Familie und Beruf

Gehetzte Eltern leiden unter Vereinbarkeitslüge

Ein Baby auf einem Computerbildschirm im Büro
Büro und Baby, Job und Familie: Für viele Eltern ist das ein ständiger Balanceakt. © dpa / picture alliance / Jens Büttner
Von Marc Brost · 27.03.2015
Irgendwann müsse mit der Vereinbarkeitslüge Schluss sein, meint Marc Brost: Arbeitende Eltern seien permanent gehetzt und übermüdet. Nicht nur Karrieristen würden darunter leiden, Job und Familie nicht unter einen Hut zu bekommen.
Bin ich gerne Papa? Ja, absolut, von ganzem Herzen. Arbeite ich gerne in meinem Beruf? Ja, leidenschaftlich gerne.Und, geht beides zusammen? Die übliche Antwort lautet: Ja, klar.
Manchmal hakt es ein bisschen, manchmal sind wir zuhause alle ein bisschen erschöpft. "Urlaubsreif" nennen wir das. Aber im Großen und Ganzen gibt es kein Problem, denn meine Frau und ich, wir sind ja prima organisiert.
Die Wahrheit ist: Wir sind permanent müde, haben Ringe unter den Augen, schlafen schlecht. Wir sind ständig nervös, wie gehetztes Wild. Wenn wir morgens aufwachen, fällt uns sofort ein, was wir alles schaffen müssen. Wenn wir abends ins Bett fallen, wissen wir, dass wir wieder nur die Hälfte von dem erledigt haben, was eigentlich anlag.
Wir trinken unseren Kaffee im Gehen, essen im Stehen. Und wenn wir nach Hause kommen, nach einer Dienstreise, einem turbulenten Meeting, einer Brüllerei am Telefon, sind wir abgekämpft und angespannt. In unserem Kopf tobt noch der Tag, und dann braucht es nur eine falsche Bemerkung – und es gibt Streit.
Es geht einfach nicht zusammen. Wir haben nie genug Zeit für unsere Kinder. Wir haben nie genug Zeit für unsere Partner. Und wir haben nie genug Zeit für unseren Job. Klingt das frustriert? Mag sein. Aber ich bin gar nicht frustriert. Nur verärgert.
Flexible Arbeitszeiten sind nicht das Zaubermittel
Ich ärgere mich darüber, dass mir permanent suggeriert wird, alles ließe sich mit allem vereinbaren, es sei nur eine Frage der Organisation. Und damit meine ich nicht die Hochglanzillusion der Margarinewerbung, die Bilder perfekter Familien, allesamt lachend, wie an einem ewigen Sonntag. Ich weiß schon, dass uns Eltern da etwas vorgemacht wird.
Nein, ich ärgere mich über eine Politik, die hartnäckig behauptet, mit wenigen Monaten Elternzeit und ein paar Kita-Plätzen mehr lasse sich Deutschland in ein Familienparadies verwandeln.
Ich ärgere mich darüber, dass diese Politik vorwiegend von Menschen betrieben wird, die entweder selbst keine Kinder haben oder achtzig Stunden die Woche ackern, auf Adrenalin surfen und selbst nie genug Zeit für ihre Familie haben.
Und ich ärgere mich über Wirtschaftslobbyisten, die uns weismachen wollen, flexiblere Arbeitszeiten seien das Zaubermittel, um alle Probleme zu lösen – und dabei ganz andere Interessen verfolgen.
Und weil so viele Eltern das Gefühl haben, den widerstreitenden Anforderungen nicht gerecht zu werden, und weil so viele deswegen fast ständig ein schlechtes Gewissen haben, muss irgendwann Schluss sein mit der Vereinbarkeitslüge.
Nicht bloß ein Problem der Karrieregeilen
Manche mögen profitieren vom Schweigen und Herumdrucksen, für manche mag es bequemer sein, sich an den gesellschaftlichen Illusionen festzuklammern. Aber uns Eltern ist damit nicht geholfen, und auch nicht unseren Kindern.
Wenn über die Vereinbarkeit von Kindern und Job geredet wird, dann entsteht oft der Eindruck, das sei nur ein Problem der Karrieregeilen und Überehrgeizigen. Aber das stimmt nicht. Es trifft auch die Supermarktangestellten, Busfahrer oder Krankenschwestern. Sie können, wenn ihr Kind krank ist, auch nicht einfach mal von zu Hause arbeiten.
Unter der Vereinbarkeitslüge leiden ganz normale Leute, die über die Runden kommen wollen und sich dabei permanent selbst ausbeuten. Es sind – wie es die Kolumnistin Sibylle Berg einmal formuliert hat – gehetzte Menschen in der Lebensmitte, die bei jeder Zusatzbelastung, jedem unvorhergesehenen Ereignis, von der Steuernachzahlung bis zum Einsturz des Daches, einfach nur auf den Boden fallen und schreien möchten.
Diese gehetzten Menschen, das sind wir.

Marc Brost schrieb – gemeinsam mit Heinrich Wefing – das Buch "Geht alles gar nicht. Warum wir Kinder, Liebe und Karriere nicht vereinbaren können". Geboren 1971 in Mannheim, studierte er Wirtschaftswissenschaften an der Universität Hohenheim. Nach einem Volontariat an der Georg-von-Holtzbrinck-Schule in Düsseldorf wurde er 1999 Redakteur der Wochenzeitung "Die Zeit" in Hamburg, später Wirtschaftspolitischer Korrespondent in deren Berliner Hauptstadtbüro, das er seit 2010 leitet. Ausgezeichnet wurde er u.a. mit dem Ludwig-Erhard-Förderpreis für Wirtschaftspublizistik (2003), dem Theodor-Wolff-Preis (2006), dem Helmut-Schmidt-Journalistenpreis (2009) und dem Otto Brenner Preis für kritischen Journalismus (2013.)

© Foto: Anatol Kotte
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