Fest der Sprache

Rezensiert von Jochen R. Klicker · 04.01.2006
Auf fast 1000 Seiten versucht die neu erschienene Biografie über Sören Kierkegaard jede Lebensnische des dänischen Theologen, Philosophen und Schriftstellers auszuleuchten. Joakim Garff ist ein Werk gelungen, das als ein großes Fest der Sprache kongenial neben den Werken des Porträtierten steht.
Mal lobte man die fromme Innigkeit und Schlichtheit seiner "erbaulichen" Texte. Mal bewunderte man ihn wegen seines unduldsamen Existenzialismus, der in dem Slogan gipfelte: "Die Subjektivität ist die Wahrheit." Er spotte und ironisierte; redete mit unerhörter Schärfe, grübelte mit tiefstem Ernst. Und fast immer versteckte er sich hinter Pseudonymen: Von Victor Emerita über Johannes de Silentio bis Hilarius Bogbinder reichen die "Verfasser und Herausgeber", welche die Spur verwischen sollen zum tatsächlichen Autor, dem Theologen, Philosophen und Schriftsteller Sören Kierkegaard aus Kopenhagen. Der war sein gesamtes aktives Leben davon überzeugt und geprägt, dass sich die individuelle Besonderheit jeder Existenz nicht direkt mitteilen kann, sondern nur dichterisch, pseudonym oder ironisch gebrochen.

So machte er es seinen fleißigen und frommen Landsleuten nicht einfach - weder bei der Lektüre seiner Texte, noch mit seinem Kampf gegen die Kirche. Entsprechend fielen die Reaktionen auf seinen frühem Tod aus - er starb 42-jährig: Die Mehrheit des dänischen Bildungsbürgertums, vor allem die der lutherischen Amtskirche Verbundenen, atmete auf, als der "Satan von einem Wahrheitszeugen" nicht länger sein verstörendes schriftliches Unwesen trieb. Jetzt ist eine Biografie erschienen, die auf fast 1000 Seiten versucht, jeden Schritt, jede Lebensnische, jedes Versteck dieses Sören Kierkegaard zu erhellen.

"Gegen die Unterordnung des Einzelmenschen unter den "Sinn" des hegelschen Geschichtsromans betont die Existenzphilosophie die Unreduzierbarkeit der schieren Existenz in Sorge, Angst und Unsicherheit. Diese Seite des Daseins kehrt gegen Hegel schon der dänische Philosoph Sören Kierkegaard heraus, indem er über die Risiken menschlicher Entscheidungen nachgrübelt."

Fünf Zeilen waren dem Bildungspropagandisten Dietrich Schwanitz vor sechs Jahren unter der Überschrift "Alles, was man wissen muss" das literarische, philosophische und theologische Lebenswerk des dänischen Querdenkers wert, 144 Jahre nach dessen frühem Tuberkulose- oder Syphilis-Tod. Dabei hatten viele seiner Bücher europäische Geistesgeschichte geschrieben: Ohne sein "Furcht und Zittern" von 1843 ist die dialektische Theologie von Karl Barth und seinem Schülerkreis undenkbar. Sein erster philosophischer Roman aus dem selben Jahr hat unter der Überschrift "Entweder - Oder, ein Lebensfragment" bis zu Max Frisch die Debatte um die Moral des sinnlich-ästhetischen Genusses bestimmt. Und mit seiner psychologischen Überlegung zum "Begriff Angst" von 1844 hat Sören Kierkegaard die Existenzphilosophen Heidegger, Jaspers und Sartre nachhaltig beeinflusst.

Offenbar ahnte er bereits frühzeitig etwas davon, wie tief er Nachwelt und Nachgeborene beeinflussen würde; denn in seinem Tagebuch notiert er sechs Jahre nach Erscheinen von "Furcht und Zittern" - und da hat er selbst nur noch wenige Jahre zu leben:

"Wenn ich einmal tot bin - allein "Furcht und Zittern" wird genug sein, um meinen Namen unsterblich zu machen. Es wird gelesen, auch in fremde Sprachen übersetzt werden. Man wird fast Grauen haben vor dem furchtbaren Pathos, das da in diesem Buche ist."

Ein Pathos, das an vielen vielen Stellen auch den Stil der Biografie bestimmt, die jetzt der dänische Theologe Joakim Garff vorgelegt hat, seines Zeichens leitender Mitarbeiter am Sören Kierkegaard Research Center in Kopenhagen und Mitherausgeber von Kierkegaards Schriften. Das fast 1000 Seiten starke Kompendium lässt die Rezensenten davon sprechen, dass mit diesem Buch wohl auf lange Zeit "die umfassendste und verlässlichste Darstellung von Kierkegaards Leben und Werk" erschienen ist. Eine Einschätzung, die ich voll teile. Wo ich dagegen nicht zuzustimmen vermag, das sind Kritiker-Bemerkungen, die davon sprechen, man hätte auch gerne noch weitere 1000 solche Seiten mit kulinarischem Vergnügen gelesen. Denn was für ein gebildetes dänisches Publikum im wahrsten Sinne des Wortes "delikat" sein mag, nämlich die detaillierte und intime Darstellung des Goldenen Zeitalters Dänemarks der Jahre 1815 bis 1848, die verliert beim Passieren der Grenze viel von ihrer reizvollen Spannung. Woran selbst der Wechsel in das uns vertrautere Berliner Kultur- und Universitätsmilieu um den alternden Philosophen Schelling wenig ändert. Denn auch Kierkegaard in Berlin liegt allein an der Frage, wie er als Einzelner zu existieren vermag unter dem Erleben von Sünde und Angst. Sein Biograf Joakim Garff:

"Er wollte nicht Ehemann und Pastor, sondern Erotiker und Schriftsteller sein. Und damit hat er aus ästhetischen Gründen eine Schuld auf sich geladen, die sowohl ethisch als auch religiös zu rechtfertigen beinahe unmöglich ist. ... Das Ästhetische ist sein Element, die Lust zur Schrift eine unbezwingbare Leidenschaft. Und das wurde zum Schicksal seiner Braut Regine Olsen."

Wie das Leben von Kierkegaard selbst, so durchzieht die verschmähte Braut Regine Olson, die später einen ranghohen Beamten heiratete, auch die Garff-Biografie. Kierkegaard wird ihr seinen Nachlass vermachen; sie wird das Erbe bis auf ein paar kleine Erinnerungsstücke ausschlagen. Nur seinen zurückgegebenen Verlobungsring hatte sie ihr Leben lang getragen.

"Vergiss den, der dies hier schreibt; vergib einem Menschen, welcher, ob er gleich etwas vermochte, doch nicht vermochte, ein Mädchen glücklich zu machen. Eine Seidenschnur senden bedeutet im Osten Todesstrafe für den Empfänger; einen Ring senden wird hier wahrlich zur Todesstrafe für den, der ihn sendet."

Was die Garff-Biografie trotz ihrer gelegentlich ausufernden Fabulierlust und Erzählkunst des Autors selbst sehr deutlich zu machen versteht: Die Verunsicherung, die Kierkegaard aus seinem eigenen Fürchten, Zittern und Geängstigtsein als Motor für sein Grübeln über die menschliche Existenz gewinnt, vermag er an seine Leser weiterzugeben. Gar als Verlockung zur leidvollen aber wahrhaftigen Selbstverwirklichung bis an die Schwelle zum Tode.

"Kierkegaard nimmt verschiedene Stadien der Selbstverwirklichung an: das ästhetisch unmittelbare, das ethisch allgemeine und die höchste Existenzform, das religiöse Stadium. ... Da aber Sprache nur das Allgemeine ausdrücken kann, lässt sich Existenz in ihren Stadien nur indirekt mitteilen - dichterisch, pseudonym oder ironisch gebrochen. In diesem Sinne entfaltet Kierkegaard ein ganzes System von aufeinander bezogenen Texten, ein stetiges Rollenspiel - mal mit den vom Dichter selbst geschaffenen Pseudonymen, mal mit seiner eigenen Persönlichkeit - vom lebenshungrigen Dandy bis zum eifernden Asketen."

Joakim Garff ist alle Bewunderung zu zollen für ein gelungenes ähnliches Rollenspiel. Schreibt er doch selbst aus den verschiedenen Perspektiven, die ihm "der Vater des Existenzialismus" je nach Thema und Situation vorgegeben hat: als Dichter und Romancier, als Theologe und Philosoph, als Liebender, Eiferer und Verzweifelter. So ist ein Buch entstanden, das als ein großes Fest der Sprache kongenial neben den Werken seines "Forschungsobjektes" steht. Und das die beiden Übersetzer Herbert Zeichner und Hermann Schmid auch im Deutschen mitgefeiert haben. Mit einer bedauerlichen Ausnahme: Für die Kierkegaard-Zitate wurde auf die mittlerweile altfränkisch wirkende Hirsch-Übersetzung aus den 50er Jahren zurückgegriffen, so dass die Sprache des Besprochenen deutlich hinter der Sprachgewalt des Besprechers zurückbleiben musste. Schade eigentlich.


Joakim Garff: Sören Kierkegaard, Biografie.
Aus dem Dänischen von Herbert Zeichner und Hermann Schmidt.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2005.
958 Seiten
24,50 Euro