Feminismus im Wandel der Zeit

20.03.2013
Sabine Scholls "Wir sind die Früchte des Zorns" ist ein emanzipatorischer Frauen- und Familienroman: Von der österreichischen Großmutter, über die französische grand mamam bis zur todeshungrigen Tochter. Eine anspielungsreiche Sittengeschichte im Wandel der Zeit, der die Möglichkeit einer weiblichen Freiheit zu einer noch immer offenen Frage erhebt.
Rund 30 Jahre lang galt das Wort Feminismus als Schimpfwort. Feministisch zu sein war out: Noch die jüngsten Enkelinnen von Alice Schwarzer und Co, die sogenannte Dritte Generation, wandten sich gerade erst wieder gegen die einstige Frauenbewegung. Frauenbefreiung sei vorbei; nun ginge es um gesellschaftliche und ökonomische Teilhabe an den Segnungen eines liberalen Kapitalismus. Sabine Scholls Roman "Wir sind die Früchte des Zorns" kommt da gerade recht - oder eben auch nicht.

Denn Scholl - Jahrgang 1959 - erzählt eine andere, eben feministisch geprägte Sicht der Dinge: die biografisch gefärbte Geschichte einer Frau im 21. Jahrhundert, die Mutter und Künstlerin sein will und an altüberlieferten Rollen- und Gesellschaftsmustern (fast) scheitert. Wie schon in frühen Romanen der in Österreich geborenen, weit gereisten und nun in Berlin lebenden Autorin geht es daher nicht zuletzt um die Frage, wie weibliche Identität konstruiert wird, welche Bilder und Vorstellungen eine Frau zu dem machen, was sie ist, aber eventuell gar nicht sein will.

Die Mütter stehen daher im Mittelpunkt des Romans - auf ihren Spuren entfaltet Scholl einen Erinnerungs- und Familienroman, der vier Generationen, rund 100 Jahre und eine weit gespannte Geografie über zwei Kontinente hinweg umfasst: Da ist die Schwiegermutter Odette, die aus einer in Paris ansässigen Industriellenfamilie stammt und den haut goût der Bourgeoisie noch im österreichischen Sommerhaus verbreitet, dem Kindheitsort der Ich-Erzählerin; da ist deren Mutter, die französische grand mamam, die beständig Affären hatte und ein uneheliches Kind; Odettes Tochter heiratet einen Aristokraten - und wird dennoch am Ende - wie Odette - die Betrogene sein.

Ganz anders dagegen die österreichischen Großmütter Hanna und Martha: beide aus einem bäuerlichen Haushalt stammend, früh auf sich gestellt, die eine als Magd, die andere als Köchin. Die eine findet nur böse Worte für die Enkelin; die andere verwickelt sie in eine Welt der Geschichten. Und dann ist da noch Erika, die Mutter der Erzählerin, die ihrer Tochter nicht allein eine morbide Todessehnsucht vererbt, sondern das Schuldgefühl, eine Frau und Mutter zu sein.

Erst spät - als die eigene Ehe zerbricht - erkennt die Ich-Erzählerin die Kindheitsmuster, auf deren Spuren sie unwissentlich all die Jahre gewandelt ist. Erst dann kann sie das erdrückende Netz der Mütter mit der Macht der eigenen Wörter zerreißen. Das mythische Bild der Spinne bildet daher ein ebenso zentrales und wiederkehrendes Motiv wie archaische Todes- und Fruchtbarkeitsmetaphern.

Scholl liefert anhand der Individualgeschichte nicht nur eine Art weibliche Sittengeschichte im Wandel der Zeit. Auf der Folie von Freuds narrativem Erzählmodell 'Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten' hat sie einen anspielungsreichen Roman erschaffen, in dem sie so luzide wie gewitzt die eigene Identität noch mal neu verortet und zugleich - jenseits des Zorns - die Möglichkeit einer weiblichen Freiheit zu einer noch immer offenen Frage erhebt.

Besprochen von Claudia Kramatschek

Sabine Scholl: Wir sind die Früchte des Zorns
Secession Verlag, Berlin 2013
300 Seiten, 19,95 Euro
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