Festival

Der Tanzhimmel liegt in Schweden

Die passenden Schuhe für den Swing. Aufgenommen in der Tanzschule Rosenthaler Straße in Berlin-Mitte.
Die passenden Schuhe für den Swing. © picture-alliance / Berliner_Zeitung / Max Lautenschläger
Von Bettina Ritter · 03.08.2014
Sie kommen aus Mexiko, Korea, Brasilien, den USA, Europa und Australien. Jedes Jahr im Sommer zieht es Swingtanz-Begeisterte aus aller Welt nach Schweden, in den 500-Seelen-Ort Herräng, 100 km nördlich von Stockholm. Was vor 32 Jahren mit einer Handvoll Jitterbug-Enthusiasten als Trainingslager begann, zieht inzwischen mehrere Tausend Besucher an.
Herräng, 100 Kilometer nördlich von Stockholm. Das Dorf mit 500 Einwohnern gleicht einem schwedischen Postkarten-Idyll. Grüne Bäume, ein im Sonnenlicht glitzernder See, dunkelrot gestrichene Holzhäuser mit weißen Fensterrahmen. Es ist still, sehr still. Doch einmal im Jahr ist hier die Hölle los. Oder besser: der Himmel. Der Swing-Himmel. Dann kommen tausende Tänzer aus der ganzen Welt in den kleinen Ortund belagern ihn – ganze fünf Wochen lang.
"My name is Su-Chan. / And my name is Chan-Yan. / We are from Korea, Seoul… Wir kommen aus Seoul, Korea. Viele Lindy Hopper haben uns von Herräng erzählt, dass das ein Lindy-Hop-Himmel ist. Und das ist es tatsächlich: Wir können den ganzen Monat tanzen, den ganzen Tag und die ganze Nacht. Und wir treffen Tänzer aus aller Welt. Das ist super."
Korea, Russland, Indonesien, Mozambique, Mexiko, Island oder Brasilien. Im kleinen Herräng treffen sich im Sommer Tänzer aus mehr als 50 Nationen. Und bringen das Dorf, das nur aus ein paar Straßen und einem Mini-Supermarkt besteht, gehörig durcheinander. Schule und Turnhalle werden zum Schlaflager mit insgesamt 400 Stockbetten. Auf den Wiesen stehen Zelte und Wohnwagen.
Um das Folkets Hus, das Gemeindehaus, bauen die Camp-Betreiber eine Stadt in der Stadt: Kleine mobile, rotgestrichene Holzhäusern dienen für fünf Wochen als Rezeption, Klamotten- und Schuhladen, der Retro-Mode der 30er- und 40er-Jahre verkauft, es gibt einen Fahrradverleih mit alten, notdürftig zusammengeflickten Rädern, eine mexikanische Kantine, eine Massage-Praxis, eine Werkstatt und ein Pförtner-Häuschen.
Jonathan: " Es ist einem egal, was draußen in der Welt passiert. Im Hintergrund hört man ständig Swing-Musik, die Leute üben Tanzen oder spielen Instrumente. Überall sind Menschen, man hat gar nicht das Bedürfnis, Kontakt mit der Außenwelt zu haben, mit der Familie oder den nicht tanzenden Freunden, wenn man denn welche hat."
Leben und Tanzen in einer Blase
Die Tanz-Verrückten haben in Herräng für fünf Wochen alles, was sie brauchen: Vollverpflegung gibt es in den verschiedenen Restaurants und Cafés, die nur während des Tanzcamps da sind. Eine Bar im Gemeindehaus, in dem auch die nächtlichen Partys mit Livebands und DJs stattfinden, versorgt ebenfalls mit Essen, Süßigkeiten und schwedischem Leichtbier. Beinahe rund um die Uhr.
Jimmy: "Man ist wie in einer kleinen Blase, der Herräng-Blase, und in der gibt es nur Freude und Verrücktes. Erwachsene können hierhin kommen und Sachen tun, die sonst nur Kinder machen. Sie klinken sich aus ihrem normalen Leben aus und sind verrückt. Und sie machen das, was sie am liebsten tun: zusammen tanzen."
Ausgelassen sein, wie Kinder. Immer wieder sieht man verkleidete Menschen durch Herräng streifen – einen Tiger auf dem Fahrrad, riesige Hüte, bunte Perücken, überdimensionale Sonnenbrillen. Unangekündigt findet eine Wasserschlacht mitten am Tag statt mit Schläuchen, gefüllten Luftballons und Wasserkanistern. Oder halbnackte Männer im Café, die beim Bedienen eine Choreografie zu Techno-Musik zum Besten geben.
Claudia: "Herräng ist Madness! Ich würde es mit Karneval vergleichen. Mit Verkleiden, ständig passieren unerwartet Spontan-Sachen, es ist einfach sehr lustig."
Lennart: "Das Dorf hat sich einer gewissen Art von Freiheit geöffnet. Die meisten Leute, die hierhin kommen, haben zuhause ein gewöhnliches Leben. Und dann kommen sie hierhin und es ist ein bisschen wie auf einer Klassenfahrt und man ist wieder 15."
Lennart Westerlund ist einer der Initiatoren des Camps. Vor 32 Jahren traf er sich zum ersten Mal mit anderen Tänzern in Herräng, um mit einem aus den USA eingeflogenen Choreografen zu trainieren. Damals waren es 25 Teilnehmer, erinnert sich der heute Mitte 50-Jährige.
Lennart: "Als wir mit dem Camp 1982 anfingen, kannte niemand von uns diesen Ort. Wir suchten einen kleinen Platz und jemand sagte, wir sollten mal in Herräng anrufen, die hätten ein Gemeindehaus, und so kamen wir hierhin. Damals hatten wir keine Ahnung, dass wir etwas ins Leben gerufen hatten, was andauern würde. Eigentlich wollten wir nur einen Sommer lang hier üben."
Inzwischen ist das Herräng Dance Camp mit fünf Wochen das längste Swing-Tanz-Camp und mit bis zu 5000 Teilnehmern das wohl größte weltweit.
Frida Segerdahl: "Wir haben jede Woche 500 bis 700 Leute, die Unterricht nehmen. Aber das sind noch nicht alle. Viele kommen einfach für die Partys, und dann gibt es noch ungefähr 100 Freiwillige, die hier in den Küchen oder in der Organisation arbeiten und dafür Unterricht, ein Bett und Verpflegung bekommen. Also, pro Woche haben wir hier bis zu eintausend Menschen."
Geht nicht, gibt es nicht in Herräng
Bei so einem Ansturm ist die Organisation manchmal auch überfordert, gibt Westerlund zu.
Lennart: "Vor ein oder zwei Jahren kamen sehr viele Leute, die nicht angemeldet waren. Und auf einmal hatten wir 100 Betten zu wenig. Früher hätte ich mich nicht darum gekümmert, und hätte gedacht, jemand, der schlafen will, findet schon einen Platz. Aber heute können wir das nicht mehr so machen. Wir haben also die Leute, die ein Bett hatten, gefragt, ob sie es mit jemandem, den sie vorher noch nie gesehen hatten, teilen würden. Oder ob sie in Schichten schlafen könnten. Das ist typisch Herräng. In Herräng sagen die Leute, okay, machen wir."
Typisch Herräng, das ist die so genannte Yes-Culture, eine Kultur des Ja-Sagens. Das Camp versucht, alles möglich zu machen und eine Menge Freiraum zu lassen. Und die Teilnehmer machen mit.
Segerdahl: "Ich werde nie vergessen, als ich in Herräng in einer rieseigen Schlammschlacht war. Wir hatten den ganzen Hof mit Schlamm gefüllt und haben darin gekämpft. Das hat mir sehr gut gefallen. Das hatte nicht unbedingt mit Tanzen zu tun. Aber darum geht es eben in Herräng: Es geht nicht nur ums Tanzen. Man ist irgendwie ein bisschen außer sich."
Hugo: "Hier sind die Tanzzelte. Ist immer ganz nett, hier kann man, wenn Kurse laufen, sich auch hinsetzen und zugucken, was da so passiert."
Hugo ist zum dritten Mal in Herräng. Der Münchner, Mitte 40, zeigt auf drei große, weiße, offene Partyzelte, die mit glattem Holzboden ausgelegt sind. Sie stehen neben der Schule und Turnhalle, ein paar Hundert Meter vom Gemeindehaus entfernt und sind mit professionellen Musikanlagen ausgestattet. Hier findet der Unterricht statt.
Hugo: "Man sieht, wie die internationalen Tanzlehrer, die ja auch meist Weltmeister in so was sind, irgendwelche Wettbewerbe gewonnen haben, wie die Sachen erklären, das ist auch schön."
Tanzen, essen, tanzen, schlafen, tanzen
Etwa 40 Tänzer folgen den Anweisungen der beiden Lehrer. Das Herräng Dance Camp schmückt sich mit den renommiertesten Swingtanzlehrern der Welt, den Stars der Szene. Sie kommen aus den USA, Schweden, Frankreich, Kanada, Australien oder Korea. Im Camp unterrichten sie neben Lindy Hop auch andere Tanzstile wie Boogie Woogie, Balboa, Blues, Steppen oder Authentic Jazz. Und die verschiedensten Stufen von Kindern und Anfängern bis Profis – insgesamt gibt es etwa 40 Stunden pro Tag. Mehr als 200 Stunden pro Woche.
Hugo: "Man hat so einen Plan, wo steht, wann die Kurse des Tages stattfinden, um wie viel Uhr, und oft hat man einen Kurs, der dauert so 70 Minuten, danach ist man ein bisschen geplättet, dann geht man vielleicht frühstücken, dann kommt wieder der nächste Kurs, dann nutzt man die nächste Pause zwischen zwei Kursen für einen kleinen Mittagsschlaf, dann kommt wieder ein Kurs, dann kommt vielleicht wieder ein kleiner Mittagschlaf, dann kommt wieder ein Kurs und vielleicht bleibt noch Zeit zum Strand zu fahren…"
Ein typischer Tagesablauf im Herräng Dance Camp. Drei bis vier Kurse täglich stehen auf dem Programm. Das sind bis zu fünf Stunden Tanztraining pro Tag. Dazu kommen die Partys in der Nacht.
Hugo: "… um 11 beginnt dann langsam der Tanz und das Ganze geht dann bis in die frühen Morgenstunden, oder wie es so schön heißt: From early evening to late morning, also bis in die späten Morgenstunden. Und der Deal ist, bis das letzte Tanzpaar die Tanzfläche verlassen hat oder die Kurse des nächsten Tages beginnen, wird getanzt."
Thomas: "Das geht ja immer super lang. 7.00 Uhr ist ja Usus. Das passiert ja eigentlich jeden Tag. Und weil das um 3.00 Uhr schon wieder taghell ist, kriegst du das gar nicht mit, wie spät das ist. Naja, und dann gehe ich wieder ins Bett so um 6, 7, 8. Je nachdem."
Thomas aus Köln ist zum vierten Mal in Herräng. Er bleibt die gesamten fünf Wochen. Aber er muss Abstriche machen, gibt er zu.
Thomas: "Ja, wenig Schlaf, manchmal schwere Beine, schweren Kopf eher selten, weil so viel getrunken wird ja nicht, aber schwere Beine. Das hat man häufiger. Ich mache immer zwei Wochen Unterricht und die anderen drei Wochen nur Partys, und das geht dann auch, das funktioniert. Aber wenn du Unterricht machst und dann trotzdem bis 7.00 Uhr morgens tanzt, dann kannst du natürlich schlecht um 10.00 Uhr einigermaßen fit wieder im Unterricht stehen."
Fünf Wochen weg vom normalen Leben in Deutschland, das funktioniert nur, weil Thomas selbstständig arbeitet. Und es sich leisten kann. Für eine Woche Herräng inklusive Unterricht, Unterkunft, Verpflegung und Anreise sind 1000 Euro und mehr schnell zusammen. Wie viele Camp-Teilnehmer organisiert Thomas sein Leben weitgehend um Lindy-Hop-Workshops und -Reisen herum.
Westerlund: "Diese Szene ist eine Subkultur. Viele Menschen leben ihr Leben auf der Grundlage des Lindy Hop. Das heißt, es ist die größte Priorität in ihrem Leben. Sie gehen zu Veranstaltungen, arbeiten ein bisschen, und finden neue Veranstaltungen. Es ist heutzutage eine enorm große Gemeinschaft von Leuten aus 50 oder 55 Ländern weltweit."
Eine Subkultur, die ihren Jahreshöhepunkt im Herräng Dance Camp feiert. Hier treffen sich alle. Einer der Hauptgründe ist die Geschichte des Camps. Lennart Westerlund gilt nämlich als der Mann, der den Swing wieder nach Europa gebracht hat. Er ist das Aushängeschild des Festivals.
Lennart: "Ich kam zum Swing in den frühen 80ern. Damals erlebte der Paar-Tanz zu Rock’n’Roll-Musik einen kleinen Aufschwung. Wir nannten das Jitterbug. Nach ein paar Jahren gab mir ein Freund das Buch "Jazz Dance" und ich begriff, dass das, was wir machten, ein afro-amerikanischer Tanz war, der aus der Swing- und Jazz-Ära kam, und dass er aus Harlem in New York kam."
Die Wiederentdeckung des Swing
Die Swing- und Jazz-Ära hatte ihre Hochzeit in den 30er- und 40er-Jahren. Dann wurde sie durch den Rock’n’Roll der 50er- und 60er-Jahre abgelöst und geriet in Vergessenheit. Lennart Westerlund gilt als einer der Wiederentdecker des Swing. Er machte sich damals auf den Weg nach Harlem, um die alten Helden des Swing-Tanzes zu finden und nach Europa zu bringen. So kam er schließlich mit Frankie Manning in Kontakt, dem Tänzer und Choreografen, der als eine der wichtigsten Persönlichkeiten des Lindy Hops gilt, des Tanzes, der gemeinhin als Swing bezeichnet wird.
Westerlund: "Wir haben Frankie 89 zum ersten Mal nach Herräng eingeladen, und er brachte natürlich den Lindy Hop mit. Damals verstanden die Leute, dass das ein anderer, neuer Tanz ist, dass das eine neue Musik ist, Swing, nicht Rock’n’Roll. Er war damals 75, aber er wirkte wie 40 oder 50. Er war ein wahrer Gentleman und er hatte das Camp durch seinen Unterricht, aber auch durch seine Persönlichkeit stark beeinflusst."
Manning, der sogenannte Botschafter des Lindy Hop, besuchte 2007 das Camp zum letzten Mal. 2009 starb er mit 95 Jahren. Herräng hält die Erinnerung an ihn wach: Sein lachendes Gesicht ziert das Logo des Tanzcamps. Außerdem wurde in dem kleinen Dorf eine Straße nach ihm benannt. Aber auch die anderen, noch lebenden Veteranen der Swingtanz-Ära werden hier verehrt und gefeiert. Ehemalige Tänzer wie Dawn Hampton, heute 86, oder Norma Miller, 94, sind Ehrengäste. Bei den täglichen Meetings, einstündigen, von Lennart Westerlund moderierten Shows, sitzen sie auf einer kleinen Empore und nehmen die Huldigungen der jungen Tänzer entgegen.
Chazz Young: "Ich komme nun seit 22 Jahren hierhin und ich habe viel Nachwuchs getroffen. Die Jungen von damals sind groß geworden und sind heute Lehrer. Wenn ich sie sehe, umarme ich sie, ich habe ja miterlebt, wie sie aufgewachsen sind. Das ist toll, ich fühle mich wie ein Onkel."
Chazz Young ist Steptänzer und Sohn der Lindy-Hop-Legende Frankie Manning. Nachdem die Swing-Musik in den 50er- und 60er-Jahren zunehmend unpopulär wurde, hängte er die Stepschuhe an den Nagel und arbeitete – wie sein Vater – Jahrzehnte lang bei der Post. Das Revival der Swing-Musik in den 80er-Jahren und die Einladungen ins Herräng Dance Camp haben auch seinem Leben neuen Schwung gegeben.
"Ich komme aus Harlem, bin dort geboren und aufgewachsen, bin 81 Jahre alt. Und ich bin bis nach St. Petersburg in Russland gekommen. Das kann ich immer kaum noch fassen. Stell dir vor, ich in Russland, und ich unterrichte."
Wie andere ehemalige Tänzer wird Chazz Young von den zahlreichen Tanz-Camps und Workshops rund um den Globus eingeladen, um den Jungen Steppen beizubringen. Bis nach Russland, Malaysia und Korea hat er es geschafft und kann es selbst kaum glauben. Dass der Swingtanz heute wieder groß in Mode ist und die Tanzwütigen ihn zu Tausenden in Herräng lernen wollen, verwundert ihn jedoch nicht.
"Es ist ein fröhlicher Tanz, ein Tanz, der die Menschen zusammenbringt. Die Menschen lieben die Musik. Die Swing-Ära hatte einfach großartige Musik! Eingängig, man wippt automatisch mit den Füßen. Und das ist eigentlich schon alles. Die Leute kommen nach Herräng, um zu lernen, wie man zu dieser tollen Musik von solchen Leuten wie Count Basie, Duke Ellington, Glenn Miller und Benny Goodman tanzt."
Als Bewohner das Camp wieder abschaffen wollten
Rolf Carlsson: "Die Musik mag ich nicht. Aber nach ein paar Tagen höre ich sie gar nicht mehr."
Rolf Carlsson sitzt Zeitung lesend in einem Gartenstuhl vor seinem hellgelb gestrichenen Holzhaus. Das steht direkt neben den Unterrichtszelten, aus denen den ganzen Tag Musik zu hören ist.
"Man blendet das aus und hört gar nicht mehr hin. Aber wenn das Camp dann nur noch ein paar Tage dauert, dann sagen wir alle: Ah, nur noch zwei Tage!"
Carlsson ist 76 und in Herräng geboren. Er hat die Anfänge des Camps vor 32 Jahren miterlebt.
"In den ersten Jahren haben die Betreiber des Tanz-Camps zu wenig Rücksicht genommen. Sie waren sich einfach nicht im Klaren darüber, dass die Geräusche, die Musik und die Stimmen bis über den See gehen. Es war einfach viel lauter, als sie dachten. Deshalb gab es am Anfang Bewohner von Herräng, die das Camp abschaffen wollten."
Inzwischen habe man sich aber zusammengerauft, die Stimmung habe sich geändert, sagt der braun gebrannte Schwede mit den wachen blauen Augen. Stolz zeigt er seinen ausgebauten Keller.
"Hier habe ich ein Zimmer für zwei Personen, eine Toilette, Dusche und ein Kühlschrank für die Gäste."
Auch das Gartenhaus vermietet er an die Tänzer und macht damit ein gutes Geschäft. 2500 Kronen für ein Zweibettzimmer pro Woche, das sind ungefähr 270 Euro. Da es in Herräng weder ein Hotel noch eine Jungendherberge gibt, machen es ihm andere nach, bauen ihre Garagen zu Gästezimmern aus oder fahren einfach fünf Wochen in Urlaub und überlassen den Tänzern komplett ihre Häuser. Je nach Größe und Bettenanzahl verdient mancher dabei bis zu 9.000 Euro und mehr.
Westerlund: "Die meisten Leute hier haben begriffen, dass dieses Dorf mehr oder weniger dem Untergang geweiht ist. Es ist eine alte industrielle Minen-Stadt, aber es gibt schon lange keine Industrie mehr. Die Menschen ziehen hier weg. Es sollte sogar die Schule geschlossen werden. Den Supermarkt würde es ohne uns nicht mehr geben."
Ladenbesitzer: "Wir machen etwa 60 Prozent des Jahresumsatzes in diesen fünf Wochen."
Sagt der Besitzer des einzigen Ladens am Ort.
"Wenn die Tänzer hier sind, haben wir mehr Getränke im Angebot, vor allem Wasser und Cola. Und Schokolade. Nach dem Unterricht brauchen die Leute ja Energie. Außerdem haben wir länger auf. Normalerweise schließen wir um sechs, aber wenn das Tanz-Camp läuft, haben wir bis acht auf, manchmal auch bis zehn."
Romanzen auf und neben der Tanzfläche
3.00 Uhr nachts im Gemeindehaus. Die Party ist in vollem Gang. Hunderte Tänzer toben sich auf den drei Tanzflächen aus. Man sieht Jeans, T-Shirts und Turnschuhe, aber auch schwingende Röcke und Haarbänder, zweifarbige Herrenschuhe, weiße, schweißgetränkte Oberhemden, Hosenträger, Schiebermützen.
Jimmy: "Man ist so glücklich, deshalb wird man nicht müde. Das ist das beste Gefühl, das man haben kann. Man hat eine wirklich gute Tanz-Nacht, alles funktioniert. Es ist schwer zu beschreiben, aber es ist einfach das beste Gefühl."
Johanna: "Bei mir ist es die Musik. Andere Musik macht das so nicht mit mir, aber bei Swing ist es, wenn ein Lied kommt, zu dem ich wirklich dringendst tanzen möchte, ist es mir fast egal, wie es mir geht. Dann tanze ich halt, wenn ich noch kann. "
Die Musik und der Tanz setzen ungeahnte Energien frei, so scheint es. Und obwohl in Herräng exzessiv getanzt und gefeiert wird, spielen hier Drogen und Alkohol keine Rolle.
Hugo: "Leider nein. Die ganzen alten Songs gehen ja sehr oft um Drogen, Alkohol, Sex. Aber all das hat man ein bisschen vergessen, der sportliche Aspekt steht für viele im Vordergrund, muss man auch sagen. "
Trotzdem – fünf Wochen auf engstem Raum, fünf Wochen Körperkontakt, dazu ein Durchschnittsalter zwischen Mitte 20 und Mitte 40 – das schafft durchaus Nähe.
Jonathan: "Ich glaube schon, dass es hier eine Menge Romanzen gibt. Ich habe die Theorie, dass das der Hauptgrund ist, warum die Leute tanzen. Für jeden spielt sich das auf einem anderen Level ab, aber ja, es gibt Liebeleien. Das geht von flüchtigen Begegnungen bis hin zu Leuten, die hier den Partner fürs Leben suchen und finden.
Besonders interessant sei der Dienstagabend, sagt Jonathan. Dann ist Blues-Nacht, und es wird heiß und heißer.
Rebecca: "Ich hab schon mal ne Stunde getanzt mit einem, weil es einfach sehr schön war. Aber ohne irgendwelche Romanzen hinterher."
Thomas: "In Herräng kannst du natürlich immer jemanden daten. Klar, weil hier auch so viele Leute sind, viele von denen sind Singles, da kannst du natürlich immer jemanden daten. Hier so in der Szene ist es natürlich schon so, dass viele mit vielen verbandelt sind, oder mal dann verbandelt sind, dann mal wieder nicht. Das ist schon ganz normal hier."
Herräng bleibt also auch während der fünf Wochen Tanz-Camp ein Dorf. Trotz der Internationalität, trotz der Explosion der Bevölkerung auf insgesamt 5000 Menschen. Das Dörfliche, Intime bleibt gewahrt. Beim Essen wird beredet, wer mit wem wie lange getanzt und wer mit wem in welcher Ecke wie lange geredet hat. Die Menschen, die die Szene bilden, und die sonst über den gesamten Erdball verstreut sind, finden hier einmal im Jahr zu ihrem großen Familie-Treffen zusammen. Mit Omas und Opas – den Swing-Oldtimern, Eltern und Kindern. Denn die Tänzer bringen ihren Nachwuchs mit, der ebenfalls den Lindy Hop lernt. Nach fünf Wochen geht man wieder auseinander, erschöpft, glücklich, und mit viel Schlaf-Nachholbedürfnis. Und man freut sich auf das nächste Jahr, denn die allermeisten kommen wieder.
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