wären, um wieder Interesse für das, was die Natur zu bieten hat, zu wecken.

Die Dinge, die in naturwissenschaftlichen Fächern vermittelt werden, sind geistige Konstrukte, die gelernt, geprüft und vergessen werden, da sie nicht an eine unmittelbare Naturerfahrung gekoppelt sind. Sind die Eltern verantwortlich, die den Kindern aus Angst das Spielen und Erkunden in der wilden Natur nicht erlauben?

Brämer: "”Wenn Jugendliche in die Natur hinausgehen, fangen sie an zu stöbern, machen die verrücktesten Sachen, klettern auf Bäume, trampeln auch mal n Käfer tot, graben auch mal irgendwo irgendetwas aus, benehmen sich wie Wildsäue, aber mehr auch nicht und die Frage ist, ob wir uns das gestatten wollen, ob wir das nicht auch unseren Kindern und Jugendlichen zubilligen wollen.""



Wir sind dann meist in den riesigen Garten meiner Oma gegangen, haben Erbsen direkt aus der Schale gegessen, uns in den hochaufgeschossenen Bohnenranken versteckt, Erdbeeren gepflückt, Stachelbeeren, Johannisbeeren und uns Kirschen an die Ohren gehängt. Währenddessen hat Opa begonnen, im Hühnerhof, wo sein Holzklotz stand, aus den Bäumen und Ästen Scheite zu schlagen, die er zu mehrere Holzmieten aufschichtete, die auf dem ganzen Grundstück verteilt waren. Aus einem Tagebuch.
Was bedeutet es für künftige Generationen, wenn der Abstand zu ihren natürlichen Lebensgrundlagen immer größer wird?

Hutter: "Wir sind hier mittendrin in diesem Prozess des Erodierens von Allgemeinwissen. Und noch schlimmer wird es werden in fünf bis zehn Jahren, wenn die jetzt 70-Jährigen und älteren nicht mehr unter uns sind, die dieses Wissen weitergeben könnten. Und damit gerät auch die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft in Gefahr."


Es geht nicht nur das Wissen um die Natur verloren, sondern das Bewusstsein darüber, in welchem Maße die Existenz und das Wohlergehen des Menschen von der Natur abhängen.

Unsere Großeltern und Urgroßeltern lebten mit und von der Natur, ihre Existenz hing ganz unmittelbar davon ab. Vom Wetter, von den Jahreszeiten und selbstverständlich konnten sie die Natur deuten, weil sie darauf angewiesen waren. Das Wissen um Pflanzen und Tiere war lebensnotwendig.

Dieses tradierte Erfahrungswissen erfährt in unserer modernen Informations- und Wissensgesellschaft eine Entwertung. Die Ausweitung des neuen Wissens auf der einen Seite ist immer auch ein Verlust des alten Wissens.

Hutter: "Es ist einmal ein Generationenproblem und damit ein gesellschaftliches und ein gesellschaftspolitisches Problem. Man hat nämlich auch jahrelang diese Themen vernachlässigt. Man hat am falschen Platz gespart. Schauen Sie sich Biologie- und andere Bücher an, von heute, und vergleichen Sie diese mit den 50er, 60er, 70er Jahren, dann werden Sie feststellen, dass viele heimische Tier- und Pflanzenarten in den Büchern heute nicht mehr drin sind. Ein Abiturient kann heute durch den Biologieunterricht Zellkerne zerlegen, er kann makrobiologische Vorgänge erklären und mikrobiologische und alles Mögliche. Das sind schon halbe Mediziner, aber eben nicht mehr ansprechen: habe ich eine Kartoffelpflanze vor mir oder ist das nun Gerste oder ist das nun Weizen?"


Überfragt sind jedoch nicht nur Abiturienten. Selbst bei Leuten, die von sich selbst sagen, sie seien ökologisch interessiert, stoßen die Experten schnell an Grenzen.

Hutter: "Etwa junge Bürgermeister, die auch etwas tun. Die lassen auf die Schule Photovoltaikanlagen installieren aber wenn man dann über Biotopvernetzung redet und erklärt: es gibt in dieser Hecke oder in jener Gehölzzone eine Heckenbraunelle, dann wissen die nicht: ist das nun ein Vogel, oder ist das eine Wildblume. Es brechen einfach die Gesprächspartner weg."


Mit dem Waldsterben, dem Protest gegen Atomkraft und der Verseuchung von Flüssen in den 80er Jahren hat sich eine breite ökologische Bewegung für den Erhalt und Schutz der Umwelt gebildet und das Thema Natur wurde wieder relevant. Man nahm Renaturierungen vor und stellte seltene Tiere und bedrohte Landschaften unter Schutz.

In einer aktuellen Studie des Instituts für Erziehungswissenschaften der Universität Marburg, die das Umweltbundesamt in Auftrag gegeben hat, nennen die Befragten als zweitwichtigstes Thema Schutz von Umwelt und Natur, noch vor sozialer Gerechtigkeit. Noch nie seit den 80er Jahren war die Umwelt für die deutsche Bevölkerung so bedeutsam, wenn man abstrakt danach fragt. Eine Änderung ihrer Lebensgewohnheiten zum Schutz der Natur befürworten jedoch nur die wenigsten.

Brämer: "Was im Augenblick sehr stark auffällt, die Wälder lichten sich ja aus, teilweise in Folge des Effektes, dass die Eichen- und Buchenwälder sehr stark an Blättern verlieren, auch im Sommer nicht mehr so viel haben. Und da breiten sich im Unterholz diese wilden Brombeeren hier aus. Wenn man da quer durch den Wald geht ist das gar nicht mehr so einfach. Man stolpert entweder über die langen Brombeeräste oder aber man hat dieses Altholz da liegen, von dem der Forst behauptet dass der ökologisch ganz gut wäre, wenn das alte Holz hier liegen bleibt. Ich bin da nicht so ganz sicher."

"Der Verlust des Wissens ist nicht so drohend und derart irreversibel, wie das Aussterben einer Art", sagt der Professor für Umweltethik Konrad Ott. Dennoch hat das Unwissen über die Natur Folgen für den Artenschutz: Denn wie kann man etwas schützen, das man nicht kennt?


Hutter: "Heute verschwinden aber ganz andere Tiere durch die intensive Landnutzung und Pflanzen aus der Landschaft. Die Grauammer, der Wachtelkönig, die Wachtel. Viele andere Arten, die die Leute nicht mehr kennen. Und was man nicht kennt vermisst man nicht. Und was man nicht vermisst wird keine Bereitschaft auslösen dafür Engagement aufzubringen. Und deshalb hat das soviel mit der Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft zu tun, wie wir Landschaft wahrnehmen, was wir in der Landschaft entdecken, erleben, genießen wollen und ob wir dann bereit sind auch dafür zu kämpfen."

Brämer: "Einer der Gründe, wieso wir so ein gebrochenes Verhältnis zu Natur haben, ist vielleicht auch der, dass wir einen ganz merkwürdigen Begriff von Natur haben, wir haben irgendwie - das steht auch in den Lexika – den Eindruck, Natur ist erst dann vorhanden, wenn der Mensch nicht mehr drin ist. In den Lexika steht immer "ohne Zutun des Menschen", so ist das definiert, das ist aber natürlich insofern problematisch, als der Mensch ja auch ein Naturwesen ist."


Brämer: "”Und so geht ein heilloses Durcheinander durch das Naturverständnis und das hat damit zu tun, dass wir insgesamt nicht mehr definieren können, was Natur ist. Wenn man darüber nachdenkt, wo dran das wohl liegt, dann hat das auch etwas mit der Entstehung des Naturbegriffs zu tun, denn schon sehr früh in der Geschichte hat sich der Mensch aus der Natur selber herausgenommen und zwar deshalb, weil er sich selber für was besseres gehalten hat.""

Brämer: "”Wir brauchen den Naturbegriff nur, um deutlich zu machen, wir stehen über der Natur, wir sehen das dann auch in der großen Geste mit der wir sagen, wir sind Freunde der Erde, wir schützen die Natur, wir hüten die Natur, obwohl die Natur ehrlich gesagt auch ohne beschützende Menschen auskommt, sie würde sich zwar verändern aber ansonsten keinen Schaden leiden, die Natur ist eigentlich viel größer als wir Menschen das sind, aber wir haben selber die Größenphantasie, dass wir es sind, die die Natur beherrschen. Teilweise ist das der Fall, teilweise ist das sehr zum Nachteil der jetzigen natürlichen Umwelt der Fall, aber den Nachteil tragen eigentlich nur wir, denn wir schädigen unsere eigenen Lebensgrundlagen, die Natur selber lässt sich davon wenig beeindrucken.""


Sie lässt jedes Kind an sich künsteln, jeden Toren über sich richten, tausend stumpf über sich hingehen und nichts sehen und hat an allen ihre Freude und findet bei allen ihre Rechnung.

Man gehorcht ihren Gesetzen, auch wenn man ihnen widerstrebt; man wirkt mit ihr, auch wenn man gegen sie wirken will. Johann Wolfgang von Goethe über die Natur.


Meine Großeltern sind beide seit mehreren Jahren tot. Beim Einpacken (...) sind meinem Vater öfter einige Holzstücke aufgefallen, die so gar nicht nach frischem Holz aus dem Wald aussehen, sondern eher wie Holzreste, die Opa ebenfalls zerkleinert hat. Und auf diesen glatten Stücken hat Opa kurz notiert, wie es ihm so geht, wie das Wetter ist oder was er heute morgen als erstes in den Nachrichten gehört hat:

"Himmelfahrt, Flugschau, starker Ostwind, das wars."
"Nichts neues, herrliche Baumblüte, nur zu trocken."
"Schönes Wetter, viel Wind, alle gesund."


Wenn man Menschen für die Natur gewinnen will, muss man in der Kindheit anfangen. Um dem Unwissen über Natur entgegenzuwirken, hat man eine Reihe umweltpädagogischer Maßnahmen ergriffen, so zum Beispiel die Einrichtung von nicht vorgestalteten Kinderspielplätzen und Naturerlebnisräumen, Fortbildungen für Kindergärtnerinnen oder Ausbildung von Jugendbegleitern, die ihr Wissen in die Schulen hineintragen. Oder man geht mit den Kindern raus zum Bauern, um einfach zu zeigen, dass Pommes Frites nicht auf den Bäumen wachsen.

Und wir?

Brämer: "”Ich denke, dass wir in Zukunft, sollten wir uns weiter versteigen unser Leben nur noch hinter Glas zu führen, nur noch in Kunsträumen zu führen, ein immer größeres Alternativerlebnis werden, wenn man mal rausgeht, atmet man tief auf und fühlt sich unheimlich wohl, man weiß zwar nicht warum, aber es hat etwas damit zu tun, dass man sich in der Welt bewegt, in der wir am besten aufgehoben sind, in unserem arteigenen Biotop und der Körper merkt das.""

Je mehr die Natur aus unserem Alltagsleben verschwindet, desto größer wird die Sehnsucht danach.

Brämer: "”Dazu gibt es sogar Untersuchungen in der amerikanischen Naturpsychologie und die stellen nun also fest, dass uns die Zivilisation mental überfordert, die sprechen also von mentaler Erschöpfung. Und dass es aber ein leichtes ist diese Erschöpfung zu durchbrechen man muss nur raus in die Natur gehen und dann ist man, so sagen die das, "anstrengungslos aufmerksam", dann ist man also wieder voll da, als Mensch da und dieser Erholungseffekt ist so stark, den fühlt man so unmittelbar und dass der auch von denjenigen benutzt wird von denjenigen, die im Alltag nur noch vor den Keyboards sitzen.""

Sie ist alles. Sie belohnt sich selbst und bestraft sich selbst, erfreut und quält sich selbst. Sie ist rau und gelinde, lieblich und schrecklich, kraftlos und allgewaltig. Alles ist immer da in ihr. Vergangenheit und Zukunft kennt sie nicht. Gegenwart ist ihr Ewigkeit. Sie ist gütig. Ich preise sie mit allen ihren Werken. Sie ist weise und still. Man reißt ihr keine Erklärung vom Leibe, trutzt ihr kein Geschenk ab, das sie nicht freiwillig gibt. Sie ist listig, aber zu gutem Ziele, und am besten ist’s, ihre List nicht zu merken. Johann Wolfgang von Goethe über die Natur.