Fernando Pessoa: "Orpheu"

Wie Pessoa den Sensationismus erfand

Ein Mann steht am 8.2.2012 in der Ausstellung "Vielfältig wie das Universum" über den Schriftsteller Fernando Pessoa in Lissabon vor einem Bild.
Für "Orpheu" erfand Fernando Pessoa verschiedene Ismen und Ideologien. © picture-alliance / dpa / Mario Cruz
Von Jörg Magenau · 29.01.2016
Mit Freunden gab Fernando Pessoa im Jahr 1915 "Orpheu" heraus. Den Ton der programmatischen Avantgarde-Zeitschrift arrogant zu nennen, wäre eine Untertreibung. Gleichwohl vermitteln die Texte die Keimzelle der Poesie des berühmtesten modernen Dichters Portugals.
1915 war Fernando Pessoa bescheidene 27 Jahre alt. Den Ton, mit dem er und seine Freunde an die Öffentlichkeit traten, arrogant zu nennen, wäre jedoch untertrieben. Die junge Avantgarde, als die sie sich verstanden, gab der Welt zu verstehen, dass die portugiesische Dichtung in ihnen ihren Höhepunkt gefunden haben würde. Pessoa, in seinen programmatischen Texten von keinem Zweifel angekränkelt, verteilte den Ruhm und die ästhetische Bürde deshalb auf die Schultern verschiedener Figuren, die er erfand und mit verschiedenen Stimmen für sich sprechen ließ.
Ein Autor als vielstimmiges Subjekt
Pessoa schrieb ja nicht einfach nur Bücher, er maskierte sich mit Schriftsteller-Identitäten, die er eigens mit Biografien ausstattete, um unter ihren Namen zu publizieren. Sie hießen – um nur die wichtigsten zu nennen – Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Alvaro de Campos oder Antonio Mora, und jedem von ihnen könnte die Literaturwissenschaft eigene Untersuchungen widmen. Doch sie alle sind Fernando Pessoa, der sich als multiples, vielstimmiges Subjekt entwarf, weil in ihm viel mehr als nur eine einzige Weltanschauung und eine Schreibweise Platz hatten. Die Welt war – in Europa tobte der Krieg – zu komplex geworden, um sie bloß von einer Seite aus zu betrachten.
Die Zeitschrift "Orpheu" erschien 1915 in zwei Ausgaben mit je 500 Exemplaren. Für eine dritte, die schon in den Druckfahnen vorlag, fehlte das Geld. Wenn Pessoa behauptete, "Orpheu" sei das Tagesgespräch in Lissabon und man zeige auf den Straßen mit den Fingern auf ihn und seine Mitstreiter, dann dürfte auch dieser Eindruck eher der Hybris des jungen Autors geschuldet sein. Gleichwohl ist "Orpheu" so etwas wie die Keimzelle seiner poetischen Programmatik. Der an Orpheus gemahnende Titel ist auch ein Anagramm aus "Europa", denn ein entschiedener Internationalismus war die ideologische Basis aller anderen Ismen, die hier erprobt wurden. Und davon gab es viele: Vom Paulismus über Intersektionismus und Atlantismus zum Sensationismus erfand Pessoa sich für all seine Heteronyme auch gleich die passenden Ideologien.
Synthese aller möglichen Weltanschauungen
Im Zentrum aber steht der Sensationismus, mit dem Pessoa sich uneingeschränkt identifizierte. Der Sensationismus ist eine Art Synthese aller möglichen Weltanschauungen und Kunstrichtungen. Alle haben Geltung und Bedeutung und sollen nebeneinander existieren. Pessoa wollte von allen das Beste herausnehmen und bewahren: Symbolismus, Kubismus, Expressionismus, Konstruktivismus, Futurismus und so weiter und so fort: All die sich bekämpfenden Ismen (und Nationalismen) der Epoche bekamen ihr Recht, vorausgesetzt, dass keiner davon Absolutheit beanspruchte. "Alles auf alle Weise fühlen", lautete der Wahlspruch Alvaro de Campos. So hatte Pessoa im Sensationismus die theoretische Grundlage für sein heteronymisches Gesamtwerk gefunden. In der Zeitschrift "Orpheu" wurde sie entfaltet. Trotz der proklamierten Offenheit sind diese Texte heute aber nur schwer erträglich, da sie permanent proklamieren, erstens, zweitens, drittens aufzählen und einen rechthaberischen, besserwisserischen Ton anschlagen, der zum "Alles fühlen" nicht recht passen will.
Dichtung als unvollkommenes Abbild der Seele
Der schönste Text des von Steffen Dix herausgegebenen, übersetzten und hervorragend kommentierten Bandes steht gleich zu beginn. Er ist 20 Jahre nach "Orpheu" entstanden, und zeigt die andere, empfindsamere Seite Pessoas. Da setzt er sich mit Samuel Taylor Coleridge und dessen Gedicht "Kubla Khan" auseinander, einem Traum-Notat, das nur als Fragment überliefert ist. Denn während Coleridge noch daran arbeitete, wurde er von einem Besucher unterbrochen und fand später die Traumreste nicht mehr wieder. So, sagt Pessoa, ist alle Dichtung: Ein Fragment, ein unvollkommenes Abbild der Seele, weil der störende Besucher immer kommt. Denn er ist ein Teil von uns. Und doch vermittelt wahre Dichtung eine Ahnung davon, was sie sein könnte, wenn dieser Störenfried einmal ausbliebe und jedes Wort identisch wäre mit dem, was es ausdrücken sollte. Und davon träumte Pessoa in seiner multiplen Gestalt.

Fernando Pessoa: Orpheu. Schriften zur Literatur, Ästhetik und Kunst
Herausgegeben, aus dem Portugiesischen und Englischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Steffen Dix
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2016
400 Seiten, 26,99 Euro

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