Film über die Situation brasilianischer Kindermädchen

"Ich wollte niemanden anklagen"

Die Brasilianische Regisseurin und Drehbuchschreiberin Anna Muylaert (2015)
Die brasilianische Regisseurin und Drehbuchschreiberin Anna Muylaert © imago/alterphotos
Anna Muylaert im Gespräch mit Patrick Wellinski · 22.08.2015
Kindermädchen werden in Brasilien bisweilen fast wie Sklaven behandelt. Mit ihrem Film "Mein Sommer mit Mama" thematisiert Anna Muylaert diese Zweiklassengesellschaft auf humorvolle Weise - und erzählt aber auch von ihrem allmählichen Wandel.
Patrick Wellinski: Können Sie mir sagen, ob es ein konkretes Erlebnis oder eine Erfahrung gab, die den Ausgangspunkt für "Mein Sommer mit Mama" gab, und was war zuerst da, die Idee oder das Erlebnis?
Anna Muylaert: Ja, die Entscheidung darüber zu schreiben kam nach der Geburt meines ersten Sohnes, das ist 20 Jahre her. Ich hatte bereits viel Erfahrung vom Schreiben von Drehbüchern, aber erst als ich das Baby bekam, wurde das Thema Mutterschaft für mich zwingend. Ich begriff, dass die Aufgabe Mutter zu sein überhaupt die größte und wichtigste ist, sie hat etwas Heiliges. Mir wurde plötzlich bewusst, dass es in meiner sozialen Umgebung völlig selbstverständlich war, das Baby einem Kindermädchen zu überlassen und dass diese Arbeit nicht annähernd wertgeschätzt wurde. Mir war schnell klar, dass ich einen Charakter schaffen müsste, der für alles Wichtige steht – für Erziehung und Herzensbildung und das gesellschaftliche Gefälle. Ich schrieb also ein Drehbuch und musste dann erkennen, dass ich nicht reif genug war, um aus dem Stoff einen Film zu machen. Also sagte ich mir, es ist besser zu warten, ein paar leichtere Filme zu drehen, bevor ich es erneut versuche. So entstanden zwei Filme, bevor ich das Projekt vor gut acht Jahren wieder aufgriff.
Wellinski: Das ist sehr interessant, was Sie sagen mit dem Kindermädchen. Diese Figur des Kindermädchens ist schon sehr bekannt im brasilianischen Film, aber wie gewöhnlich oder selbstverständlich ist die Figur denn wirklich in Brasilien in der Gegenwart?
Ein Gesetz gegen das Sklavenartige des Kindermädchen-Jobs
Muylaert: Ein Kindermädchen zu haben ist für die Mittel- und die Oberschicht selbstverständlich. Man muss aber unterscheiden zwischen Kindermädchen und Hausangestellten: Die einen putzen, Kindermädchen und oft auch Köchinnen kümmern sich um die Kinder. In vielen Haushalten tragen sie weiß. Seit zwei Jahren ändert sich etwas, denn Dilma Rousseff, unsere Präsidentin, hat sich für ein Gesetz stark gemacht, das das Sklavenartige dieser Jobs unterbindet. Wer ein Dienstmädchen anstellt, muss ein Gehalt zahlen. Die Arbeitszeit beträgt acht Stunden, danach kann man gehen. Wenn man möchte, dass die Angestellte über Nacht im Haus bleibt, muss man Überstunden zahlen. Diese Regelung hat etwas in Gang gebracht.
Wellinski: Trotz dieses sehr genauen Blickes – und Ihr Film hat ja diesen genauen Blick auf diese Frau, Val heißt sie in dem Fall, ist eine Haushälterin –, Sie beschäftigen sich sehr stark mit unterschiedlichem Klassenbewusstsein, mit gesellschaftlichen Machtstrukturen im heutigen Brasilien. Und trotzdem hatte ich das Gefühl, dass Sie niemandem in Ihrem Film wirklich die Schuld zuschreiben, also weder ist die reiche Familie wirklich schuld daran, noch ist es die Haushälterin, die aus armen Verhältnissen zu der Familie kam und ihre Tochter vernachlässigt hat. Hat denn niemand an der Situation Schuld?
"Das herrische Sozialverhalten stammt aus der Kolonialzeit"
Muylaert: Die Portugiesen natürlich! (lacht) Ich wollte keine Schuldzuweisungen machen, denn mein Film soll ein wirklich breites Publikum ansprechen. Aber natürlich denke ich, dass dieses herrische Sozialverhalten aus der Kolonialzeit stammt und lange eingeübt wurde. Es erscheint völlig normal, das passiert unbewusst, automatisch. Die Leute stellen es nicht infrage. Ich wollte niemanden anklagen. Wenn, dann wäre es unsere Kultur, keine Einzelperson.
Wellinski: Ist es denn etwas, das langsam aufhört, weil auch eine neue Generation anwächst? Ich meine, die Figur der Jessica ist ja jemand, der da hinkommt und diese Strukturen hinterfragt, sie sogar unterläuft, sie will in den Pool, sie will das gute Eis essen, sie will im Gästezimmer schlafen. Löst sich die Klassenproblematik im heutigen Brasilien wie ganz selbstverständlich auf?
Muylaert: Ich weiß nicht, aber wenn sich etwas zum Besseren entwickeln soll, kann die Lösung – das klingt vielleicht etwas dramatisch – nur diese sein: Es muss Bildung für alle geben. Wenn das Bildungsniveau steigt, geht es insgesamt aufwärts in allen Bereichen. Jessica ist ja fast so etwas wie eine Superfrau: Sie tut so, als wäre sie schon eine reife Person und hat wenig Selbstzweifel. Sie ist zur Schule gegangen, sie ist gebildet. Daher kommt ihr großes Selbstvertrauen. Sie fühlt und benimmt sich wie eine Bürgerin, die nicht besser oder schlechter als irgendjemand sonst ist, aber Ansprüche hat. Sie verlangt Bildung und Rechte, die ihre Mutter nicht hat, die ist eine zweitklassige Bürgerin.
Wellinski: Sie definieren diese Konflikte auf der Ebene des Drehbuches, die haben wir jetzt etwas erörtert, aber Sie arbeiten – und das macht den Film wirklich sehr besonders – auch sehr stark mit einer politischen Bildsprache. Also wir sehen Val, wie sie in der Küche ist und manchmal öffnet sich die Tür und wir sehen durch die Tür die reiche Familie am Tisch, und das öffnet natürlich Machstrukturen und politische Räume noch mal auf. Haben Sie bewusst so gearbeitet, war Ihnen das sehr wichtig, dass es auch eine politische Bildebene gibt?
Die Lächerlichkeit der Hausherren war schockierend
Muylaert: Diese Kameraposition ist schon eine besondere: Man schaut durch die Küchentür auf den Hausherren, immer wieder, das war wichtig. Da schlägt der Einfluss des Films "El Custodio" durch. Meine Kamerafrau hat diesen Film 2006 mit Rodrigo Moreno gedreht. Die Kamera fokussiert auf eine Szene, die sich woanders abspielt. Man schaut ja nur durch einen Türspalt. Ich wurde in einem Wohnzimmer geboren und sage nun, es hat 20 Jahre gebraucht, die Kamera vom Wohnzimmer in die Küche zu schieben. Als ich sie dort zum ersten Mal aufbaute, fiel mir plötzlich auf, wie dumm die Hausherren sich benehmen. Ihre Lächerlichkeit war schockierend: Bring mir ein Glas Wasser, bring mir dies, bring mir das! Es geht hin und her – wow, was für ein Spiegel!
Wellinski: Das ist auf jeden Fall eine sehr starke politische Ebene, die Bildebene. Die andere ist Ihr Blick auf die Frauen, und ich dachte mir beim Betrachten des Films, vielleicht ist ja das Problem der Klasse besonders auf der Ebene der Frauen spürbar. Weil Dona Barbara nutzt sie aus, die Macht, die sie über Val hat, die erträgt sie, dann kommt Jessica und versucht diese Macht zu unterlaufen. Da hingegen die Männer, die ertragen das irgendwie und sind damit sehr viel einverstandener, akzeptieren Jessica natürlich auch unter einem erotischen Zeitpunkt hinaus – täuscht mich da der Eindruck?
"Ich probe niemals Szenen"
Muylaert: Ja, vielleicht ist es so, weil wenn man in Brasilien über Kinderpflege spricht, über Mutterschaft und die weibliche Erziehungsarbeit, dann merkt man auf einmal: Männer sind immer abwesend. Vielleicht ist das der Grund.
Wellinski: Ich habe gelesen, dass Sie eine sehr eigenwillige Methode haben, mit den Schauspielern zu arbeiten: Sie erfinden Übungen, erfinden kleine Tests. Wie sehen diese aus und wie beeinflussen Sie Ihren Dreh?
Muylaert: Am schwierigsten war es für mich, Szenen zu erfinden, in denen sich der Charakter einer Figur offenbart, ihre Vergangenheit, ihre Stimmungen. Ich probe niemals Szenen, ich probe nur vor der Besetzung der Rollen. Die große Probe für die Rollen von Jessica und Val haben einen ganzen Nachmittag gebraucht. Die beiden Schauspielerinnen kannten sich noch nicht. Ich habe ein schwarzes Laken mitten im Raum ausgelegt, Jessica und Val jeweils an einer Seite platziert und ihnen ein dickes Skript in die Hand gedrückt mit Telefondialogen aus zehn Jahren. Da ist viel Emotion im Spiel, und wenn es dann ans Set geht, haben sie alles verinnerlicht und ich ziehe das schwarze Tuch weg. Ich mag es nicht, wenn Schauspieler Dialoge sprechen, die ich geschrieben habe. Ich sage ihnen, haltet euch nicht an das geschriebene Wort, überrascht mich bitte.
Wellinski: Haben Sie dahingehend Schauspieler im Kopf, wenn Sie schreiben? Hier muss man natürlich Regina Casé erwähnen, die ein ganz großer Star ist auch in Brasilien, wie ich erst im Nachhinein gelesen habe. Wenn man sie auf der Leinwand sieht, erschlägt sie einen mit dieser Natürlichkeit, die sie hat.
Muylaert: Nein, ich habe nicht für Regina Casé geschrieben, aber sie eingeladen mitzuspielen, nachdem ich die letzte Fassung fertig hatte. Und sie sagte, ich möchte dabei sein. Über mehrere Jahre hinweg haben wir viel gemeinsam gelesen, wir haben diskutiert und wir sind Freundinnen geworden. Vor 30 Jahren habe ich sie zum ersten Mal im Theater gesehen, sie ist eine wunderbare Schauspielerin. Einen tollen Auftritt hatte sie auch in dem großartigen Film "Ich Du Sie" von Andrucha Waddington. Dazu kommt, dass Regina Casé weiße, schwarze und indianische Wurzeln hat – sie ist durch und durch brasilianisch. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass sie woanders geboren wurde. Für kurze Zeit herrschte Ungewissheit, ob sie sich wirklich für die Dreharbeiten freihalten könnte. Oh mein Gott, ich wollte sie auf keinen Fall ersetzen müssen!
Wellinski: Als Ihr Film den Panorama-Publikumspreis auf der diesjährigen Berlinale gewann, war es auch das Jahr des brasilianischen Films auf der Berlinale, und da ich jetzt die Möglichkeit habe, Sie zu fragen: Was ist denn gerade los für brasilianische Filmemacher? Sind die Zeiten gut, Filme zu machen?
"Die Brasilianer haben einen Hang zur Großartigkeit"
Muylaert: Ja, in Brasilien kommen etwa 100 Filme im Jahr heraus und davon sind etwa fünf wirklich gut, und vielleicht haben Sie ja diese fünf gesehen. Das Gros der Filme trifft meinen Geschmack aber nicht. In Argentinien zum Beispiel ist das Niveau höher, es gibt dort Filmschulen, wenngleich nicht jeder Regisseur eine besucht hat. Wenn ich Vorträge in Argentinien halte, merke ich auch, dass das Bildungslevel der Studenten höher ist als in Brasilien. Sie lesen mehr, sie haben Ahnung von Filmdramaturgie, vom Drehbuchschreiben, und außerdem – aber das ist mein persönlicher Eindruck – sind sie nicht so überheblich. Sie drehen kürzere Filme und gehen sorgsamer vor. Die Brasilianer haben einen Hang zur Großartigkeit, sie wollen den bombastischen Erfolg. Das ist vielleicht der größte Fehler. Als der Farbfilm sich vor 30 Jahren durchsetzte, da hatten wir die nächsten zehn Jahre keine Lust mehr auf Kino. Vor 20 Jahren haben wir dann wieder zu filmen begonnen. Wir stehen am Anfang, wie Kinder, und vielleicht werden wir in zehn, zwanzig Jahren reifer sein.
Wellinski: I wish you the best of luck with that and I wish you the best of luck with your movie and thank you very much for your time!
Muylaert: Thank you! Thank you for your nice questions and your attention!
Übersetzt und gesprochen von Sigrid Brinkmann
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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