Familiengeschichte

Eine Kiste voller Wahrheiten

Der israelische Buchautor Ilan Goren
Der israelische Buchautor Ilan Goren © Ksenia Bolchakova
Von Igal Avidan · 20.06.2014
Eigentlich wollte Ilan Goren über seine Erfahrungen als Reporter ein Buch schreiben. Doch dann holte ihn die deutsche Vergangenheit seiner Großmutter ein - und deren streng gehütetes Geheimnis.
Ilan Gorens Mutter Dorit liegt im Sterben und schwelgt in Erinnerungen an ein goldenes Berlin, in dem ihre Großeltern ein zielgerichtetes Leben geführt hatten – mit Disziplin, harter Arbeit und Pünktlichkeit. Als sie stirbt, kommt der damals 36-jährige Fernsehjournalist Ilan Goren im Oktober 2009 nach Berlin, offiziell, um als Europakorrespondent des israelischen TV-Senders "Arutz Esser" seine Karriere zu fördern.
"Womöglich würde diese Stadt einen Teil meines Schmerzes über ihren Tod in sich aufnehmen."
Daher stürzt er sich in die Arbeit: Er interviewt alte Nazis, trifft Anarchisten, die die Gentrifizierung in Berlin durch Nacktauftritte bei Besichtigungen von Luxus-Wohnungen bekämpfen, und er begegnet einmal ganz spontan Bundeskanzlerin Angela Merkel, die ganz allein auf einem Parkplatz ihren Dienstwagen sucht – ein Sicherheitsskandal!
Im Juni 2011 streicht der klamme israelische TV-Sender die Stelle des Auslandsreporters. Da Ilan Goren nicht zurück nach Israel will, wird er entlassen. Noch am gleichen Tag erfährt er, dass der Ullstein-Verlag von ihm ein lustiges Buch voll mit Anekdoten über seine Begegnungen in Deutschland veröffentlichen will.
"Kurz nachdem ich mit dem Schreiben begonnen hatte, rief mich jemand an, der sich als Nachbar meiner verstorbenen Großmutter vorstellte, über die ich als Kind immer wieder zu hören bekam. Er sagte, er habe eine Kiste meiner Oma, Jutta Pelikan. Darin seien viele Fotos, Tagebücher und Briefe von ihr. Er fragte, ob er mir diesen Kasten schicken solle?"
Gorens Mutter verleugnete ihr Jüdischsein
So beginnt Ilan Gorens zweite Recherche: eine Ahnenforschung in Deutschland. 1932 emigrierten seine Urgroßeltern aus Berlin zusammen mit ihrer neunjährigen Tochter nach Palästina. Jutta Helberg wuchs in Haifa auf, heiratete und brachte zwei Töchter auf die Welt. Eine von ihnen war Ilan Gorens Mutter.
"Eines Tages ging Jutta Helberg jedoch auf einmal weg – mit einem Rettungsschwimmer aus Westdeutschland, den sie auf dem Strand getroffen hatte. Für ihn verließ sie 1953 Israel und ihre Familie. Viele Jahre späterlegte sie ihre jüdische Identität ab. In ihren Briefen verleugnet sie diese dann. Es war schwer zu lesen, wie wütend und aggressiv sie gegen die Jüdischkeit und gegen Israel polterte."
Zu Hause in Israel nannte man Großmutter nur "diese Frau" oder "Jutta". Die Kinder durften das Wort "Oma" niemals verwenden. Juttas Präsenz in der Familie beschränkte sich auf seltene Anrufe mit gepresster Stimme. Ein einziges Mal trafen sich die Oma und die Mutter - nach 20 Jahren. Das Treffen in Münster dauerte nur wenige Stunden und dabei flossen viele Tränen, erinnert sich Ilan Goren, der als Teenager seine Mutter begleitete.
"Nach Juttas Tod reiste meine Mutter zum letzten Mal, um Jutta zu bestatten – auf jüdische Art. Meine Mutter war damals, 2008, schon krebskrank, das war ein Jahr vor ihrem eigenen Tod. Sie hinkte bis zum frischen Grab des kommunalen Friedhofs, wo sie das jüdische Totengebet Kaddisch der Waisen für ihre Mutter sprach und sofort nach Israel zurückkehrte."
Ein erstaunlicher Zettel
Geblieben ist nur eine schwarze Kiste mit Juttas Habseligkeiten, die Ilan Goren in seinem Berliner Wohnzimmer aufmacht. Er hofft darin Antworten auf die Familiengeheimnisse zu finden – in den Fotoalben zum Beispiel: seine Urgroßeltern posierend vor dem Hintergrund der Synagoge in der Oranienburgerstraße. Er findet darin auch Briefe, aber kein einziges Schreiben an die Familie. Es ist darin auch eine kleine Notiz aus dem Jahr 1971 – ohne Überschrift oder Adressat. Diese neun Worte erstaunen Ilan Goren am meisten:
"Ich bin keine Jüdin! Und ich war nie eine!"
Dieser Zettel – und eine Taufbescheinigung der Evangelischen Kirchengemeinde St. Matthäus aus dem Jahr 1970 löste bei Ilan Goren eine Identitätskrise aus. Er fragt sich, ob er womöglich selbst christlich sei, trotz Beschneidung und Bar Mitzwa.
In seinem Buch kombiniert Ilan Goren mit viel Humor und Feingefühl seine Familiengeschichte mit seiner journalistischen Arbeit. Diese führte ihn im Frühling 2011, kurz vor seiner Entlassung, ins stillgelegte ukrainische Kernkraftwerk Tschernobyl, wo er eine Reportage über "Katastrophen-Tourismus" dreht. Die berufliche Katastrophe wird bei Ilan Goren bald zu einem persönlichen Glücksfall.
"Während ich filmte, drang immer wieder eine hübsche Frau in meinen Frame, eine Französin, die als Korrespondentin in Moskau einen ähnlichen Bericht für ihren französischen Sender drehte. Unser erstes Date war in einer Tankstelle in Tschernobyl, wo wir die Bestrahlung mit ukrainischem Wein abspülten. Nach einigen Treffen stellte ich acht Monate später fest, dass ich Vater werde. Ich beschloss, den Sprung zu wagen und zog nach Moskau, wo ich eine Familie habe – eine Frau und eine Tochter. In Berlin wurde ich jüdischer, aber nun ist mein Baby nichtjüdisch. Ich könnte sagen, dass viele Identitäten wunderbar sind. Aber die Tatsache, dass meine Tochter aus einer anderen Welt kommt, sticht mir schon im Herzen. Denn ich will weiterhin Teil des jüdischen Volkes bleiben, das so viele Leiden überlebte. Ich überlasse es dennoch meiner Tochter, eines Tages ihre Identität selbst zu bestimmen."