Faszinosum China

Von Anette Schneider · 29.06.2012
Die Ausstellung "Die chinesische Reise" widmet sich nicht aktueller chinesischer Kunst, sondern den Anfängen der Volksrepublik. " Menschenbilder von Gustav Seitz und Eva Siao" stellt Zeichnungen und Fotografien aus den 50er- und 60er-Jahren vor.
Auf edlem, handgeschöpftem Reispapier hält Gustav Seitz mit schwarzer chinesischer Tusche das radikal Neue fest: Mit wenigen Strichen zeigt er selbstbewusste Bauern, Wasserträger, Ziegen- und Kamelhirten, zeichnet aufrechte junge Männer und Frauen der Revolution. Er verzichtet dabei auf alle erzählerischen Details, legt sein Augenmerk allein auf die Gesichter und Haltungen der Menschen, verleiht ihnen so monumentale Größe.

Die Arbeiten entstanden Anfang der 50er-Jahre auf einer China-Reise. Kurz zuvor hatte der humanistisch gesinnte, figürlich arbeitende Berliner Bildhauer den Weimarer Goethepreis erhalten und war in die Ostberliner Akademie aufgenommen worden. Im Westen, wo Seitz lebte und an der Kunstakademie lehrte, reagierte man darauf empört: Der 43-Jährige wurde entlassen. Denn, so Kurator Thomas Gädecke:

"Es war der Kalte Krieg auf dem Höhepunkt. Ein heißer schien in Sichtweite zu sein. Und der Künstler suchte einfach ein Forum mit Gleichgesinnten. Er war ja Bertolt Brecht verbunden und Heinrich Mann, und manchen anderen von den Geistesgrößen, die sich in Ostberlin versammelt hatten. .... Und Seitz ist dann mit seinem Atelier von Westberlin nach Ostberlin umgezogen. Und kam dann in der Akademie der Künste ganz bald zu der Ehre, einer Delegation anzugehören, die unter der Leitung der Dichterin Anna Seghers nach China zu reisen vorhatte. Und das war 1951. Zwei Jahre nach Gründung der DDR. Und zwei Jahre nach Gründung des rotchinesischen Staates. Also in einer ungeheuren Aufbruchsphase."

Gut sechs Wochen dauerte die Reise, die die Delegierten über Moskau nach Peking, und von dort nach Shanghai und in die Mongolei führte. Auf ihr zeichnete Seitz nicht nur, er fotografierte auch, hielt Dorfversammlungen fest, alte Monumente, die ersten Straßenbahnschaffnerinnen der chinesischen Geschichte, oder junge Menschen an der Universität, die nun nicht mehr nur der Elite vorbehalten war.

"Seitz geht mit ganz offenen Augen durch diese Welt, und begrüßte all das, was an Erneuerungen und freudigem Aufbruch zu bemerken war: Die Bodenreform, dass die Bauern Land erhalten haben! ... Das hat er doch enorm begrüßt. Er hat ja auch mit der Delegation ... die Staatsführung getroffen. Er hat dann Mao gesehen: 'Abends, 19 Uhr, Mao Tsetung sehr beeindruckt. Später gab es mit ihm und Chou En-Lai ein Abendessen. Das sind wunderbare Menschen, Menschen, die die Menschen von der Sklaverei befreien'."


Auch die Fotografin Eva Siao rückte den Aufbruch in ein neues Zeitalter ins Bild. 1911 in Breslau geboren und 2001 in Peking gestorben, war die Jüdin bereits 1930 ins schwedische Exil geflohen. Einige Jahre später lernte sie auf einer Reise in die UdSSR ihren künftigen Mann Emi kennen.

"Emi Sia war kommunistischer Funktionär und ein Weggefährte von Mao Tsetung. Und sie ist mit dieser Bewegung mitgegangen. Und war dann - vor allem in den 50er-Jahren - als Fotoreporterin und Bildjournalistin tätig."

Eva Siao interessierte sich nicht für die großen Aufmärsche und Militärparaden, die ihre westlichen Kollegen damals gern fotografierten. Sie dokumentierte den gesellschaftlichen Wandel von innen heraus, zeigte die Veränderungen des Alltags: Bauern in der Eisenbahn, die vermutlich erstmals mit dem Zug fahren, Arbeiterinnen bei einer Besprechung unter freiem Frühlingshimmel, staunende Schulkinder, die den Sommerpalast besichtigen, ihren Sommerpalast.

Sie hielt Straßenszenen, Handwerker, Märkte fest. Und so alltäglich uns die Szenen erscheinen mögen, stets sind sie auch symbolhafte Bilder für den grundlegenden gesellschaftlichen Wandel, für das Selbstbewusstsein und die Würde der neuen Klasse: Etwa, wenn sie einen jungen Mann zeigt, der mit seinem Sohn in großartiger Selbstverständlichkeit durch die Verbotene Stadt geht, als sei es schon immer seine gewesen. Oder wenn sie Schauspieler der Peking-Oper fotografiert, die nun für alle spielen.

"Sie wollte auf eine verdichtete Weise die Wirklichkeit rüberbringen. Wenn man also einen Schauspieler der Peking-Oper sieht, wie er sich vor dem Spiegel schminkt, und ein zweiter Winkelspiegel sein Gesicht aus einer anderen Perspektive noch zeigt, dann ist das eine ganz intensive Art, diesen Moment, diese Verbindung zwischen alter Tradition und der Wirklichkeit der 50er-, 60er-Jahre zu bringen."


Vor allem aber wurden ihr junge Menschen - Kinder, Schüler und Studenten - zu Sinnbildern des Aufbruchs in eine neue Gesellschaft. Eva Siao arbeitete für die nationale chinesische Bildagentur, belieferte auch TASS, die sowjetische Bildagentur, und entwickelte für DDR-Verlage zahlreiche Fotobände über China. In der Bundesrepublik wurde ihre Arbeit bis 1989 ignoriert. Wirklich bekannt sei sie im Westen bis heute nicht, so Thomas Gädecke. Völlig zu Unrecht, wie die Gottorfer Ausstellung jetzt zeigt.
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