Familienroman

Vom Rhythmus der Pflanzen gehalten

Eine Person in Arbeitshosen und Gummistiefeln geht an einer Reihe Blumentöpfe mit kleinen Blaufichten vorbei. Die Beine sind nur bis zum Oberschenkel zu sehen.
Junge Blaufichten © dpa / picture alliance / Sebastian Willnow
Von Jörg Plath · 23.07.2014
Die knapp 50-jährige Marianne hat einige Todesfälle zu verkraften. Halt gibt ihr die Arbeit in ihrer Baumschule in einem Alpendorf. Wie auch ihre Freundin Siri, versucht sie sich der Familie zu erwehren, die sie zu bloßen Erbinnen macht - um zum "Ich" zu finden. Reitzers aus der Zeit gefallener Roman ist auf beeindruckende Weise gelungen.
Dieses Buch versetzt den Leser in einen anderen Zustand. Angelika Reitzer, 1971 in Graz geboren, erzählt zwar zunächst nur vom Alltag einer knapp 50-jährigen Frau, fesselt jedoch durch Dichte, Intensität und Atmosphäre bei völligem Verzicht auf Dramatisierung und Ironisierung, Dorf- und Dialektfolklore. Marianne führt eine Baumschule mit sieben Angestellten in einem winzigen Alpendorf. Sie lebt mit der Großmutter im großen Haus Lex, dem Haus der Eltern, das die Haushälterin ihrer Kindheit besorgt, und wird von der zahlreichen Verwandtschaft mitsamt wechselnder Partner immer wieder für Tage oder Wochen besucht. Zu Beginn des Romans stirbt die Großmutter, ihr folgt ein Freund, dann eine Freundin Mariannes. Auch von den etwas zahlreichen Toden erzählt Reitzer bemerkenswert unsentimental, gleichzeitig distanziert und emphatisch. Es sind Schicksalsschläge. In diesem österreichischen Seitental weht Stiftersche Luft. Erstaunlicherweise wird auch Auto gefahren.
Sie hat Schwierigkeiten "ich" zu sagen
Marianne berührt das Sterben der Freundin viel mehr als das der Großmutter. Immer aber wird sie vom Rhythmus der Arbeit, der Kultivierung der Pflanzen, gehalten – und vom Gefühl der Einsamkeit. Sie trauert dem letzten Freund Eric nach, hält den Kontakt zu ihrem in der Ferne studierenden Sohn und erwehrt sich der Übergriffe anderer, die zu wissen meinen, wie sie die Baumschule oder ihr Leben führen solle. Ihre Mutter, eine narzisstische Alt-68erin, gab sie früh in die Obhut der starrsinnigen Großmutter, um zu reisen. Alle in der Familie gingen und gehen fort, die Großeltern in den 30er- und 40er-Jahren sogar bis nach Tanger. Nur Marianne bleibt im Haus Lex und versucht, Wurzeln zu bilden wie ihre Pflanzen. Sie klagt nicht übers Verlassensein, sie hat nur Schwierigkeiten, "ich" zu sagen.
Reitzers Erzählerin ist Marianne nah, manchmal schlüpft sie behende in sie. Ruhig wird der Tag aus präzis geschilderten Einzelheiten erbaut. Stets springt die Erzählerin in die Situation und erläutert nichts. Nähe und Unmittelbarkeit schafft sie durch die Ellipsen der täglichen Verrichtungen, Begegnungen, Wortwechsel, Gedanken und Erinnerungen. Es sind, so sagt es die sterbende Freundin, eine Schriftstellerin, Räume und Flächen, nicht Straßen, Routen oder Pfade, in denen sich die Verfassung Mariannes ausdrückt.
Vom Ende her erweist sich die kluge Konzeption des Romans
Und dann gibt es in diesem gleichsam vom Rand aus erzählten Familienroman mit einem Mal einen zweiten Teil, der von Siri erzählt, einer vorher nur knapp erwähnten Freundin Mariannes. Mit ihr verlässt Reitzer die flächige Gegenwart. Sie schildert Siris Leben, die Kindheit in der DDR, die Flucht mit den Eltern über Ungarn in die Bundesrepublik, die Rückkehr nach 1989 in die neuen Bundesländer, das Kunststudium in den USA. Zeitgeschichte und Welt werden geschickt, aber letztlich konventionell eingebunden. Vom Ende her allerdings erweist sich, wie klug der Roman konzipiert ist: Die Freundinnen sind, daher wird auf denkbar entgegengesetzte Weise von ihnen erzählt, Spiegel füreinander. Beide erwehren sich der Familie, die sie zu bloßen Erbinnen macht, um endlich zum "Ich" zu finden. Über weite Strecken ist dieser wie aus der Zeit gefallene Roman Angelika Reitzer auf beeindruckende Weise gelungen.

Angelika Reitzer: Wir Erben. Roman.
Jung und Jung, Salzburg/Wien 2014
343 Seiten, 22,90 Euro

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