Festival der Kontraste

Von Tomas Fitzel · 25.03.2012
Die türkische Literatur ist internationaler in ihren Themen geworden. So lautet das Fazit vom Start des zweiten Berliner Festivals über die Literatur der Türkei. Der Blick vieler Autoren hat sich erweitert, viele der jungen Literaten suchen sich ihre Themen auch außerhalb des Landes.
Mit dem Vortrag der türkischen Soziologin und Autorin Pinar Selek, die inhaftiert war, gefoltert wurde und seit vierzehn Jahren gezwungen ist, einen absurden Justizkampf zu führen, nahm das Festival einen bewegenden und pathetischen Auftakt. - Was für ein Kontrastprogramm!

Der türkische Übersetzer kam kaum ihrem temporeichen und temperamentvollen Redefluss hinterher. Selek schloss mit einer Erinnerung an das Theaterstück von Eugène Ionesco Die Nashörner. Darin verwandeln sich alle Menschen in Nashörner, bis auf den letzten Schauspieler, der zum Schluss schreit: "Nein ich bin kein Nashorn, ich bin ein Mensch!" Als Selek das Stück sah, war sie vierzehn, gerade hatte das Militär geputscht.

Die Gegenwart der Türkei ist vielschichtig, widersprüchlich. Zum einen ist das Land modern, attraktiv, sogar Kulturexporteur, nicht nur der beliebten Telenovelas, auch auf der Londoner Buchmesse im April ist die Türkei Gastland. Zum andern ließ man in der Volksbühne demonstrativ Sitze frei für die türkischen Verleger und Journalisten, die man zwar gerne eingeladen hätte, die aber derzeit inhaftiert sind. Im letzten Jahr stieg die Zahl der in der Türkei inhaftierten Journalisten enorm. Erst vor wenigen Tagen wurden die beiden Journalisten Nedim Sener und Ahmet Sık freigelassen.

Vielschichtig widersprüchlich ist inzwischen die Literaturszene in der Türkei. Für die Generation um 1980, der Zeit des Militärputsches, zu der auch Pinar Selek gehört, war Kultur und Literatur vor allem links und gleich bedeutend damit, Regimegegner zu sein.

"Aber es gibt auch die jungen Autoren, die es schaffen, in ihren Romanen ganz kritisch zu sein. Aber zwischen den Zeilen muss man da eben lesen können. Und wenn man das kann, dann findet man auch dort eine Art Widerstand, die aber anders gelebt wird."

Inci Bürhaniye, die mit ihrer Schwester Selma Wels gerade in Berlin den Binooki-Verlag für türkische Literatur gegründet hat.

Die jüngeren Autoren möchten vor allem nicht mehr allein durch die Linse der Politik wahrgenommen werden. Dagegen wehrt sich auch Hakan Günday, gegenwärtig einer der türkischen Kultautoren.

"Das Schlimmste ist doch, wenn man als Künstler - egal ob Maler, Sänger oder sonst was - aus einem Land kommt, das vor allem wegen seiner politischen Konflikte in den Nachrichten ist, dann wird man nie nach dem eigenen künstlerischen Standpunkt gefragt, sondern immer nur nach der Politik, wie man dazu steht und was man dagegen unternimmt. Dann fühlt man sich nicht mehr als Künstler, sondern nur als so eine Art Botschafter. Sobald man in einem totalitären Staat lebt, darf man offenbar nicht mehr einfach nur Künstler sein."

Hakan Günday zeigte sich gestern Abend im Roten Salon der Berliner Volksbühne witzig, ironisch und mit großer Leichtigkeit. Dabei ist sein gefeierter Roman Az, auf Deutsch "Wenig" ziemlich harter Tobak. Sein großes Vorbild ist dabei Louis-Ferdinand Céline. Günday beschreibt ohne jede Rücksicht hart und drastisch die sozialen und politischen Verhältnisse in der Türkei, auch den Kurdenkonflikt. Probleme mit der Zensur bekam er aber nur wegen eines älteren Romans über den Militärdienst, aber nicht wegen diesem.

"Weil dies kein Roman ist, der nur von der schlimmen Situation der Kurden erzählt, er kritisiert ebenso die Kurden, ihre Traditionen und ihren Alltag. Wenn ich eine Geschichte erzähle, dann muss dies aus einer Rundumperspektive geschehen."

Sein Roman Az ist auch einem türkischen Autor gewidmet, der sich in den 70igern Jahren ebenso wie er weigerte, sich politisch vereinnahmen zu lassen. Oguz Attay:

"Der hatte nur eine ganz kurze Zeit, in der er geschrieben hatte '70 bis '77, ist früh gestorben, und jeder kennt ihn in der Türkei."

Nochmals Inci Bürhaniye vom Berliner Binooki-Verlag:

"Und wir wollten gern den Anfang machen mit einem Autor, der in der Türkei eine feststehende Größe ist, und so wollten wir den Einstieg bei den deutschen Lesern schaffen."

Junge Autoren, Popliteratur, Krimis und ebenso Klassiker sollen bei ihnen künftig erscheinen. Mit ihrem Programm haben sie sich auch den Abbau von Klischees auf die Fahne geschrieben. Es gibt einen großen Nachholbedarf. Weniger als 300 türkische Bücher waren weltweit übersetzt, bevor die Türkei 2008 als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse 2008 eingeladen war. Inzwischen hat die Literaturagentin Nermin Mollaoglu, die rund siebzig Autoren vertritt, darunter auch Hakan Günday, allein mit ihrer Agentur 600 türkische Titel weltweit verkauft. Außerdem rief sie vor drei Jahren in Istanbul ein Literaturfestival ins Leben. Das erste seiner Art. Bis dahin waren Lesungen unbekannt gewesen.

"Am Anfang war es sehr schwer, das selbst den Autoren klar zu machen, dass sie nur lesen sollten und nicht über ihr Buch sprechen, und sie fragten mich: warum soll ich denn vorlesen? Also, selbst die Autoren verstanden die Idee der Lesung anfangs nicht."

Die türkische Literatur ist auch internationaler in ihren Themen geworden.

"Bis 2005 schrieben die Autoren fast nur über das, was in der Türkei geschieht, aber jetzt spielen viele Romane auch im Ausland, und sie betrachten daher die Türkei mit einem fremden Blick, und das mag ich sehr."

Nermin Mollaoglu freut sich sogar über die wachsende islamische Literatur, denn sie verleiht einem großen Teil der Bevölkerung damit erstmals eine Stimme und ermöglicht über die Literatur den Dialog. Dem schließt sich auch Hakan Günday an:

"Der Schaffensprozess wird dann wichtiger als die politische Aussage. Man sitzt sich als Künstler gegenüber und spricht über die Arbeit, über die Kunst wie man zum Beispiel eine Geschichte erzählt. Und dann bekommt man, auch wenn man den anderen noch immer nicht versteht, zumindest ein Gespür für ihn."