Filmkritiker der ersten Stunde

15.01.2007
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zählte der Soziologe Siegfried Kracauer zu den originellsten Beobachtern seiner Zeit. Er begründete die Filmsoziologie und befasste sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit unter anderem mit dem Detektiv-Roman und der sozialen Schicht der Angestellten.
Vielleicht ist ein Zitat geeignet, um die Bedeutung zu ermessen, die Siegfried Kracauer in den intellektuellen Kreisen der Weimarer Republik innehatte. In einem Brief äußert er sich über Theodor W. Adorno: "Vorerst besteht er zum guten Teil aus [Georg] Lukács und mir." Der 1889 als Sohn jüdischer Eltern in Frankfurt am Main geborene Kracauer war befreundet mit den originären Köpfen, die in den 20er und 30er Jahren anfingen, auf sich aufmerksam zu machen, und die heute zu den meist zitierten deutschsprachigen Philosophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählen: Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Ernst Bloch und Georg Lukács.

Siegfried Kracauer war einer der einflussreichsten Filmkritiker der "Frankfurter Zeitung", bei der er seit 1924 fest angestellt war. Nach Adornos Worten hat er "die Filmkritik in Deutschland überhaupt erst auf Niveau" gebracht. Kracauer hat sich in den unterschiedlichsten Bereichen umgetan. Ein Buch über "Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit" gehört ebenso zu seiner wissenschaftlichen Vita wie die Romane "Ginster" und "Georg". Doch zunächst studierte Kracauer Architektur und promovierte an der Technischen Hochschule in Berlin mit einer Arbeit über "Die Entwicklung der Schmiedekunst in Berlin, Potsdam und einigen Städten der Mark vom 17. Jahrhundert bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts "(1914). Bevor er 1919 nach Frankfurt am Main zurückkehrte, war er als Architekt im Stadtbauamt Osnabrück beschäftigt.

Zu Beginn der 20er Jahre arbeitete Kracauer, der während dieser Zeit unter dem Einfluss von Georg Simmel stand, an der Schrift "Soziologie als Wissenschaft", die 1922 erscheint. Diese Arbeit findet sich neben "Der Detektiv-Roman" (1922-1925) und "Die Angestellten" (1929/30) im ersten Band der vom Suhrkamp Verlag herausgegebenen Werkausgabe, von der bisher fünf Bände erschienen sind.

Wenngleich sich diese Schriften verschiedenen Themen widmen, entwickelt Kracauer in "Soziologie als Wissenschaft" wesentliche methodische Herangehensweisen, die er trotz auffälliger politischer Wandlungen auch später beibehält. Seinen Ausgangspunkt nimmt dieses Denken von der "Verflüchtigung des Sinnes", den Kracauer in der Nachkriegsepoche feststellt. Das Subjekt bleibt nach dem "Einsturz des Sinngebäudes" verlassen inmitten einer "Trümmerwelt" zurück. Deshalb käme der Soziologie nach Kracauers Überzeugung die Aufgabe zu "das Leben der vergesellschaften Menschen" zu untersuchen, wobei sie sich nicht um die qualitativen Merkmale der Subjekte zu kümmern hätte, sondern darum, welche zwischen ihnen "obwaltenden qualitativen Beziehungen" festzustellen sind.

In der Untersuchung "Der Detektiv-Roman" ist auffällig, wie er diese Einsichten methodisch umsetzt. Er abstrahiert von den einzelnen individuellen Charakteren, die sich in der Detektiv-Literatur einen Namen gemacht haben (Sherlock Holmes, Arsène Lupin u.a.) und untersucht hingegen die ihnen gemeinsamen Merkmale, die dem Typus des Detektivs zugrunde liegen (autonom, überragender Intellekt, Junggeselle).

In dem Buch "Die Angestellten", das zunächst als Fortsetzungsserie in der "Frankfurter Zeitung" erscheint, berichtet Kracauer – wie es im Untertitel heißt – "aus dem neuesten Deutschland". Er beschreibt eine soziale Gruppe, die "geistig obdachlos ist". Obwohl die Angestellten von den Linken zu den Proletariern gerechnet werden und die Konservativen sie dem Mittelstand zurechnen, gehören sie in Wirklichkeit nirgendwo hin. Um sich über die Lage der Angestellten zu informieren, hat Kracauer eine Expedition ins Innere der Großstadt unternommen und sich in Berlin umgesehen.

Kracauer nimmt bei seiner Untersuchung die Außenseiterposition des Intellektuellen ein, der die gesellschaftlichen Prozesse durchschaut und kritisch sichtet. Doch gibt er sich keinen Illusionen hin, dass er als Einzelner irgendeiner Klasse zuzugehören würde. Vielmehr versteht er sich in einer Epoche, der es an Sinn fehlt, als Störenfried, der etwas zur Politisierung seiner Klasse beizutragen gedenkt. Nicht nur wegen dieser Haltung hat Walter Benjamin die wohl bekannteste Arbeit Kracauers in zwei Besprechungen ausdrücklich gelobt.

Rezensiert von Michael Opitz

Siegfried Kracauer: Werke. Band 1. Soziologie als Wissenschaft. Der Detektiv-Roman. Die Angestellten
Herausgegeben von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006
398 Seiten. 42 Euro