Filme der Woche

Solidarität in den 80ern und heute

Die belgischen Brüder Jean-Pierre (l) and Luc Dardenne (r) bei der Vorstellung ihres Films "Zwei Tage, eine Nacht" beim Valladolid International Film Festival in Spanien, aufgenommen am 18.10.2014
Die belgischen Dardenne-Brüder bei der Vorstellung ihres Films "Zwei Tage, eine Nacht". © picture-alliance / dpa / Nacho Gallego
Von Hans-Ulrich Pönack · 29.10.2014
Engagement, Kooperation und Mitgefühl auf der Leinwand: Das mitreißende britische Sozialdrama "Pride" punktet mit Spaß und Pointen; "Zwei Tage, eine Nacht" der Gebrüder Dardenne zeigt den Kampf einer Angeschlagenen in einem Klima sozialer Kälte.
Entweder die Franzosen ("Ziemlich beste Freunde"; zuletzt: "Monsieur Claude und seine Töchter") oder die Briten ("Ganz oder gar nicht", "Brassed Off"; "Kalender Girls"; "Billy Elliot") - in beiden Ländern ist es öfters möglich, verdammt ernste und schmerzhafte Gesellschaftsthemen in einer tragikomischen Stimmung aufzuarbeiten. Politisch völlig unkorrekt wie wunderbar unorthodox und beeindruckend unterhaltsam. Neuestes hervorragendes Beispiel dafür: "Pride" – "Stolz". Ein großer ernsthafter Spaß.
Politiker sind – eigentlich – Volksvertreter. Von uns gewählte Vertreter, um unsere Interessen vehement zu vertreten. Damit es uns gut gehen möge. Ein Demokratie-Traum, natürlich. Margaret Thatcher (13. Oktober 1925 – 8. April 2013) war als Premierministerin des Vereinigten Königreichs von Mai 1979 bis November 1990 eine mächtige politische Herrschaftsfrau. Ihre Lieblingsformulierung lautete: "There is no alternative." In ihre politische Ära fiel auch beispielsweise die Verabschiedung der "Clause 28", einer Gesetzeserweiterung von 1988, die in Großbritannien den Kommunalbehörden (Gemeinden, Schulen, öffentlichen Einrichtungen) eine "Förderung von Homosexualität" verbot. Einer der Beweggründe der konservativen Eisernen Lady könnte auch solch ein Ereignis gewesen sein, an das dieser Film erinnert und das davor, Mitte der 80er-Jahre, in England für "Unruhe" = positive Furore sorgte.
Politik gegen Bergarbeiter und Homosexuelle
Der soziale Horror. Beide Seiten haben Probleme. Die britischen Bergarbeiter befinden sich im Ausstand. Streiken gegen die geplanten Schließungen und Privatisierungen ihrer Zechen. Zigtausende Arbeitsplätze stehen auf der Kippe. Nichts anderes als die Zerstörung eines gesellschaftlichen Gemeingefühls im Lande, hat "Maggie" auf ihrer rigorosen Wirtschaftsfahne festgeschworen. Nicht der Mensch, sondern das Geld soll künftig die Richtung im Lande vorgeben. Motto: Soziale Bedingungen hintenan. Bestimmt die Volksvertreterin Number One. Aber auch eine andere gesellschaftliche Gruppe leidet ebenfalls unter Thatchers reaktionärer Politik und massiver polizeilicher Willkür: die Schwulen- und Lesben-Szene in London. "Abschaum der Gesellschaft" titelt eine mächtige britische Zeitung anlässlich der sommerlichen Gay Pride.
Die Aktivistengruppe um Mark (Ben Schnetzer) & Kumpane habt es schwer, Akzeptanz zu finden. Zu Beginn der Aids-Epidemie werden sie noch mehr verunglimpft. Attackiert. Schikaniert. Nichtsdestotrotz: Eine völlig verrückte Idee entsteht: Man sollte diese Bergarbeiter unterstützen. Denen es offensichtlich genauso gesellschaftlich mies geht wie Ihnen. Die LGSM, die "Lesbian an Gays Support the Miners", entsteht. Motto: Geld sammeln für "die". Allerdings - wollen "die" offensichtlich gar keine Spenden. Annehmen. Sobald der Name der Spender-Organisation fällt. Doch so leicht lassen sich die Wagemutigen nicht einschüchtern. Nach dem Zufallsprinzip wird eine kleine Bergarbeiter-Gemeinde in Wales ausgewählt, ein bunter Lieferwagen gechartert und ab geht die unorthodoxe Tour in die Provinz. Nach Onllwyn. Wo die Begegnungen allerdings anfangs nicht unbedingt 1:1 ablaufen, im Gegenteil: Vorurteile zuhauf, Anfeindungen und Berührungsängste machen die örtliche Runde. Allerdings gibt es auch im Gemeinderat markige Befürworter für dieses außerordentliche Aufeinandertreffen von Arbeiter- und Gefühls-Klasse. In Gestalt von Helfina (Imelda Staunton, "Vera Drake"), Cliff (Billy Nighy, "Tatsächlich... Liebe") und einigen anderen aufgeschlossenen Mitstreitern. Man nähert sich an. Marke: Die Disco ruft. Musikalität vereint. Wenn Bronski Beat (um Sänger Jimmy Somerville) tobt. Wenngleich auch weiterhin von hasserfüllten Moralaposteln und irritierten Gewerkschaftsbürokraten misstrauisch beäugt. Und bekämpft.
Mit Spaß und pointiertem Feingefühl
"Pride" ist überhaupt kein strenger Fahnen-Film. Will keine trockene Botschaft sentimental vermitteln. Sondern vielmehr Spaß. Auslösen. Mit sehr viel ergreifendem, unterhaltsamen Sinn. (Die Betonung liegt auf "sehr"). Im Britannien der 80er: Gesellschaftliche Mitte und gesellschaftlicher Rand begegnen sich zufälligerweise, entdecken und finden gesellschaftliche wie persönliche, also individuelle Gemeinsamkeiten. Wie Solidarität, Gleichheit, Freundschaft. Dies kommt nicht als filmische Leid-Gefühlsduselei daher, sondern wird mit sehr viel Feingefühl, herrlich pointiert, also mit diesem unvergleichlichen, ansteckenden britischen, also doppelbödigen Humor, einfühlsam erzählt. Inmitten und trotz aller vorhandener Differenzen einer vorwiegend menschlichen Warmherzigkeit und einer immensen Portion herrlichstem Figuren-Charme - besonders und geradezu köstlich bei diesen kauzigen älteren Dorf-Ladies.
Keine blindwütige linke Hau-drauf-Ideologie tuckert hier vor sich hin, sondern ein lebensbejahendes Feeling. Gemeinsam ist annonciert. Aufbruch. Andersdenkende, Andersempfindende, los - mit hinein in die gesellschaftliche Zusammengehörigkeit. In diesen extrem schwierigen Zeiten. Die Kräfte bündeln. Den unsinnigen Knoten "Widerspruch" lösen. Anstatt dagegen, dafür. Miteinander und nicht mehr dieses unsinnige Gegeneinander. Stattdessen: Das gegenseitige Akzeptieren. Eine starke, widerborstige Allianz bilden. Die alte verknöcherte Moral hat sich überlebt. Beginnt, sich langsam aufzulösen. Aber eben nicht im Hurra-Stil. Sondern zwischen irritierendem Empfinden und zäher Beharrlichkeit. Jedenfalls: Ein zunächst zaghafter Schulterschluss ist möglich. Machbar. Auf den es ideologisch wie persönlich aufzubauen gilt. Wie sich dann auch ein Jahr später zeigt, als in London die nächste "Gay Pride Parade" ansteht.
Der 1972 in London geborene britische Schauspieler ("That Thing You Drew", 2010) und erfolgreiche Bühnen-Autor Stephen Beresford ("The Last of the Haussmanns", seit 2012 im National Theatre London) hat ein brillant-gescheites, sympathisch-emotionales Drehbuch verfasst. Das sein britischer Kollege, Matthew Warchus, Jahrgang 1966, seines Zeichens Dramatiker und Regisseur, der 1999 mit dem Spielfilm "Simpatico" (mit Nick Nolte und Jeff Bridges) im Kino debütierte und der im nächsten Jahr Kevin Spacey als Direktor des Londoner Old Vic Theatre ablösen wird, ebenso humorvoll wie würdevoll inszenierte. Mit einem grandiosen Ensemble aus gestandenen Akteuren und Newcomern. Als politische Briten-Sozial-Komödie vom Feinsten. Vom Aller-Besten (= 5 PÖNIs).

Pride
Großbritannien 2014 - Regie: Matthew Warchus, Darsteller: Ben Schnetzer, George MacKay, Dominic West, Andrew Scott, Bill Nighy, Imelda Staunton - 120 Minuten
Filmhomepage

Sie haben zweimal die Goldene Palme von Cannes gewonnen (für "Rosetta", 1999, sowie für "Das Kind", 2005) und einmal dort den Sonderpreis der Jury (für "Der Sohn", 2002) zugesprochen bekommen. "Der Junge mit dem Fahrrad" gewann 2011 den Europäischen Filmpreis für das Beste Drehbuch sowie 2012 den Golden Globe als Bester fremdsprachiger Film. "Zwei Tage, ein Nacht" reichte Belgien für die Oscar-Auswahl zum Besten fremdsprachigen Film" 2015 ein. Die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne zählen zum besten europäischen Personal in Sachen spannendes Autoren-Kino.
Überlege mal, was würdest du machen? Wenn eine Kollegin von der Arbeit vor Deiner Haustür erscheint und bittet, auf die zugesagte Prämie des Arbeitgebers zu verzichten, damit sie /wodurch sie nicht entlassen werden würde? Würdest du zustimmen? Oder wäre dir das egal? Weil dir das Geld, die 1000 Euro, wichtiger wäre? Um Gewissensbisse, solidarisches Handeln ja oder nein oder verständlichen beziehungsweise kalten Egoismus geht es in dem neuen Unter-die Haut-Sozial-Drama der klugen Brüder Dardenne. Und – vor allem – um eine Frau, die an einem Wochenende um ihre berufliche wie menschliche Existenz kämpft.
Existenzkampf einer Angeschlagenen
Sandra (Oscar-Lady Marion Cotillard, die Edith Piaf in "La Vie en Rose) ist angeschlagen. Sandra lebt mit ihrem Mann Manu und ihren beiden kleinen Kindern in einem bescheidenen Haus am Stadtrand der belgischen Stadt Seraing. Die labile Frau leidet unter Depressionen, nimmt Pharmaka und war einige Zeit krankgeschrieben. Am Montag will sie die Arbeit in der kleinen Solartechnik-Firma wieder aufnehmen. Aber dort gab es diese Abstimmung: 14 der 16 Mitarbeiter haben sich dafür entschieden, einverstanden zu sein, wenn Sandras Stelle als Rationalisierungsmaßnahme gestrichen wird und sie dafür mit einem Bonus von eintausend Euro rechnen können. Allerdings gab es hierbei wohl Manipulationen seitens der Chef-Etage, sodass diese Abstimmung am nächsten Montag erneut und geheim durchgeführt werden wird. Sandra hat genau zwei Tage und eine Nacht Zeit, für ihr Ansinnen persönlich zu werben. Und zieht, unterstützt, besser gecoacht von ihrem Ehemann, von Tür und Tür, um mit den Kollegen persönlich zu sprechen. Überzeugungsarbeit in eigener Sache zu leisten.
Das ist die Geschichte. Als aktuelles Thema: Wie geht man mit so etwas heutzutage um. Existiert genügend Solidarität oder sind die Argumente der Gegenseite nicht auch stichhaltig? Jeder hat sein Dasein, seine Existenz aufgebaut. Hat Rechnungen zu bezahlen. Muss selbst sehen, wie man über die finanziellen Runden kommt. Wie und überhaupt wieso soll man denn hier wegen dieser schwächlichen Sandra auf verlockendes Geld verzichten? "Ich würde ja gerne helfen, aber versetze dich doch in meine Position", hört Sandra oft. Und hat man dafür nicht auch – irgendwie – Verständnis? Wenn man an eigene Formulierungen denkt, die man in solch einer Angelegenheit eventuell selbst benutzen würde? In "Zwei Tage, eine Nacht" gibt es keine Bösen (nur der Ehemann einer Kollegin entpuppt sich als aggressiver Unmensch) und keine Guten. Jeder ist (und wird) gefragt, wie er/sie bei dieser Ökonomisierung menschlichen Handelns reagieren und handeln würde.
Drama ohne moralische Keule
Die Brüder Dardenne urteilen und vor allem verurteilen nicht. Keine moralische Keule. Jeder behält seine Würde. Verdient Respekt. Gehört wie anerkannt zu werden. Das Ende ist verblüffend, aber typisch für das Brüder-Paar.
Ein berührendes Gesellschafts-Drama. Das mit dem Kopf spannend hantiert. Wie ein Thriller. Sieg oder Niederlage. Gewinn oder Niederlage. Der verbale Boxkampf läuft. Mit einer erneut sensationellen Marion Cotillard. Die sich mit ihrer Rolle vereint. Völlig zu identifizieren vermag. Als trotzige, fast zusammenbrechende und sich dann doch wieder aufrappelnde Sandra. Ungeschminkt und aufgelöst, mental eigentlich überhaupt nicht in Form für solch eine Wochenend-Arbeit fightet sie – am Rande des Nervenzusammenbruchs - für ihr Anliegen. Die zärtliche Cotillard wirkt ungeheuerlich identifizierbar, verletzlich, porentief. Mit sparsamster, überzeugender, glaubhafter, intensiver Körpersprache. Ihr Spiel ist tief unter die Zuschauerhaut gehend. Empfinden-pur. Die resignierende wie kämpferische Seele von Sandra unaufdringlich wie eindringlich ausbreitend. Balancierend zwischen Unbehagen, Trotz und Hoffnung. Und dabei uns so anregend mit einbeziehend.
"Zwei Tage, eine Nacht" ist ein großartiger, aufregender und sehr denk-spannender, humaner Politfilm-Marathonlauf der Gegenwart; offenbart wahrhaftige - und bedeutungsvoll-weit überregionale - Zeitgeschichte von 2014 (= 4 ½ PÖNIs).

Zwei Tage, eine Nacht
Belgien, Frankreich, Italien 2014 – Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne, Darsteller: Marion Cotillard, Fabrizio Rongione, Olivier Gourmet, Christelle Cornil, Catherine Salée - 95 Minuten
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