Feeling Good

Heroin auf Rezept

Spritze, Löffel, Feuerzeug
Spritze, Löffel, Feuerzeug: Utensilien, die zum Heroinkonsum genutzt werden. © picture alliance / dpa / Marcus Simaitis
Von Svenja Pelzel · 05.10.2014
Der Arzt Thomas Peschel hat in Berlin die einzige private Heroinambulanz Deutschlands eröffnet und ist der festen Überzeugung: Heroin ist kein Suchtstoff, sondern für manche Patienten das beste Psychopharmakum. Doch viele Menschen fremdeln mit dem Modell.
Matthias schwitzt. Wie jeden Morgen. Deshalb muss er sofort los zur Praxis von Doktor Thomas Peschel. Matthias braucht dringend sein tägliches Medikament – Heroin.
Wie jeden Morgen steht Doktor Thomas Peschel in der schmalen Küche seiner Praxis, kocht sich einen Kaffee. Er wohnt hier, seine Frau und die Kinder leben in Hannover. Mit dem Kaffee in der Hand läuft Peschel nach vorne, zur Türe aus einbruchsicherem Glas, schließt seine Praxis auf – die einzige private Heroinambulanz in ganz Deutschland.
Matthias steigt in die Straßenbahn. Sein blaukariertes Hemd ist mittlerweile klatschnass vor Schweiß. Seit ein paar Wochen fährt er jeden Morgen und jeden Nachmittag in die Praxis, um dort seine tägliche Dosis Heroin zu bekommen. Wenn er durchhält, ist dieses Leben seine Zukunft. Sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Einmal aussetzen ist unmöglich, eine Dosis Zuhause einnehmen – in Deutschland verboten. Doch jetzt, am frühen Morgen denkt der 46-jährige nicht über die Zukunft nach, sondern nur an sein so dringend benötigtes Medikament:
"Das wird so schön sein. Das was man leidet vorher, kriegt man auch wieder zurück. Ich, der jetzt diesen Weg ganz schön gelitten habe, werde auch wieder sehr belohnt werden. Man hat erst mal einen starken Flash am Anfang und danach fühlt man sich einfach total wohl, so dass einem alles leicht fällt. Das nimmt die Schwere, die man sonst hat. Vielleicht ist das ganz normal, wie ich dann bin. Vielleicht sind andere Leute immer so?"
Es ist neun Uhr. Während Matthias noch Straßenbahn fährt, füllt sich die Praxis von Doktor Thomas Peschel. Knapp 100 Patienten hat er in nur einem Jahr seit der Eröffnung aufgenommen. Fast alle kommen zwei Mal täglich vorbei. Gleich neben dem Eingang ist ein großer Empfangstresen, an dem immer ein Mitarbeiter sitzt. An der Wand steht ein Regal mit vielen kleinen, beschrifteten Plastikbechern. Die ankommenden Patienten suchen ihren Namen, holen aus dem Becher ein Mundstück, pusten in ein Alkoholmessgerät. Wer einen zu hohen Pegel hat, bekommt – um Krämpfe zu vermeiden – nicht die ganze Heroindosis auf einmal, sondern zwei Portionen im Abstand von einer halben Stunde.
Es sind Patienten für ihn – keine Heroin-Junkies
Peschel steht locker am Tresen gelehnt in Karohemd und Jeans, den Kaffee noch in der Hand, begrüßt die Ankommenden. Der Psychiater kennt von jedem hier den Namen, plaudert und scherzt mit allen. Der 43 Jährige lacht gerne und oft. Mit den Männern und Frauen, die an diesem Morgen an der Theke in das Alkoholgerät pusten, spricht er freundlich und respektvoll. Es sind Patienten für ihn – keine Heroin-Junkies, wie für viele andere:
"Wir haben irgendwann festgestellt und gesehen, dass die Patienten eigentlich gar nicht unter einer Suchterkrankung in dem Sinne leiden, sondern eigentlich psychische Störungen aufweisen, die unter der Behandlung mit Diamorphin sich wesentlich verbessern. D.h. es ist eigentlich umgekehrt: die Patienten sind nicht krank, weil sie drogenabhängig sind, sondern sie sind drogenabhängig, weil sie krank sind."
Matthias sitzt mittlerweile in der U-Bahn, nähert sich der Praxis. Er ist sehr blass, völlig verschwitzt und zittert leicht. Trotzdem wird das Lächeln im Gesicht des großen, rundlichen Mannes immer breiter:
"Ach, was freu ich mich, was freu ich mich. Das ist aber auch schön, wenn man so süchtig ist, man hat immer etwas worüber man sich freuen kann. [kichert] Und wenn es nur der nächste Schuss ist, man hat immer etwas, worüber man sich freuen kann. Das ist doch auch herrlich neurotisch, oder?" [Kichert.]
Matthias kichert noch ein wenig über sich und seine schrulligen Eigenheiten. Er macht sich nichts vor über sein Leben, weiß um die psychischen Störungen, von denen sein Arzt spricht und sieht alles mit klarem Verstand. Sein Abitur hat er mit 1,3 gemacht, anschließend Altgriechisch und Mathematik studiert. Aufgewachsen ist er in einer wohlhabenden, gutbürgerlichen Familie in der Nähe von Hamburg und in Kanada. Doch sein Vater, ein Geschäftsmann, ist ein Sadist, schlägt ihn und die Mutter ständig grün und blau:
"Ich kann mich schon erinnern auch als ich so richtig klein war, so sieben oder acht zu Weihnachten, dass ich zu meinem Vater mal gesagt habe, dass ich meinen Opa viel lieber mag als ihn. Und dann hat der mich verdroschen daraufhin, dass ich das gesagt habe. So ging das eben bei uns zu. Meine Eltern haben sich auch oft gestritten. Dann hat sich manchmal nachts meine Mutter in mein Zimmer geflüchtet und dann haben wir die Tür zugemacht, wenn mein Vater wieder so einen Prügelanfall hatte."
Mit 16 das erste Mal in einer psychiatrischen Klinik
Mit 16 muss Matthias das erste Mal wegen schwerer Depressionen in eine psychiatrische Klinik, unternimmt anschließend einen Selbstmordversuch. Mit 18 bietet ihm ein Kumpel Heroin an:
"Ja und dann habe ich das eben genommen. Und dann ging es mir so phantastisch gut, also so ein Gefühl, so dass man Zuhause ist, dass man beschützt ist, dass es einem gut geht, dass man sich wohl fühlt und da habe ich sofort gemerkt: das ist es. Das ist, was ich brauche, das ist, was ich will. Vor der Sucht selber, vor der Abhängigkeit hatte ich nie Angst gehabt. Das war mir klar, dass man davon abhängig wird. Aber das hat mir keine Angst gemacht, sondern dass es verboten ist, das fand ich schlimm."
Matthias vergleicht sich heute mit einem Diabetiker, der auch nicht ohne Insulin leben kann. Allerdings mit einem gravierenden Unterschied: niemand fordert von einem Diabetiker, dass er mal ohne Insulin auskommt.
"Insulin lassen wir mal weg oder Ziel ist: kein Insulin mehr. Das ist so albern. Aber mit so genannten Suchtkranken, da wird ganz anders verfahren."
"Herr Peschel, darf ich kurz ein Bild von Ihnen machen für mein Telefonbuch – von mir? Damit, wenn ich sie anrufe, mein Bild erscheint?"
Thomas Peschel lächelt kurz in die Handykamera, der Patient ist zufrieden. Peschel ist für die Männer und Frauen den ganzen Tag ansprechbar. Seine erste private Heroinambulanz in Deutschland hat in gewisser Weise Modellcharakter. Durch seine Arbeit und seinen Erfolg hier könnte ein Umdenken einsetzen. Mediziner und Bevölkerung könnten Heroinabhängigkeit in Zukunft als Krankheit wie z.B. Diabetes wahrnehmen. Peschel:
"Das ist jetzt auch im Grunde genommen ein Wechsel in der ganzen Sichtweise diese Therapieform. Da müssen erst einmal alle Beteiligten mitkommen. Im Grunde genommen hat man die letzten 30 Jahre versucht, die Patienten vom Heroin weg zu bekommen, sei es durch Drogenersatzstoffe, sei es durch Clean-Therapien. Und jetzt kommt eine Behandlungsform, die gibt den Patienten den Stoff, von dem sie immer weg sollten. Und was sieht man: den Patienten geht es besser."
Modellprojekt in Hannover: Thomas Peschel beaufsichtigt im Jahr 2006 einen "Schuss".
Modellprojekt in Hannover: Thomas Peschel beaufsichtigt im Jahr 2006 einen "Schuss".© picture alliance / dpa / Peter Steffen
Diese Erfahrung hat Peschel bereits in einem Modellprojekt in Hannover gemacht, das vom Bundesgesundheitsministerium finanziert wurde und das er jahrelang geleitet hat. Bundesweit nahmen sieben Heroinambulanzen in Kliniken mit insgesamt 1300 Patienten daran teil. Das Ergebnis dieser Studie ist eindeutig: bei 20 Prozent aller Schwerst-Opiatabhängigen wirkt Diamorphin – so der eigentliche Name für Heroin – wesentlich besser als Methadon, der Ersatzstoff. Die Patienten stabilisieren sich, haben so gut wie keine Nebenwirkungen, einige können sogar arbeiten.
Krankenkassen übernehmen in bestimmten Fällen die Kosten
Fast alle verringern ihre anfängliche Dosis nach ein bis zwei Jahren um 60 Prozent. Seit Oktober 2010 übernehmen deshalb die Krankenkassen in bestimmten Fällen die Kosten, Heroin gibt es seitdem auf Rezept. Jeder qualifizierte Suchtmediziner, der eine Diamorphin-Fortbildung bei der Ärztekammer macht, kann in seinem Bundesland eine Betriebserlaubnis für eine Heroinambulanz wie Thomas Peschel beantragen. Allerdings sind die gesetzlichen Sicherheitsauflagen und damit die Investitionskosten extrem hoch.
Matthias ist endlich angekommen. Der Alkoholtester zeigt wie immer 0,0 Promille. Matthias kann sofort in den Vergaberaum. Maximal sieben Patienten dürfen gleichzeitig rein, mehr Platz ist nicht.
Patrida hat Thomas Peschel seine Praxis genannt. Patrida ist Griechisch und bedeutet Heimat. An diesem Morgen sitzen einige Patienten auf weinroten Sofas in den lichtdurchfluteten Räumen trinken Kaffee und lesen Zeitung. Alle tragen ordentliche Kleidung, keiner wirkt verwahrlost. Einige haben Tattoos und Piercing, hin und wieder kommt jemand, der etwas schrill und schräg gekleidet ist. Es gibt Bücherregale, einen Radiorecorder, Spiele, einen langen Esstisch mit Platz für 20 Leute, Pflanzen, Bilder an den Wänden, farbige Teppiche.
Außerdem hat Peschel einen Flügel angeschafft, eine Tischtennisplatte, einen Kunst- und Werkraum eingerichtet sowie einen Ruheraum. Alles ist hell, sauber, videoüberwacht und alarmgesichert. Das Heroin, für das die WHO den Schlafmohn anbauen lässt, und das vom einzigen Hersteller direkt geliefert wird, lagert zudem im Tresor. Einen kleinen Teil der enormen Investitionskosten, 280.000 Euro, hat das Land Berlin übernommen. Der Senat hatte zwei Jahre vergeblich nach einem Arzt gesucht, der das finanzielle Risiko eingehen wollte und Peschels Entschluss durch die Anschubfinanzierung unterstützt. Trotzdem musste er lange nach geeigneten Räumen suchen:
"Das gibt halt so viele Vorurteile, die manche Leute haben, die muss man erst mal ausräumen. Also es ist viel Überzeugungsarbeit im Vorfeld notwendig. Bei mir hat es ein halbes Jahr gedauert, bis ich einen Vermieter überzeugen konnte. Die meisten haben gesagt, wir finden das ganz prima, was sie da vorhaben, aber dann doch bitte nicht bei uns."
Auch diese Vorbehalte kann Peschel ein stückweit nachvollziehen, denn im Umfeld von Arztpraxen, die den Ersatzstoff Methadon ausgeben, halten sich häufig Dealer und Betrunkene auf. Methadon nimmt nur die körperlichen Entzugserscheinungen, macht aber nicht glücklich. Deshalb konsumieren viele Substituierte oft zusätzlich Alkohol und illegale Drogen. Anders bei Patrida. Hier gibt es keine Szene, weder drinnen noch draußen. Die Praxis liegt in einem modernen Ärztehaus in der Nähe des Flughafens Tegel.
"Hi." – "Hi." – "200?" – "Joo, nehme ich 200." – "Als hätte ich es geahnt." - "Pflaster brauche ich nicht habe ich hier eine Sammlung." – "Okay, alles klar."
"Am schönsten ist es, wenn das der Arzt macht"
Matthias ist endlich am Ziel. Aus dem Regal am Eingang schnappt er sich seine persönliche Plastikschale, geht zum Tresen, der wie ein Bankschalter oben mit Panzerglas gesichert ist. Die Pflegerin legt Matthias ein paar frische Tupfer in die Plastikschale und eine Spritze mit Diamorphin. Matthias geht schnell an einen freien Platz, bindet seinen linken Arm ab, desinfiziert seine Haut, sucht nach einer möglichen Einstichstelle.
"Am schönsten ist es, wenn das der Arzt macht, weil der hat ein unglaubliches Gespür für Venen, was ich nicht habe. Fehltreffer! Also muss ich richtig suchen."
Eine Weile stochert Matthias vergeblich mit der Nadel in seinem Arm herum.
"Hier hatte ich gestern glück. Jaaa und ich hab auch Glück. Ich muss das nur richtig – Ach. Herrlich. Erlöst! Hmmmm ist das schön. Ahhh. Hmmm. Jetzt ist einfach richtig schön jetzt, jetzt geht es einem richtig gut wieder. So jetzt ziehe ich die Spritze raus. Abwurf!! – Jo – so jetzt muss ich hier noch ein bisschen abtropfen, abwischen."
Matthias Gesicht entspannt sich etwas, das Schwitzen wird weniger. Sonst ist ihm äußerlich nichts anzumerken. Seine Bewegungen sind unverändert sicher, als er rausgeht und sich in der Küche einen Kaffee holt. Er lallt nicht beim Sprechen, wirkt weder müde, noch benommen, sondern sieht wach und neugierig aus. Mit seinem Kaffee in der einen, einem Zigarillo in der anderen Hand geht Matthias zur Raucherkabine.
Weil hier fast alle qualmen – inklusive Chef und Mitarbeiter – ist in dem drei Quadratmeter großen Kabuff mit den starken Abluftfiltern immer was los. An diesem Morgen ist Sebastian schon da. Matthias und er haben sich bei Patrida kennen gelernt und sind seitdem eng befreundet. Sie verbringen täglich viele Stunden miteinander, haben ähnliche Erlebnisse hinter sich. Ein wichtiges Gesprächsthema – wie bei allen hier – ist Methadon:
"Man hat immer gemerkt, dass Methadon nicht das richtige ist, da fehlt einfach was. Man ist so zugepackt mit. Heroin ist auch ein Opiat, aber es doch anders, vor allem, wenn man es eine lange Zeit nimmt."
"Ja überlagert alles, belegt."
"Ja Methadon macht müde, schlaff, auch körperlich – wie in einen Teppich eingerollt und irgendwo in eine Fußgängerzone geschmissen, so kann man dann am Leben teilnehmen. So nimmt man das dann war."
Mutter bringt Sebastian ohne Ankündigung in eine Psychiatrie
Sebastian ist ein hübscher Mann, schlank, trägt die Haare ratzekurz, Jeans, schmale Lederbändchen um die Handgelenke. Er ist 36, von Beruf Holzbildhauer und hat – wie alle hier – eine furchtbare Kindheit hinter sich. Die Mutter, hat damals selbst Suchtprobleme, vernachlässigt den Sohn, ist mit ihrem Kind völlig überfordert. Mit neun Jahren erlebt Sebastian das Trauma seines Lebens. Die Mutter bringt ihn ohne Ankündigung in eine Psychiatrie.
"Wir sind da hin zu einem Gespräch, so wurde das auch dargestellt, alles klar, wir sprechen mal mit einem Psychologen, kein Stress und danach fahren wir nach Hause. Ja einen Dreck fahren wir nach Hause. Ich war dann der, der dableiben musste. Und als das klar war für mich, bin ich raus aus dem Zimmer. Überall durch die Gänge, das war wie in so einem Horrorfilm kam mir das vor. In die eine Richtung Türen zu, Türen zu, Türen zu. Dann in die andere Richtung – die sind ganz langsam hinter mir her, der Psychologe – ich den weggeschubst an dem vorbei in die andere Richtung, offene Türen, irgendwas, ein Fester gesucht. Und dann war ich da, ne."
Mit zwölf konsumiert Sebastian die ersten Drogen. Als Erwachsener kauft er täglich für 15 bis 20 Euro Heroin, verdient das Geld für Lebensunterhalt und Droge in einer Bildhauerwerkstatt. Erst als seine Chefin ihn dazu überredet, stattdessen Methadon zu nehmen, stürzt er ab. Seit fünf Monaten kommt er täglich zwei Mal zu Patrida. Seitdem geht es ihm besser.
"In der normalen Substitution ist das eingerissen, dass ich halt nebenher trotzdem noch andere Drogen konsumierte. Erst habe ich angefangen ganz schlimm zu trinken. Das wurde immer mehr. Ich habe jeden Tag einen Kasten Bier getrunken. Echt schlimm. 24 Stunden lang war der erste Griff zur Pulle. Nachts, wenn ich aufgewacht bin, erst mal eine Flasche Bier und eine Zigarette."
Thomas Peschel stellt sich zu Sebastian und Matthias in die Abluftkabine, zündet sich eine seiner vielen täglichen Zigaretten an. Die Methadon-Geschichten der beiden kennt er von allen seinen Patienten. Nur wer über 23, seit mindestens fünf Jahren abhängig ist, mehrere vergebliche Entzüge hinter sich hat und sechs Monate in einem Methadonprogramm war, kann bei Patrida überhaupt aufgenommen werden. So will es der Gesetzgeber. Thomas Peschel gibt offen zu, dass er kein Fan von Methadon ist:
"Was man sagen kann ist, dass Methadon dafür sorgt, dass man keine körperlichen Entzugserscheinungen hat, hat aber nicht die psychische Wirkung. Wenn sie hier schauen, sind die Patienten auch nicht alle euphorisiert, wenn sie sich die Spritze setzen, sondern die Patienten berichten, dass sie sich normal fühlen. Und diese Wirkung hat das Methadon nicht."
Matthias nickt zustimmend. Wenn er heute noch einmal von vorne anfangen könnte, so erzählt er und nimmt einen tiefen Zug von seinem Zigarillo, würde er Heroin durchgehend nehmen. In der Drogenpause, die er zwischen 20 und 30 eingelegt hat, bekam er schwerste Depressionen, musste lange in eine Klinik und sein Studium abbrechen. Methadon hat auch ihn völlig antriebslos und geistig träge gemacht.
"Ich verstehe diese Gesetzgebung gar nicht"
"Das war einfach sinnlos von mir, weil es mir mit Opiaten einfach entschieden besser geht. Das ist mein Mittel der Wahl. Es könnte so einfach sein. Ich verstehe auch diese Gesetzgebung wirklich überhaupt gar nicht."
Stolz erzählt Matthias, dass er es die ganzen Jahre geschafft hat, ohne Straftaten genügend Geld für Heroin zu besorgen – mit Nachhilfe und Flaschensammeln. Jetzt findet er zu ersten Mal in seinem Leben wieder Zeit und Ruhe, um sich nicht mehr nur mit Geld und Dealern zu beschäftigen.
"Im Moment frische ich gerade mein Hebräisch wieder auf, seitdem ich hier angefangen habe. Hier ist auch mein Lehrbuch – Rucksackgeräusch – das steckt hier in dem Rucksack drin, da kann ich ja mal rausholen. Ja und ich bin jetzt mit Lektion zwölf fertig geworden. Das habe ich jetzt, seit ich hier angefangen habe, das muss ich noch verinnerlichen diese Liste hier und dann die Aufgaben zur zwölf dann machen. Und dann habe ich mir noch ein Buch geholt, von dem Geld, das ich jetzt endlich mal hatte. Ich lese gerne Englische Literatur des 19. Jahrhunderts."
Klaviermusik erklingt plötzlich in den Räumen von Patrida. Ein Patient spielt auf dem Flügel. Matthias und Sebastian setzen sich mit ihren Bechern im Aufenthaltsraum auf die Sofas, hören einen Moment andächtig zu. Auch die Mitarbeiter und anderen Patienten halten einen Moment inne, lauschen dem Spiel.
Thomas Peschel kommt aus der Raucherkabine, bleibt im Flur stehen und hört zu. Er lächelt, freut sich sichtlich, dass seine Idee funktioniert, die Menschen bei Patrida wieder zu sich und ihren Begabungen finden. Dafür tut er im Moment eine Menge. Er arbeitet oft zwölf Stunden täglich, ist jederzeit ansprechbar, hat nur wenige Wochenenden frei, sieht seine Frau und die Kinder derzeit nur selten. Zur Entspannung setzt Thomas Peschel sich abends manchmal selbst an den Flügel:
"Es gibt selten Tage, wo ich das Gefühl habe, ich bin überangestrengt oder sehr angestrengt. Ist natürlich auch eine enorme Fülle von Leid, die sich hier versammelt oder auch von Problemen. Aber wenn man innerlich ganz gut sortiert ist und die Dinge auch zuordnen kann, dann überfordern sie einen auch nicht. Und dann kann man hier am Abend auch raus gehen und sagen: so der Tag ist jetzt zu Ende und jetzt widme ich mich noch anderen Dingen, ohne dass ich dann permanent noch darüber nachdenken muss."
Die skeptischen Blicke seiner Besucher werden weniger
Nach langer Suche hat Thomas Peschel jetzt endlich eine junge Psychiaterin gefunden, die ihn demnächst unterstützen wird. Viele Kollegen misstrauen seinem Modell, kritisieren, dass die Patienten für ihre Sucht selbst verantwortlich seien und es ihnen zu einfach gemacht wird, wenn sie den Suchtstoff auf Rezept erhalten. Die herkömmliche Suchtbehandlung hat Abstinenz zum Ziel. Thomas Peschel und seine Kollegen glauben dagegen, dass es Suchtkranke gibt, die das niemals schaffen. Peschel hält deshalb regelmäßig Vorträge oder führt Besuchergruppen durch Patrida. An diesem Nachmittag ist es ein Drogenberatungsteam aus Berlin Neukölln.
"Guten Tag, Hallo, hallo. Wir gehen nach hinten durch."
Über eine Stunde erklärt Thomas Peschel wie sein Team bei Patrida arbeitet, welche Erfahrungen er in den letzten Jahren mit Heroin und seinen Patienten gemacht hat. Die Männer und Frauen, die zum Teil schon viele Jahre mit dem Ersatzstoff Methadon arbeiten, blicken ihn anfangs skeptisch an. Brigitte Sauer:
"Gibt's da Fragen, kritische Anmerkungen? Darf es nur kritisch sein? [Lachen.] Also ich würde auch denken, dass die Heroinambulanz eine Ergänzung zum bisherigen System ist... für jemand, der arbeitet, käme die Ambulanz gar nicht in Frage – geht auch? Wie geht das..."
Die nächste Stunde beantwortet Peschel viele Fragen, führt durch seine Räume, erklärt, wie die Heroin-Vergabe funktioniert, zeigt Tresor, Tischtennisplatte, Flügel, Raucherkabuff und Kunstraum. Die skeptischen Blicke seiner Besucher werden weniger. Beraterin Brigitte Sauer würde am liebsten sofort eine ihrer Klientinnen hier her schicken. Aber Patrida ist voll. Sauer:
"Erst mal bin ich sehr angetan von der Idee und so wie Herr Peschel das gesagt hat, gefällt es mir. Ich finde es auch gut, dass man mal in ganz andere Richtungen denkt. Und ich kann mir vorstellen, dass es funktioniert. Klar, vieles denke ich, das ist erst mal toll, weil es noch neu ist, Dass er in so kurzer Zeit auf einen Klientenstamm von Hundert gekommen ist, zeigt ja, dass irgendwas gut ist. Also erst mal überzeugt's mich."
Auch Brigitte Sauers Kollegen und Kolleginnen sind von dem Konzept eindeutig angetan, finden, dass es eine Alternative ist für hoffnungslos suchtkranke Patienten. Einige bedauern offen, dass es nur eine Praxis wie Patrida gibt, die auch noch voll ist und keine neuen Patienten mehr aufnehmen kann. Sie hoffen, dass noch mehr Suchtmediziner eine Genehmigung beim Land Berlin beantragen. Mögliche Patienten kennen sie mehr als genug. Nach zwei Stunden verlässt die Gruppe Patrida. Peschel ist zufrieden. Manchmal läuft so ein Treffen nicht so gut, können seine Besucher diesen anderen Umgang mit Sucht nicht verstehen.
"Ich finde es schade, aber ich kann es nachvollziehen, dass diese Überzeugungsarbeit zu leisten ist, weil man es ja auch nicht wissen kann. Dadurch dass die Therapie in Deutschland jetzt bei gerade maximal 500 Patienten angewendet wird, gibt es eben keinen. Also ist es auch eine Aufgabe, Kollegen zu informieren, wie das eben aussehen kann."
"Es sind alles Menschen, es sind keine Ungeheuer"
Während Doktor Peschel mit seiner Besuchergruppe beschäftigt ist, hat Matthias sich auf den Nachhauseweg gemacht, sitzt mal wieder in der Straßenbahn. Nachmittags lernt er immer oder macht Besorgungen. Gegen 17 Uhr wird er das zweite Mal aufbrechen, die zweite Dosis in der Praxis spritzen. Abends wird Matthias weiterlernen bis spät in die Nacht hinein. Er überlegt, ob er sein Studium wieder aufnehmen soll, fängt langsam und vorsichtig an, ein paar Zukunftspläne zu schmieden. Eines findet er dabei allerdings irgendwie grotesk: die Vorstellung, dass er sein Leben lang, 365 Tage im Jahr, morgens und abends in eine Arztpraxis gehen soll.
"Das geht nicht. Ich vertraue auch darauf, dass der Gesetzgeber irgendetwas tun wird. Das wird nicht so bleiben. Das war am Anfang bei der Methadonsubstitution auch so. Das war an ganz strenge Maßgaben gekoppelt. Und dann wurde man aufgenommen. Und dann wurde es nach und nach gelockert. Und ich nehme an, man wird es auch mit dem Programm merken. Es sind alles Menschen, es sind keine Ungeheuer, da passieren auch keine ungeheuerlichen Dinge. Und ich denke es wird irgendwann eine akzeptablere Lösung geben, auch billiger. Ist ja auch sehr teuer, so eine Praxis sieben Tage die Woche aufrecht zu halten."
In der Schweiz gibt es Heroin schon seit 15 Jahren auf Rezept. Dort dürfen Patienten das Medikament auch als Tablette schlucken und sogar mit nach Hause nehmen.
Was bewirkt die Heroin-Medikation bei den Kranken, wie verändert sich ihr Leben? Wie geht der Arzt mit dieser enormen Belastung um, einerseits anstrengende Patienten zu haben, andererseits der Kritik von Kollegen ausgesetzt zu sein? Svenja Pelzel hat sich diesen Fragen gestellt und Arzt und Patienten in ihrem Alltag begleitet.
Autorin Svenja Pelzel
Autorin Svenja Pelzel© Svenja Pelzel
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