Filmgeschichte

Der Tunnel als dunkle Metapher

Szene aus dem Film "Der Dritte Mann": Harry Lime (Orson Welles) versucht, durch die Abwassertunnel im Wiener Untergrund zu fliehen.
Szene aus dem Film "Der Dritte Mann": Harry Lime (Orson Welles) versucht, durch die Abwassertunnel im Wiener Untergrund zu fliehen. © Imago / Entertainment Pictures
Von Hartwig Tegeler · 01.06.2016
Der Tunnel ist aus der Menschheitsgeschichte nicht weg zu denken. Ebenso wenig aus der Geschichte des Films. Und zwar in allen Varianten: Man kann flüchten oder ersticken, man kann einen Schatz finden oder ein Monster.
Der Gefangene ist nicht in seiner Zelle.
Gefängniswärter: "Ich kann nur hoffen, dass du krank oder tot bist."
Aber die Zellentür war verschlossen.
Gefängnisdirektor: "Er war in seiner Zelle, als das Licht gelöscht wurde."
Der Gefängnisdirektor schmeißt wutentbrannt Steine vom Fensterbrett durch die Zelle. Auch auf das Raquel-Welch-Poster. Und der Stein fliegt durch das Papier hindurch!
Hinter dem Loch der Fluchttunnel, den Andy gehämmert hat.
"Ich weiß noch, wie ich dachte, dass ein Mann mindestens 600 Jahre braucht, um sich einen Tunnel durch die Mauer zu graben. Andy hat es in weniger als 20 geschafft."
Was uns in der Stephen-King-Verfilmung "Die Verurteilten" eines dieser klassischen Bilder beschert - Rückblende -, wenn der Tunnelbauer auf dem Gefängnishof merkwürdig seinen Fuß schüttelt. In "Die Verurteilen" 19 Jahre lang.
"Es stellte sich heraus, dass Andys liebstes Hobby darin bestand, seinen Mauerschutt Hosentaschenweise auf dem Gefängnishof zu verteilen."
Rein, runter. In die Erde graben. Kurios sind sie mitunter schon, die Ein- und Ausgänge der Tunnel im Kino. Hinter dem Plakat für den Fluchttunnel aus dem Knast. Oder im verborgenen Keller irgendwo in Ost-Berlin, Ausgang West-Berlin. Diese Art Tunnel, den 1981 beispielsweise Horst Buchholz und José Ferrer gruben oder 20 Jahre später Heino Ferch und Sebastian Koch.

Ein Autowrack als Tunneleingang

Während man beim Tunnel für Drogen und illegale Einwanderer, von Mexiko in die USA, auch mal in den Kofferraum eines Autowracks klettern muss.
"Auf der mexikanischen Seite der Grenze …"
… da ist der Tunneleingang. Der Tunnel ist im Kino aber immer, und zwar nicht nur im Drogenthriller "Sicario", er ist immer auch mehr als illegaler Wirtschafts- oder Fluchtweg. Egal, ob er mit elektrischem Licht oder Petroleumfunzeln ausgeleuchtet, ob er mit groben Baumstämmen gestützt oder neumodisch betoniert ist.
Angesichts dessen, was unten noch kommt, ist es so seltsam nicht, dass der Tunnel, durch den Alice ins Wunderland fällt, dass der oben noch aussieht wie der Eingang zu einem Kaninchenbau zwischen den Wurzeln einer großen Eiche und dann doch unendlich weit in die Tiefe führt.
Entscheidend ist, welche Erfahrungen die Tunnelgänger machen und - möglicherweise noch entscheidender -, wie sie wieder herauskommen. Wenn sie denn wieder rauskommen!

Metapher für verdrängte Vergangenheit

Herauskommen aus dem "Death Tunnel" oder dem "Black Tunnel". Aus dem bei den "Tunnel Rats", den Tunnelratten, beim "Tunnel der lebenden Leichen" oder auch den Wiener Abwasser-Tunneln im "Dritten Mann". Denn der Tunnel ist in der Kinoerzählung Metapher für das, in das wir uns hineingraben: Geheimnisse, Traumata, verdrängte Vergangenheit.
Was Sigmund Freud die Couch war, um in die Abgründe des Unterbewussten zu steigen mit seinen Klienten, das ist dem Kino der Tunnel. Der Weg, um in der Tiefe zu einem Ort auf die andere Seite zu gelangen, wo allerlei seltsame Wesen und Geistern wohnen. Oder auch: lauern.
"Als wir die Tunnel betraten, war von Anfang an klar, dass wir den See finden mussten. Denn dort lagen die Antworten."
Da verbirgt sich etwas, das tödlich ist. Der Tunnel - ein wunderbares Filmbild für Klaustrophobie, menschliche Ängste und Abgründe.
"Der Tunnel stürzt ein, stemm dich mit aller Kraft dagegen."
Vielleicht hier die letzte Frage des Tunnelgräbers: Ist der Ausgang überhaupt frei? Das Gold gefunden in der Mine, am Ende des mühsam gegrabenen Tunnels. Aber dann die Gier!
"Wir haben genug für uns beide. - Aber ich werde noch reicher sein, wenn ich mit niemandem teile. Jetzt ist die Gelegenheit günstig, ich habe deine Pistole."
Noch ein vertrautes Kino-Tunnelbild: Die Stützbalken fangen an zu knarzen; Staub, Dreck, zunächst kleine Steine rieseln. Der Bösewicht, der Sam Cooper im Western "Das Gold des Sam Cooper" das Gold abjagen möchte, folgt dem flüchtenden Sam in den Tunnel hinein. Sam macht kehrt, zündet ein paar wohl platzierte Dynamitstangen, der große Knall, der Eingang ist zu, Sam draußen; der andere, der Bösewicht, verschüttet.

Reicht die Luft?

Da braucht es schon einen Kinoheld von der Statur eines Sylvester Stallone, um die Verschütteten zu retten: aus dem eingestürzten New Yorker Holland-Tunnel in "Daylight" beispielsweise.
"Das dauert Ewigkeiten. - Falls nicht noch ein weiterer Schacht einstürzt."
Und noch eine weitere klassische Kino-Tunnel-Frage:
"Wie lange reicht die Luft?"
Nun ja, mal gerade eben so …
"Maximal!"
Natürlich rettet Sylvester Stallone in "Daylight" die Verschütteten über die alten Wartungstunnel. Und kriegt Madelyne, die tough ist wie er. Abspann. Und jetzt raus aus dem Kinosaal, der ja auch irgendwie ein Tunnel ist und tief nach unten geführt hat. Raus an die Luft.
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