Filme der Woche

Biederes Kino und Sozialrealismus am BER

Regisseurin Sylke Enders (l) und Schauspielerin Julia Jendroßek während der Dreharbeiten zu ihrem Film "Schönefeld Boulevard"
Regisseurin Sylke Enders (l) und Schauspielerin Julia Jendroßek während der Dreharbeiten zu ihrem Film "Schönefeld Boulevard" © dpa / picture alliance / Jens Kalaene
Von Patrick Wellinski · 18.09.2014
"Schönefeld Boulevard" erzählt eindrucksvoll die Geschichte eines dicken Teenagers, der noch vor der ersten Passagiermaschine am Flughafen BER abhebt. Sönke Wortmanns Verfilmung von Charlotte Roches Roman "Schoßgebete" enttäuscht dagegen.
Nichts geht mehr rund um den Flughafen BER. Nicht für den Bau, nicht für den Aufsichtsrat und schon gar nicht für die Bevölkerung von Schönefeld, die sich einen gewissen Einsturz der internationalen Welt in das verschlafene Brandenburger Umland wünscht. Nirgendwo wird das so deutlich wie in dem Blick der dicken, 18-jährigen Cindy, die mit ihrem Freund Danny auf und an dem Gelände des BER umherstreift und nicht weiß, wie es nach dem Abitur weitergehen soll.
Gehen oder bleiben? Die Lehrstelle in Baden-Baden zur Hotelfachfrau will sie nicht. Ob sie die letzten Prüfungen überhaupt besteht, steht auch in den Sternen. Da überfahren Cindy und ihre Mutter fast einen fremden Mann. Cindy folgt ihm ins Hotel, um ihm seine Sonnenbrille wieder zu geben und erfährt, dass er ein finnischer Ingenieur ist. Und plötzlich ist alles anders: Das Treffen mit dem Leif öffnet versteckte Sehnsüchte und Träume in Cindy. So langsam beginnt sie abzuheben.
Silke Enders gehört zu den wenigen deutschen Regisseurinnen, die nicht verzweifelt der Wirklichkeit aus dem Weg gehen. Bereits in ihrem Langfilmdebüt "Kroko" hatte sie die Geschichte einer vollkommenen eingebildeten Weddinger Hinterhofschnalle fernab jeder falschverstandenen Kinosentimentalität inszeniert. Im Großstadt-Slang könnte man ihrer Inszenierungsart ohne weiteres "street credibility" attestieren.
Mike Leigh und Ken Loach als Vorbilder
Enders Vorbilder sind die großen Sozialrealisten des europäischen Kinos: Mike Leigh und Ken Loach, mit denen sie sicherlich diese uneingeschränkte Liebe zu ihren authentischen Außenseiterfiguren teilt, die nie wirken als hätte man schöne Schauspieler auf das "Normalmaß" heruntergeschminkt, wie das zum Beispiel bei Andreas Dresen häufig der Fall ist. Nein, bei Enders kommen diese Figuren aus den Milieus, die sie porträtiert, auch weil sie so häufig mit nicht professionellen Darstellern arbeitet. Aber der Aufwand - und das zeigt Schönefeld Boulevard eindrücklich - ist es Wert. Durchzieht doch so diesen Film ein Deutschlandbild, das gegenwärtiger ist als es jede TV-Dokumentation.
Hinzu kommt, dass Enders ihrer Cindy alle Freiheiten lässt sich selbst zu entwickeln, sich selbst einen Weg in die Zukunft zu suchen. Dieser Blick auf Cindy aber auch auf uns hat eine Schärfe, die wir im deutschen Kino schmerzhaft vermissen, aber auch eine Güte und einen Humor, der nichts vom belächelten Gutmenschentum hat. Und es ist vielleicht Silke Enders schönster Scherz, dass am Ende in Schönefeld ein dicker Teenager abhebt, lange bevor es die erste Passagiermaschine machen wird.

Schönefeld Boulevard
Regie: Silke Enders; Darsteller: Ramona Libnow, Daniel Sträßer, Julia Jendroßek
Deutschland 2014, 112 Minuten, FSK: 12

Elizabeth (Lavinia Wilson) steht vor dem wichtigsten Tag ihres Lebens. Sie wird heiraten. Am Meer. Und die ganze Familie wird anreisen. Aber ihr Kleid passt nicht in den Koffer. Also beschließt die Familie mit dem Auto anzureisen und Elizabeth mit ihrem Verlobten am Meer zu treffen. Doch auf dem Weg dahin kommt es zu einem schrecklichen Unfall: Alles drei Geschwister sterben. Die Mutter überlebt schwer verletzt und Elizabeth fällt in ein Loch. Für Trauer hat sie gar nicht viel Zeit, weil sich die Boulevardpresse auf den Fall stürzt und ihr privates Schicksal öffentlich macht.
"Schoßgebete" ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Charlotte Roche, in dem sie autobiografisch von dem Verlust ihrer Brüder am Tag ihrer eigenen Hochzeit berichtete und von dem Kampf gegen die BILD-Zeitung. Wie schon Feuchtgebiete war auch Schoßgebete durchzogen von expliziten Sexszenen. Denn Sex ist für Elizabeth recht schnell der Weg zurück ins Leben. Ein Trostspender.
Unter der Regie von Sönke Wortmann hat das Buch jegliche Ecken und Kanten eingebüßt. Gemeinsam mit Drehbuchautor und Produzent Oliver Berben inszenieren sie diese Geschichte öde und linear und wollen es jedem recht machen. Sprich: Genau das Gegenteil von dem, was Roche mit Ihrem Buch erreichen wollte.
Peinliche Sequenzen in einem seltsamen Zwischenreich
Mit schrecklich kitschiger Popmusik übergießen sie noch dazu ihre peinlichen Sequenzen, die in einem seltsamen Zwischenreich spielen, mit teuren Häusern, mit reichen Menschen mit Wohlstandsdepressionen, die sich starr durch die Gegend blicken.
Reine Schablonen, an denen sich nichts zeigt, nichts entwickelt und mit denen man schon gar nicht mitfühlen kann. Vielleicht ist zu wenig Charlotte Roche in diesem Film, um ihn nur einigermaßen in den Bereich eines gelungen Werkes zu heben.
So wie sich das Projekt jetzt ansieht, vereint "Schoßgebete" die ganze Biederkeit und Behäbigkeit eines deutschen "Qualitätskinos", das man seit Jahren nicht mehr sehen möchten, weil es uns und vor allem auch die Figuren auf der Leinwand chronisch unterfordert. Und das ist vielleicht der größte Fehler dieses Films.

Schoßgebete
Regie: Sönke Wortmann; Darsteller: Lavinia Wilson, Jürgen Vogel, Juliane Köhler
Deutschland 2014, 93 Minuten; FSK: 16



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