Familien-Panorama der Leidenschaften

24.07.2008
Bereits 2007 erschien in England das Buch des Journalisten und Bayreuth-Pilgers Jonathan Carr, das nun auf Deutsch vorliegt. Auch wenn es damit nicht auf dem neuesten Stand der Entwicklungen auf dem grünen Hügel ist, bietet die Geschichte um die Nachfahren des berühmten Komponisten Lesestoff, der so spannend ist wie eine Wagner-Aufführung.
Als das Buch "Der Wagner-Clan" des kürzlich verstorbenen Jonathan Carr im vergangenen Jahr in England erschien, konnte der Autor noch nicht wissen, dass im Hinblick auf eben diese Familie das Jahr 2008 zum Schicksalsjahr werden sollte. In diesem Jahr nämlich wird Wolfgang Wagner, Enkel Richard Wagners und ältester Festspielchef der Welt, nach 42 Jahren Alleinherrschaft auf dem Hügel mit nunmehr 89 Jahren sein Amt niederlegen.

Beste Aussichten auf die Nachfolge haben seine beiden Töchter. Eva aus erster, Katharina aus zweiter Ehe, die ein Altersunterschied von über 30 Jahren trennt, kannten sich bis vor ganz kurzem nicht von Angesicht. Erst unter den Auspizien der möglichen bevorstehenden Machtübernahme begruben die offiziell verfeindeten Halbschwestern das Kriegsbeil und erarbeiteten zusammen ein Konzept, damit es weitergehen kann mit der Familie Wagner in Bayreuth. So etwas nennt man dann tatsächlich "Clan", und einen größeren Gefallen konnte der Clan dem Buch gar nicht tun, als sich im Jahr seines Erscheinens einmal wieder auf derartig clan-gemäße Weise zurückzumelden. Schon aus diesem Grunde dürfte der voluminösen Studie von Jonathan Carr eine große Leserschaft sicher sein. Schaut man sich das dickleibige Buch allerdings näher an, gibt es mancherlei Enttäuschendes zu verzeichnen.

Der erste Einwand ist, dass das Buch über weite Strecken seinem Titel einfach nicht gerecht wird. Carr, der mit der Geburt Siegfried Wagners im Jahre 1869 beginnt und mit der bereits erwähnten Katharina schließt, hat doch eher ein englisches als ein deutsches Publikum im Blick gehabt. Die vielen historischen und zeitgeschichtlichen Exkurse, die den Band unnötig aufblähen, zeugen davon und lassen den Wagner-Clan immer mal wieder entschieden draußen vor bleiben.

Im übrigen befleißigt sich der Autor eines mitunter doch sehr flapsigen Tons. Klar, die lange Zeit im Umgang mit Bayreuth gepflogene weihevolle Sprache will Carr mit vollem Recht um jeden Preis vermeiden. Doch der Respekt vor durchweg sehr starken, eigenständigen und sicher auch eigensinnigen Persönlichkeiten bleibt dabei mitunter auf der Strecke. Was sich ganz und gar nicht mitteilt, ist zudem die Sache, um die es doch im Grunde geht: die Musik Richard Wagners und ihre ganz besondere, ungebrochene Faszination. Denn bei allem Interesse, das man an dem Clan der Wagners haben kann, bei aller Repräsentanz, die der Familie durch ihre Verwobenheit mit der deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert zukommt und auch bei allem Eingeständnis, dass die Festspiele auch zum Jahrmarkt der Eitelkeiten verkommen sind, wird man doch sagen müssen: Wer sich, teilweise seit Jahr und Tag, im Hochsommer, auf ungemütlichen Stühlen, in einem entfernten Winkel Bayerns zu mehrstündigem Lauschen der Wagnerschen Musikdramen aufrafft – freiwillig und mitunter nach langem Warten auf die immer wieder bestellten und verweigerten Karten –, dem dürfte es schon in erster Linie um die Musik gehen sowie um die Auseinandersetzung mit Wagners Weltsicht und deren Ausdruck. Und wer auch nur ein einziges Mal die Chance hatte, einer Vorstellung in Bayreuth beizuwohnen, der wird überrascht gewesen sein, an einen Ort zu geraten, der wie kaum ein anderer widerhallt von den angeregtesten und erregtesten Gesprächen über Richard Wagners Werk und wie es heute präsentiert wird. Insofern gilt hier tatsächlich wie wohl für keinen anderen Festspielort der Welt, was einst der Meister als Losung ausgab: "Hier gilt’s der Kunst".

Natürlich hat Carrs Buch auch seine Stärken: Er kann erzählen, man langweilt sich nicht. Regelrecht Neues kann er nicht beitragen, aber er nimmt in seiner spöttischen Art, die sich sehr zum ihrem Vorteil an jener Tradition britischer Wagner-Kommentierung orientiert, die mit George Bernhard Shaw und seiner Bayreuth-Entmystifizierung ihren Anfang nahm, vielen Debatten den Wind aus den Segeln, die sich an einigen Eigentümlichkeiten dieser Familie entzündet haben.

So unterscheidet Carr beispielsweise sehr einfühlsam den Antisemitismus Richard Wagners von dem seiner Frau Cosima. Wagner war ein sogenannter "occasioneller" Antisemit, der mit vielen Juden herzlichen, dankbaren Umgang pflog. Unversöhnlicher, weltanschaulicher Antisemitismus war seine Sache nicht. Das war die Sache Cosimas, die damit allerdings bedauerlicherweise nach seinem Tode 1883 stilbildend für den Bayreuther Habitus werden sollte.

Gut und ausgewogen ist auch Carrs Darstellung Bayreuths im Dritten Reich. Der Wagner-Fimmel Hitlers ist ja bekannt, sein Engagement für die Festsspiele und sein freundschaftlich-familiärer Verkehr im Haus Wahnfried von den zwanziger bis in die vierziger Jahre nicht minder. Jedoch wäre die Inanspruchnahme von Wagners Werk insgesamt für den Nationalsozialismus ein Missverständnis gewesen und fand auch nicht statt. Im Grunde waren es hauptsächlich die "Meistersinger" und der "Lohengrin", die dem gesteigerten Nationalismus der braunen Herren entgegenkamen. "Tristan", "Parsifal", ja sogar über weite Strecken der "Ring" und auch "Tannhäuser" mit ihrer pessimistischen Tendenz, ihrer Aufmerksamkeit für die Außenseiter, Versager, Zweifler und psychisch Gefährdeten passte nicht zum heroischen, fanatischen Menschenbild der Nazis. Carr kann auch nachweisen, dass Wagner – mit Ausnahme wie gesagt der "Meistersinger" und des "Lohengrin" – im Dritten Reich, vor allem nach Kriegsbeginn, immer weniger gespielt wurde, insgesamt ohnedies weit seltener als noch in der Weimarer Republik oder gar während der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.

Überzeugend sind auch die Partien, in denen sich der langjährige Bayreuth-Pilger Carr den Personen widmet, die er auch aus eigenem Erleben kennt; also vor allem dem rivalisierenden Brüderpaar Wieland und Wolfgang, die als Festspielleiter nach 1945 wahrscheinlich die einzigen Menschen in hohen Ämtern der Nachkriegszeit waren, die noch von Hitler selbst für diese ausersehen wurden. Der schwierige, hochfahrende Workaholic Wieland, der 1966 starb, der joviale, optimistische und pragmatische Wolfgang, der seitdem die Geschicke auf dem Grünen Hügel bis zum Ende dieser Spielzeit bestimmt, Friedelind, die aufmüpfige Schwester, die so krachend mit Bayreuth brach, nicht zuletzt die vielen Töchter und Söhne, Nichten und Neffen, die alle vorübergehend nach der Macht griffen und denen doch der oftmals unterschätzte Wolfgang fast ein halbes Jahrhundert lang Einhalt gebieten konnte mit seinem vom Großpapa Richard Wagner entlehnten Ausruf "Zurück vom Ring!" – das ist wahrlich ein Panorama der Leidenschaften, wie sie so geballt in einer einzigen Familie selten vorkommen. Insofern ist Carrs Buch mindestens so spannend wie eine Wagner-Aufführung. Und mancher, der in diesem Sommer abermals leer ausgeht, mag sich an diesem Schinken gütlich tun.

Rezensiert von Tilman Krause

Jonathan Carr: "Der Wagner-Clan",
Hoffmann & Campe, Hamburg 2008, 496 Seiten, 25 Euro
Übersetzt von Hermann Kusterer
Die Kombo zeigt Eva Wagner-Pasquier (rechts) und Katharina Wagner
Eva Wagner-Pasquier (links) und Katharina Wagner© AP
Porträt Richard Wagner, Photogravure nach einer Fotografie von Franz Hanfstaengl München 1865
Porträt Richard Wagner, Photogravure nach einer Fotografie von Franz Hanfstaengl München 1865© Münchner Stadtmuseum