Fachkräftemangel

Niedersachsen fordert gesamtstaatliche Bildungstrategie

Moderation: Nana Brink · 07.05.2015
Um Deutschland fit für die Zukunft zu machen, dürfe man Bildung nicht allein Kommunen und Ländern überlassen, meint Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD). Außerdem fordert er vom Bund mehr Geld für die Bildung.
Angesichts des drohenden Fachkräftemangels in Deutschland fordert Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) eine gesamtstaatliche Bildungsstrategie sowie mehr Geld vom Bund für die Bildung.
Im Moment leiste man sich einen "fundamentalen Fehler", indem man so tue, als sei Bildung allein Sache der Länder und Kommunen, sagt Weil. "Dabei ist es nach meiner festen Überzeugung die wichtigste gesamtstaatliche Aufgabe, die wir überhaupt haben." Bund, Länder und Kommunen müssten eine gemeinsame Strategie in Sachen Bildung entwickeln und diese gemeinsam umsetzen.
Deutschland investiert zu wenig in Bildung
Weil plädierte für gemeinsame Qualitätsstandards in der Bildung über alle Bundesländer hinweg. So sollten Bund und Länder beispielsweise hinsichtlich der Qualität der Ganztagsschulen Zielvereinbarungen treffen. Das schließe auch eine notwendige Finanzierung des Bundes ein. "Denn der Bund beteiligt sich an dieser wichtigsten Aufgabe, die wir meines Erachtens überhaupt haben, gerade einmal mit derzeit weniger als zehn Prozent. Das reicht nicht aus."
Generell investiert Deutschland dem niedersächsischen Ministerpräsidenten zufolge zu wenig in Bildung. Die öffentlichen Bildungsinvestitionen lägen deutlich unter dem OECD-Durchschnitt. "Das kann sich Deutschland schlichtweg nicht leisten."

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Bildung, Bildung, Bildung! Wenn man Migrationsforscher, Erziehungswissenschaftler, Wirtschaftsexperten und – ja! – manchmal auch Politiker fragt, was muss in Deutschland ganz dringend verbessert werden, dann kommt oft die Antwort: die Bildung! Da mögen sich ja viele einig sein, aber spätestens bei der Frage nach der Organisation, da landet man bei einer, wie viele finden, ganz großen Schwäche des deutschen Bildungssystems, nämlich dem Föderalismus! Bildung ist Ländersache!
Genau an dieser geradezu eisernen Regel scheint nun Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil zu rühren, er sagt nämlich: Deutschland braucht eine gesamtstaatliche Bildungsstrategie, und zwar von der frühkindlichen Betreuung bis hin zur Weiterbildung. Und er fordert mehr Geld. Stephan Weil, SPD-Ministerpräsident von Niedersachsen, diskutiert heute Abend in Berlin seine Bildungsstrategie mit Vertretern von Wirtschaft und Gewerkschaft. Guten Morgen, Herr Weil!
Stephan Weil: Schönen guten Morgen!
Brink: Als Ministerpräsident wissen Sie um die Kulturhoheit der Länder, schließlich ist ja Bildung quasi der heilige Gral des Föderalismus! Warum kratzen Sie daran?
Weil: Ich kratze weiß Gott nicht am Föderalismus, da würde ich ja in der Tat gewissermaßen auch am eigenen Amt kratzen! Es ist allerdings so, dass wir uns im Moment einen fundamentalen Fehler leisten, wir tun nämlich so, als ob Bildung zum Beispiel den Bund überhaupt nichts angeht, ausschließlich Sache der Länder und der Kommunen ist. Und dabei ist es nach meiner festen Überzeugung die wichtigste gesamtstaatliche Aufgabe, die wir überhaupt haben.
Denn wenn wir da Fehler machen – und im Moment, muss ich sagen, sieht es so aus –, dann wird das für die ganze Gesellschaft dann eine teure Rechnung werden, die uns in einigen Jahren präsentiert wird. Und deswegen bin ich weiß Gott nicht gegen Föderalismus, aber ich bin sehr dafür, dass Bund, Länder und Kommunen eine gemeinsame Strategie in Sachen Bildung entwickeln, die dann auch gemeinsam umsetzen, weil das dann am Ende allen Beteiligten wirklich nutzen wird.
Bald ein Fünftel weniger Neueinsteiger auf dem Arbeitsmarkt
Brink: Wo liegen denn Ihrer Meinung nach, weil Sie es so betont haben, die Schwächen des deutschen Bildungssystems?
Weil: Zunächst einmal stehen wir wirklich vor einem absehbaren großen Problem. Große starke Jahrgänge gehen demnächst vom Arbeitsmarkt runter, weil sie das Rentenalter erreicht haben, bis zum Jahr 2025 – das sind also gerade mal zehn Jahre – werden über sechseinhalb Millionen Arbeitnehmer ihre Arbeitsplätze verlassen. Aber von unten kommt ja weniger nach. Der demografische Wandel, das ist inzwischen eben keine abstrakte Formulierung mehr, sondern das ist konkret und es ist da. Und die Zahl der Neueinsteiger auf dem Arbeitsmarkt wird etwa um ein Fünftel zurückgehen. Das heißt, da geht die Schere auseinander. Das heißt auch, wir müssen die Talente von allen jungen Leuten noch sehr viel besser entwickeln, wenn wir zum Beispiel den Bedarf der Wirtschaft nach qualifizierten Arbeitskräften wirklich decken wollen. Und das müssen wir, denn das ist wiederum die Basis des Wohlstands für unsere ganze Gesellschaft.
Brink: Nun, aber das ist ja nun eigentlich, mit Verlaub gesagt, eine Binsenweisheit, das wissen wir ja nun schon seit Jahren, dass die Demografie uns irgendwann einholen wird. Ihre Gesamtstrategie umfasst ja alle Bereiche, wenn ich das richtig gesehen habe, sowohl von der frühkindlichen Bildung bis hin zur beruflichen Weiterbildung.
Weil: Das ist korrekt, und so muss man es, glaube ich, auch angehen.
Brink: Das klingt ja wünschens...
Weil: Insbesondere deswegen, weil zum Beispiel in der frühkindlichen Förderung, da werden eben die Weichen gestellt, das sagen einem ja alle Wissenschaftler. Und wenn wir da international betrachtet, was die Qualität angeht, sagen wir, allenfalls Mittelmaß sind, dann kann das nicht gut genug sein für ein Land wie Deutschland, das extrem darauf angewiesen ist, dass später seine Arbeitskräfte besonders gut qualifiziert sind. Das ist so ein ganz gutes Beispiel, wo wir einfach Handlungsbedarf haben.
Deutschlands Bildungsinvestitionen deutlich unter dem OECD-Durchschnitt
Brink: Das ist ja alles wünschenswert, aber ist es nicht auch unglaublich illusorisch?
Weil: Ich hoffe nicht. Ich bin ein großer Verfechter von Vernunft in der Politik. Und wenn man unter diesem Gesichtspunkt herangeht – wiederhole ich noch einmal –, wüsste ich eigentlich keine wichtigere gesellschaftliche Aufgabe. Das lohnt sich auch, denn wir legen damit die Grundlagen dafür, dass wir, sagen wir einmal, in 20 Jahren immer noch in Deutschland sehr erfolgreich sein können. Wir sehen allerdings auch, was zu tun ist. Denn die öffentlichen Finanzmittel, die für Bildung investiert werden, die sind deutlich unter dem Durchschnitt einer Vergleichsgruppe, die man normalerweise wählt. Das sind die OECD-Staaten, also sagen wir einmal, die Industrienationen des Westens. Und das kann sich Deutschland schlichtweg nicht leisten. Da kann man etwas tun, wenn man will, und dafür werbe ich.
Brink: Ich will ja nicht den Pessimisten, die Pessimistin unbedingt rauskehren, aber wenn man nach Bayern guckt, dann hat man nicht den Eindruck, dass die irgendetwas ändern wollen oder bereit sind, mit anderen zu kooperieren. Was macht Sie denn so hoffnungsvoll, dass ... Oder andersherum gesagt: Haben Sie eine Strategie, wie Sie da eine gemeinsame Linie hinkriegen?
Weil: Also, ich stimme Ihnen insoweit zu, als ich auch nicht glaube, dass man so gewissermaßen nur über die Politik zu den notwendigen Veränderungen kommt. Das, glaube ich, braucht eine breite gesellschaftliche Diskussion, insbesondere unter Einbeziehung von Wirtschaft und Gewerkschaften. Denn wir haben heute beginnend – aber das wird von Jahr zu Jahr stärker – immer mehr Umfragen, die sagen: Für Unternehmen ist das Thema Fachkräftesicherung die größte Herausforderung überhaupt.
Und wenn wir aufhören, das nur gewissermaßen unter formalen Gesichtspunkten zu diskutieren, also Zuständigkeiten – ist der Bund zuständig oder die Länder zuständig oder die Kommunen? –, sondern wirklich uns klarmachen, um was es im Kern geht, dann setze ich darauf, dass man darüber einen ganz anderen Druck entwickeln kann auch in der gesellschaftlichen Diskussion, als wenn das nur eine Diskussion unter Politikern bleiben würde. Wenn es das bliebe, dann würde ich Ihren Pessimismus teilen. Also müssen wir es anders machen!
Qualitätsstandards für die Ganztagsschule
Brink: Dann möchte ich noch mal auf den Föderalismus zurückkommen und auf die unterschiedlichen Schulsysteme, die es ja nach wie vor gibt in den Ländern. Wie wollen Sie denn das ändern? Können Sie da einhaken?
Weil: Ja, sicher wird das ein Problem, aber das ist, ehrlich gesagt hat das nicht daran gehindert, dass Deutschland über Jahrzehnte hinweg sehr erfolgreich gewesen ist. Wahrscheinlich gibt es da schon die Bedürfnisse zu einer größeren Koordination, ich höre ja auch die Geschichten von den Familiendramen beim Schulwechsel von einem Bundesland in das andere. Aber ich empfinde das nicht als das größte Problem, das wir insgesamt haben.
Mir macht mehr Sorgen zum Beispiel die Frage, wie ist die Qualität der Ganztagsschulen überall, wie ist die Qualität der frühkindlichen Förderung, wie ist die Qualität der beruflichen Orientierung in den Schulen? Das sind, offen gestanden, für mich eigentlich die vordringlichen Themen.
Brink: Das heißt, Sie wollen einen allgemeinen Qualitätsstandard haben, auf den sich alle Bundesländer einigen können?
Weil: Ja, und in den auch ...
Brink: Wie kriegt man das hin?
Weil: Ja, indem man beispielsweise Vereinbarungen trifft, welche Zielzahlen, was Qualität angeht, bei Ganztagsschulen zur Grundlage legt, und dass zu einer solchen Vereinbarung dann auch der Bund beitritt, einschließlich auch einer notwendigen Finanzierung des Bundes. denn der Bund, der beteiligt sich an dieser wichtigsten Aufgabe, die wir meines Erachtens überhaupt haben, gerade einmal mit derzeit weniger als zehn Prozent. Das reicht nicht aus.
Brink: Das heißt, Sie wollen nicht nur die Mammutaufgabe hinkriegen, die Länder auf Linie zu kriegen, sondern auch noch den Bund ins Boot zu holen?
Wirtschaft und Gewerkschaften an der Bildungsdebatte beteiligen
Weil: Das, glaube ich, ist notwendig, wenn man von einer gesamtstaatlichen Aufgabe ausgeht. Ich glaube, dass wir jenseits von Sonntagsreden uns zu wenig bewusst machen, welche fundamentale Bedeutung Bildungspolitik wirklich für unsere weitere gesellschaftliche Entwicklung haben wird. Und daran muss wirklich intensiv gearbeitet werden, denn das, was in diesen Kurven zur Bevölkerungsentwicklung immer gezeigt wird, das ist dann eben in zehn Jahren Realität. Und irgendwie kommt es mir jedenfalls mit 55 Jahren so vor: Zehn Jahre ist eigentlich gar keine lange Zeit!
Brink: Welche Signale bekommen Sie von Ihren Kollegen aus den Ländern?
Weil: Das ist ganz unterschiedlich. Manche sagen, das soll alles so bleiben, wie es ist, insbesondere legen sie großen Wert auf das Kooperationsverbot, das dem Bund ja geradezu verbietet laut Grundgesetz, Bildungsbemühungen von Ländern und Kommunen zu unterstützen. Andere sagen mir, dass sie meiner Auffassung völlig zustimmen ...
Brink: Wer ist das?
Weil: Ach, das würde ich jetzt an dieser Stelle ganz sicher nicht ...
Brink: Würden wir gerne hören!
Weil: Ja, das werden die bei Gelegenheit Ihnen sicherlich dann auch selber sagen. Aber wie ich vorhin schon sagte, mir kommt es eigentlich im Kern auch darauf an, dass wir das jetzt nicht nur unter einigen wenigen Politikern diskutieren, sondern dass man sich die Bedeutung für die gesamte Gesellschaft klarmacht und dass insbesondere auch die gesellschaftlichen Akteure zum Beispiel aus Wirtschaft und Gewerkschaften sich deutlich mit outen und mit in die Diskussion reingehen.
Brink: Stephan Weil, SPD-Ministerpräsident von Niedersachsen. Schönen Dank für das Gespräch und die Zeit!
Weil: Da nicht für, tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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