Fastfood und Übergewicht

24.06.2006
Es geht ein Gespenst um in Deutschland: die Angst, dick zu werden. Das Wort "Übergewicht" löst inzwischen die gleichen panischen Reaktionen aus wie einst das Auftreten von AIDS. Schenkt man den Medien Glauben, dann gibt es außer einigen Geschlechtskrankheiten wohl kaum noch ein schlimmes Leiden, das nicht durch "überflüssige Pfunde" verursacht oder verschlimmert würde.
Die Botschaft ist klar: Gegen diese Wohlstandssünde hilft keine Moralpredigt mehr und keine eheliche Treue. Nur wem es gelingt, seinen inneren Schweinehund tagtäglich aufs neue in seine Schranken zu weisen, nur wer konsequent auf kulinarische Verlockungen im Schlaraffenland verzichtet und eisern um den Häuserblock joggt, hat die Chance, eines schönen Tages mit einem schlanken Körper einen lauschigen Platz im Altersheim zu ergattern. Und wem das egal ist, der wird zum Schuldigen, weil er mit seinem schweren Körper der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem eine schwere Last auferlegt.

Die Kinder trifft es besonders hart. Denn sie werden, so verkünden Experten, Therapeuten und Politiker, noch vor ihren Eltern sterben. Ihre Kassandrarufe untermalen sie mit präzisen Zahlen.
Zum Beispiel: "Von den Kleinkindern sind 17 Prozent der Jungen und 16 Prozent der Mädchen überernährt, im Schulalter ist bereits ein Viertel der Kinder zu dick." Von diesen sei fast jedes zweite Kind "hochgradig adipös". Was mag wohl aus der nächsten Generation werden, wenn wir nicht energisch dagegen vorgehen? Vorsicht: Wir brauchen gar nicht zu spekulieren, denn das Zitat ist nicht der aktuellen Diskussion entnommen – es stammt aus dem Jahre 1976. Als Ursache erkannte damals der Ernährungsbericht der Bundesregierung, die Kinder würden von ihren Müttern "zur unkontrollierten Vielesserei erzogen". Ja, sie bekämen von ihren Eltern sogar "Süßigkeiten in die Hände". Kein Wunder, wenn sie alsbald aus allen Nähten platzten. Schon damals die gleichen Phrasen, die gleichen fragwürdigen Zahlen und die gleichen Ängste.

Klappern gehört nicht erst seit heute zum Geschäft der Schlankheitspropheten. Auch die Schuldzuweisungen an die Eltern haben Tradition. Und so höhlt steter Tropfen auch das Urgestein des gesunden Menschenverstands. Durch alle Zeiten und Kulturen war die Menschheit der Meinung, je unbekümmerter ein Kind isst, desto besser gedeiht es. Nun ist auf einmal das Gegenteil wahr. Der Erfolg der Krankbeter ist beeindruckend: Inzwischen hält sich schon jede zweite Zehnjährige – darunter nicht wenige schlanke Mädchen – für zu dick. Sie glauben nicht mehr an Feen und Engel, sondern an Kalorienreduktion und Cola Light. Viele Kinder und noch mehr Jugendliche haben bereits eine Diät hinter sich, andere nehmen Abführtabletten oder erbrechen sich, um sich und ihren Eltern die Schande des Dickseins zu ersparen. In der Sesamstraße kamen Krümelmonsters Kekse auf den Index. Er muss nun Karotten knabbern und wird von einer sprechenden Aubergine über gesunde Ernährung belehrt. Die Wirkung bleibt nicht aus: Aus unbefangenen Kindern werden angsterfüllte Esser. In den USA würden sich schon Fünfjährige lieber einen Arm amputieren lassen, als dick zu sein.

In Deutschland nähert sich die Lebensqualität dicker Kinder der "von stigmatisierten Krebskranken", so Bärbel-Maria Kurth vom Robert-Koch-Institut. Schon werden in deutschen Tageszeitungen Kinder, die nicht mehr dem Schönheitsideal der Redaktion entsprechen, mit Balken über den Augen abgebildet. In Düsseldorf fahndet eine "Fitness-Polizei" in den Schulen nach bewegungsfaulen Schülern und informiert die Eltern über deren "motorische Defizite". Auch Bewegung ist, ähnlich wie das Essen, nicht mehr unbefangene Freude, sondern Pflicht und Zwang: der Gesundheit zuliebe. Die Folgen sind aus den Erfahrungen der Vergangenheit vorhersehbar: Aus Kindern, die man zum Sport nötigt, werden bekanntlich unsportliche Erwachsene.

Wo die Angst wächst, wächst auch die Zahl der Experten, die Ratschläge, Mittelchen und Therapien verkaufen. Die Kunden – lieber werden sie natürlich "Patienten" genannt – erwarten oft nicht einmal ernsthaft, davon abzunehmen. Es geht häufig um etwas ganz anderes. Wer Esssünden begangen hat, wer noch dazu jeden Tag aufs neue rückfällig wird, ist dankbar um jeden Ablasshandel, der es ihm erlaubt, seine Seele von der kulinarischen Schuld zu befreien, die er beim letzten Abendessen auf sich geladen hat. Je teurer, desto besser, desto glaubhafter die Bereitschaft zur Sühne. Man will sich schließlich nicht vorwerfen lassen, nichts gegen seine schlechte Form unternommen zu haben.

Angesichts der brummenden Umsätze der Abspeck-Branche und der Begehrlichkeiten der beteiligten Berufsgruppen war es nur eine Frage der Zeit, bis diese ihre Erzeugnisse als Mittel zur Rettung der Welt ausloben würden. 1997 war es endlich so weit. Die Vereinten Nationen erklären Fettleibigkeit zur Epidemie, zu einer globalen Gesundheitsbedrohung. Bis dahin hatten sich die internationalen Kommissionen noch der Unterernährung gewidmet, und gebetsmühlenartig darauf verwiesen, dass der Welthunger von Jahr zu Jahr mehr Todesopfer fordere – insbesondere unter den Kindern. Nun behaupten die Experten, auch Menschen in den Hungerregionen seien teilweise schon zu fett. Eine Epidemie an Übergewicht habe nun auch die Dritte Welt erfasst. Nun brauchen auch sie Diätnahrung, Kalorientabellen und Ernährungsberater.

Das Thema "Dicke" betrifft uns alle. Wir erfahren es am eigenen Leibe, schließlich nimmt jeder im Laufe seines Lebens zu. Da wir diesem völlig natürlichen Vorgang mit ähnlichem Erschrecken begegnen wie dem ersten grauen Haar, begleitet viele von uns bei jedem Bissen das schlechte Gewissen. Es verleidet uns fröhliche Mahlzeiten und verdirbt uns die Freude am Sattessen. So macht die Sorge um das Gewicht viele Menschen regelrecht krank. Viele vertragen die gesunde Kost nicht und reagieren mit schweren Verdauungsstörungen. Andere entwickeln ein zwanghaftes Verhältnis zum Essen bis hin zum Krankheitsbild der Orthorexie, der Essstörung der übertrieben auf gesunde Ernährung Fixierten. Kinder können solche Schlankheitskampagnen sogar in den Tod treiben, denn sie reagieren auf den gesellschaftlichen Druck nicht selten mit lebensbedrohlichen Essstörungen. Doch diese Toten zählt niemand. Ihre hilflosen Eltern dürfen sich nicht einmal beklagen, sonst trifft sie der Bannstrahl einer empörten Öffentlichkeit, die dies allenfalls als Beweis für die Notwendigkeit weiterer Kampagnen betrachtet.

Dieses Buch will der vermeintlichen Seuche Übergewicht und den viel beschworenen Gefahren durch die Extra-Pfunde auf den Grund gehen. Es will Licht in die düsteren Abgründe und Machenschaften von käuflichen Experten und parteiischen Interessengruppen bringen, die sich als Abspeckgurus der Nation darstellen, nur um mit den Ängsten der Menschen Geschäfte zu machen. Doch gravierender als die merkantilen Folgen sind die Verwundungen der Seele, insbesondere von Kindern, die schutzlos eifernden Ernährungstherapeuten und ihren gestörten Körperbildern ausgesetzt sind. Vor allem diesen Kindern und ihren Eltern ist dieses Buch gewidmet.

Vorwort aus : "Esst endlich normal" von Udo Pollmer, erschienen bei Piper. ISBN: 3-492-04791-2