Fethi Benslama: "Der Übermuslim"

Die fatale Gier nach Idealen

Dem Himmel so nah: Wer es auf der Erde nicht aushält, verlegt sich möglicherweise auf das Göttliche
Der Attentäter von Berlin, Anis Amri, in einem IS-Propaganda-Video: Wurzeln im Himmel statt auf der Erde © picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildenbrand / Matthes & Seitz
Von Sieglinde Geisel · 20.03.2017
Der französische Psychoanalytiker Fethi Benslama wirft einen tiefen Blick in die Seele der Islamisten. Und findet entwurzelte und gekränkte Menschen, die Wurzeln, Wert, Bedeutung und Sinn im Himmel suchen.
Was treibt junge Menschen in die Fänge der Islamisten? Der Aspekt des Unbewussten werde in den aktuellen Debatten ausgeblendet, so der Vorwurf des aus Tunesien stammenden französischen Psychoanalytikers Fethi Benslama. Wenn man verstehen wolle, warum sich junge Menschen aus Europa für den Dschihad entscheiden, müsse man sich ihrer Seele zuwenden.

Vor der Radikalisierung liegen Apathie und Depression

Benslama sieht einen Adoleszenzkonflikt: Der Radikalisierung gehe oft eine Phase der Apathie und Depression voraus, ein Gefühl des eigenen Ungenügens und Unwerts. Das extremistische Ich-Ideal der Salafisten treffe auf eine "Gier nach Idealen".
Der "Übermuslim", wie Benslama ihn nennt, sei entwurzelt und finde eine "Verwurzelung im Himmel": Jugendliche, die sich vorher als "Müll" empfunden haben, sehen sich jetzt als Auserwählte von Gott – und sind bereit, dafür auch zu sterben.
Der Islamismus sei "ein Versuch, einen psychischen Notstand zu überwinden". Diese seelische Not gibt es offenbar nicht nur in den Banlieus: 60 Prozent der geschätzt 5000 Dschihadisten, die in den letzten Jahren aus Europa nach Syrien und in den Irak aufgebrochen sind, entstammen dem Mittelstand, fast die Hälfte sind Konvertiten.
Fethi Benslama analysiert auf 130 Seiten Text nicht nur die Situation der jugendlichen Dschihadisten, sondern auch den Umbruch in der arabischen Welt. Er wirft einen Blick in die Geschichte: In den Zwanzigerjahren etwa wurde sowohl die laizistische Türkei gegründet als auch die islamistische Muslimbruderschaft.

Absorbierung des Politischen durch das Religiöse

Benslama erklärt, warum der weibliche Körper im traditionellen Islam als Bedrohung gilt, und er zeigt auf, dass es sich bei den gegenwärtigen Problemen nicht um einen religiösen Konflikt handelt. Die traditionelle Gemeinschaft, die über verwandtschaftliche Beziehungen funktioniert und in Familien, Clans und Dörfern organisiert ist, steht zur modernen Gesellschaft im Widerspruch, in der Funktionen und Verträge bestimmend sind. Der Islamismus sei eine "antipolitische Utopie": Es gehe nicht um eine Politisierung der Religion, sondern die "Absorbierung des Politischen durch das Religiöse".
Das schmale Buch liefert einen wichtigen Beitrag zur Islam-Debatte. Umso bedauerlicher, dass es sich nicht gut liest. Es mag an der disparaten Materie liegen, dass man den Gedankengängen manchmal nur mit Mühe folgen kann.
Doch es liegt auch an der erstaunlich heterogenen Übersetzung von Monika Nager und Michael Schmid: Überladene Satzkonstruktionen finden sich hier ebenso wie treffende Bilder:
"Sobald die Religion entdeckt wird, schießt der Fahrstuhl des Narzissmus in die Höhe."
In einigen Wochen wird Matthes & Seitz auch eine Übersetzung der "Psychoanalyse des Islam" herausbringen: Fethi Benslamas 350 Seiten langes Standardwerk, das in Frankreich bereits 2002 erschienen ist. Angesichts der Brisanz des Stoffs bleibt zu hoffen, dass es besser lektoriert ist.

Fethi Benslama: "Der Übermuslim. Was junge Menschen zur Radikalisierung treibt"
Aus dem Französischen von Monika Nager und Michael Schmid
Matthes & Seitz, Berlin 2017
144 Seiten, 18,00 Euro

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