Familie

Liebesbalancen

Kleinkind mit seiner Mutter
Mutter und Sohn: Eine literarisch äußerst ergiebige Beziehung. © dpa / picture alliance / Hans Wiedl
Von Michael Opitz · 08.04.2014
Literarische Annäherungen einer Autorengeneration an die Mütter - mit Texten von Christoph Meckel, Volker Braun, Wolfgang Hilbig, F.C. Delius, Urs Widmer und Peter Schneider.
Dass Söhne ihre Mütter lieben müssen, scheint eine solche voraussetzungslose Selbstverständlichkeit zu sein, dass Christoph Meckels Satz "Ich habe meine Mutter nie geliebt" für Irritation sorgt. Meckel begibt sich in "Suchbild. Meine Mutter" (2002) - mehr als 20 Jahre nach "Suchbild. Über meinen Vater" (1980) - erneut auf Spurensuche.
Volker Braun ("Das Mittagsmahl", 2007) und Wolfgang Hilbig (u.a. in "Das Provisorium", 2000) haben solche Annäherungen an ihre Mütter vor dem Hintergrund der im Zweiten Weltkrieg gefallenen Väter entworfen. Auch in F. C. Delius’ "Bildnis der Mutter als junge Frau" (2006) sind Abwesende gegenwärtig: das noch ungeborene Kind und der an die Front abkommandierte Vater.
Die Autoren nähern sich ihren Müttern, indem sie - so eigenartig es klingt - zunächst auf Distanz zu ihnen gehen. Von einer unbekannten Frau handelt Urs Widmers Roman "Der Geliebte der Mutter" (2000) und Peter Schneider erzählt in "Die Lieben meiner Mutter" (2013) von der Entdeckung eines Kartons mit Liebesbriefen seiner Mutter. Beide Autoren stellen verwundert fest, mit welcher Hingabe ihre Mütter als junge Frauen liebten. Adressiert sind die Bücher der Söhne an ihre Mütter, die von unscheinbarer Hand, aber überdeutlich, an den Texten mitgeschrieben haben.
Bei den literarischen Annäherungen der Söhne an die Lebensgeschichten ihrer Mütter handelt es sich um Balanceakte, da sie versuchen, etwas Einmaliges zu beschreiben, ohne es doch verklären zu wollen. Kein Sohn wird seine Mutter vergessen, aber ob er sich in Liebe an die Frau erinnert, die ihn geboren hat oder ob das Wort Liebe in der Beziehung zwischen beiden eine Leerstelle bleibt, hängt entscheidend davon ab, ob sie ihm das Gefühl vermitteln konnte, geliebt zu werden.
Manuskript zur Sendung als PDF und im barrierefreien Textformat
Einige Zitate aus der Sendung:
Christoph Meckel, Suchbild. Meine Mutter:
"Es wurde vorausgesetzt, daß die Mutter geliebt wird, es wurde erwartet, veranstaltet und befohlen."

Christoph Meckel
Der Berliner Lyriker Christoph Meckel© dpa / picture alliance / Martin Schutt
Volker Braun, Das Mittagsmahl:
"Ich lag mehr Jahre neben meiner Mutter als mein Vater, und ich weiß nicht, wie sie mich ansah zärtlich untröstlich. Ich habe Entsagung gelernt, bevor ich ein Mann war."

Volker Braun
Volker Braun© dpa / picture alliance / Arno Burgi
Wolfgang Hilbig, Die Weiber:
"Ich hatte feststellen müssen, daß ich niemand war. – Ich wußte nicht, ob ich existierte; man hatte es mir verschwiegen, [...] denn ich war nicht der Gegenstand geworden, den man mit mir hatte der Welt überreichen wollen. Ja, ich hatte den Fehler gemacht, mich gebären zu lassen [...]"

Wolfgang Hilbig
Wolfgang Hilbig© dpa / picture alliance / Erwin Elsner
O-Ton F. C. Delius:
"Sie durfte sich die Sehnsucht nicht anmerken lassen, das gehörte sich nicht für die Frau eines deutschen Soldaten, die mit aller Geduld in der Heimat zu warten hatte zuerst auf den endgültigen Sieg und dann auf ihren Mann, aber sie war nicht in der Heimat, sie war in der Fremde und sie trug ein Kind, sie hatte sich selbst in das Abenteuer gestürzt."

F. C. Delius
© dpa / picture alliance / Robert B. Fishman, ecomedia
Urs Widmer, Der Geliebte der Mutter:
"Jäh wachte sie auf, vielleicht weil ihr Kind auch mit dem Kopf ins Wasser geraten war und um sich schlug. Sie holte mich hoch und stapfte ans Ufer. Alles naß, die Beine, der Bauch. Eine Wasserspur hinter sich lassend, rannte sie nach Hause zurück und warf mich und sich aufs Bett."

Der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer
Der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer© picture alliance / dpa / Erwin Elsner
Peter Schneider, Die Lieben meiner Mutter:
"In einem [...] Brief fällt der Satz, der wie ein Menetekel über der Leidenschaft der Mutter steht: Das Gefühl der Liebe ist nicht abhängig von deiner Antwort an mich – sehr abhängig ist aber das Glücksgefühl davon. Dem Sohn, dem verspäteten Leser, sträuben sich die Haare, er möchte seiner Mutter ins Wort fallen. Stopp, streiche diesen Satz! Wie soll diese Liebe gut gehen?"
Der Autor Peter Schneider
Der Autor Peter Schneider© picture-alliance / dpa / Karlheinz Schindler