Finanzielle Hilfe für Flüchtlinge in der Türkei

Sollte die EU diesen Preis zahlen?

Erdogan und Junker in Brüssel
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am 5. Oktober in Brüssel. © picture alliance / dpa / Foto: Olivier Hoslet
Von Annette Riedel · 16.10.2015
In der Flüchtlingskrise können der türkische Präsident Erdogan und sein Land auf finanzielle Unterstützung von Seiten der EU hoffen. Das könnte eine Win-win-win-Situation für alle sein, meint Annette Riedel, das dürfe aber nicht zum Ausverkauf demokratischer Werte führen.
Tiefe gegenseitige Zuneigung ist es nicht, die die EU und die Türkei dazu motiviert, ihre Zusammenarbeit in einem Maße zu intensivieren, wie es vor Kurzem wohl noch kaum jemand für möglich gehalten hätte. Dass man in der Flüchtlingskrise einander braucht – ganz praktisch und ganz unmittelbar – kann ein wirksamer Katalysator für eine Kooperation sein, wie sie zwischen der EU und einem so wichtigen Nachbarn unter allen Umständen angezeigt wäre. Unter diesen Umständen allemal.
Es ist also ein Zweckbündnis in der Flüchtlingskrise, was sich da abzuzeichnen beginnt. Wenn es der EU so gelingt, mit Ankara auszuhandeln, dass Flüchtlinge in der Türkei einen besseren Status bekommen und bessere Lebensbedingungen, dass Schlepper beherzter in ihrem Tun gestört werden, dann wäre das eine win-win-win-Situation. Gewinnen würden die Flüchtlinge, deren Lage in den Flüchtlingsunterkünften in der Türkei erträglicher würde.
Selten war Merkel innenpolitisch so sehr in der Defensive
Gewinnen würde die Türkei, im Sinne der Lastenteilung für die Unterbringung von über zwei Millionen Flüchtlingen, die sie aufgenommen hat. Gewinnen würde Europa, wenn die Zahl der Menschen, die in unseren Grenzen Schutz suchen, sich nicht noch um diejenigen erhöhte, die in der Türkei wohl sicher sein mögen, aber keine Perspektive für sich sehen. Wenn die Europäer dafür ziemlich viel Geld, möglicherweise einige Milliarden, in die Hand nehmen müssen, dann ist das Geld gut angelegt.
So oder so ähnlich dürfte das auch die Bundeskanzlerin sehen. Geht die Rechnung auf, würde sie ebenfalls gewinnen, politisch gewinnen. Das könnte sie so gut gebrauchen wie selten während ihrer Kanzlerschaft, denn selten musste sie europäisch so um ihre Linie ringen. Selten war sie zudem innenpolitisch so sehr in der Defensive wie mittlerweile in der Flüchtlingsfrage.
Gelebte Solidarität fällt vielen schwer
Manch einer von Merkels europäischen Kollegen verspricht mehr Geld für neue Aufgaben im Rahmen der Flüchtlingspolitik, als er dann ohne Verzug bereit ist, tatsächlich auf den Tisch des europäischen Hauses zu legen. Aber mancher tut sich noch schwerer mit der gelebten Solidarität untereinander bei der Verteilung der Flüchtlinge als mit der Scheckbuchdiplomatie gegenüber Dritten. Das beklagt der österreichische Regierungschef zu Recht.
Wenn Angela Merkel am Wochenende nach Ankara fliegt, ist nicht plötzliche tiefe Zuneigung zur Türkei ihrer Ratgeber. Sondern Pragmatismus. Sie weiß um die entscheidende Rolle, die der Türkei in der Flüchtlingskrise zukommt. Aber sie muss auch wissen, dass das nicht dazu führen darf, dass die vertiefte Zusammenarbeit mit der Türkei zum politischen Ausverkauf jener demokratischen Werte und menschenrechtlichen Standards führt, die vom EU-Beitrittsland Türkei erwartet werden können. Und müssen. Gegenüber den Flüchtlingen. Gegenüber den eigenen Bürgern.
Wenn auf die Rechnung für die intensivere Zusammenarbeit mit der Türkei, die Belebung des Beitrittsprozesses des Landes am Bosporus kommt, sollte die EU diesen Preis gern zahlen – wenn "Belebung" nicht bedeutet, dass gerade im rechtsstaatlichen Dialog keine klare Sprache gegenüber Erdogan mehr gesprochen wird. Wandel durch Annäherung – ja, bitte gern. Aber bitte keine Annäherung ohne Wandel.
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