Extremsport

Frei trotz Handicap

Von Caroline Kuban · 09.03.2014
Im Kite-Buggy über die Weiten des Nordsee-Watts oder meterhoch auf dem Surfbrett über den Wellen - das sind Extremsportarten. Auch Behinderte suchen hier die großen Herausforderungen.
Entspannt sitzt Freddy Pritzkau auf einer Decke in den Dünen von Utersum auf der Nordseeinsel Föhr. Er hat die Kapuze seiner Sweatshirtjacke als Windschutz fest über den Ohren und schaut zum Wasser. Fasziniert beobachtet er das Treiben der Kite-Surfer am Strand: Gut geschützt in Neoprenanzügen breiten sie ihre Schirme, die Kites, auf dem Sand aus, sortieren die Leinen, lassen sie fliegen und gehen, eine Hand an der Lenkstange, das Surf-Board unter dem Arm ins Meer. Ein Sprung auf das Brett und sie pflügen mit rasender Geschwindigkeit durchs Wasser.
"Das ist schon ein Traum für mich, so ohne Motor oder sonstiges halt mit dem Kite gezogen zu werden. Respekt hab ich schon, der Kite, das ist schon Power, die dahinter steht vom Wind her. wenn man ein bisschen verlenkt, reißt es einen schon in die andere Richtung oder man muss schon länger unter Wasser bleiben, Angst vor Wasser darf man nicht so sehr haben, das stimmt."
Freddy kommt aus Gummersbach im Bergischen Land. Seit einem Fahrradunfall vor 22 Jahren sitzt der 40-Jährige im Rollstuhl. Gestern noch feierte er seinen runden Geburtstag, morgens um 4 fuhr er dann gleich los mit dem Auto, um seinen Gutschein einzulösen: eine Woche Kite-Surfen auf Föhr. Vor vier Jahren lernte der passionierte Wassersportler das Kiten auf der Insel kennen und lieben. Neun Tage dauerte der Kurs.
"Wir hatten nur den letzten Tag guten Wind, wo wir rausgehen konnten, aber es hat auf jeden Fall geklappt und das fand ich schon ein super Erfolgserlebnis. Da konnt ich halt nur Vollgas geben, starten und dann bis es zu schnell wurde und dann überschlagen, hat aber trotzdem Spaß gemacht. Das zu sehen, dass es funktioniert, das fand ich richtig cool."
Für sportliche Herausforderungen ist Freddy immer zu haben. Wenn er nicht Wasserski fährt oder segelt, ist er mit dem Handbike unterwegs. Seine bislang härteste Tour ging quer über die Alpen vom Bodensee zum Comer See. Gerade einmal 3 Tage brauchte er für eine Strecke von 270 Kilometern.
Fußgänger-Fähigkeiten für einen kitenden Rollifahrer
Während sich Freddy am Strand von Utersum noch akklimatisiert, trifft Dirk Hückstädt die letzten Vorbereitungen für dessen Kite-Stunde . Er hockt vor seinem Lagerschuppen und schraubt eine Sitzschale auf ein selbst entworfenes Kite-Board. Das kommt optisch einem Mono-Ski sehr nah. Für die nötige Stabilität der Rollstuhlfahrer sind einige zusätzliche Vorkehrungen nötig, erzählt Dirk:
"Ein Gurt über den Bauch, ein Gurt über die Oberschenkel, damit die Beine auch nicht aus der Fußschlaufe herausrutschen vorne, wo die Füße drinstehen, und dann sitzt da oben drauf noch so ein Sicherheitssystem, an dem der Schirm eigentlich hängt, beim normalen Fußgänger, Kiter, die tragen ein Trapez mit einem Haken, da hängt der Schirm dran, bei unseren kitesurfenden Rollifahrern haben wir diesen Schirm mit Haken am Sitz fest gemacht, damit der Schirm wirklich am Brett zieht, und nicht an denen und die immer aus dem Sitz rauszieht. Weil dann die Belastung von den Gurten auf die Oberschenkel sehr sehr hart wäre. Wenn die einen blauen Fleck haben, das dauert halt einfach mal drei Wochen, bis der weg ist."
Grundsätzlich braucht ein kitender Rollifahrer dieselben Fähigkeiten wie ein kitender Fußgänger, erzählt Dirk, der eine Surfschule in Nieblum leitet. Er muss den Schirm im Wind gut handlen können und das Gleichgewicht auf dem Brett halten. Da der Körperschwerpunkt im Sitzen viel tiefer ist, hat man sogar weniger Balanceprobleme. Nur für den Start brauchen die Rollifahrer etwas mehr Unterstützung, meint der erfahrene Surflehrer:
"An den Rahmen vom Sitz haben wir Griffe geschraubt, hier hinten ist noch einer. Wenn er nachher in seinem Brett sitzt und vom Drachen gezogen wird, kann er von sich aus erstmal nicht das Gleichgewicht halten, das heißt, ich häng da hinten dran, und ich muss mich ja irgendwo festhalten. Sprich: wenn er kitet, zieht er mich noch immer durchs Wasser hinterher, bis ich der Meinung bin: ja, das läuft, und dann lass ich ihn los."
Doch bis es soweit ist, sind erst einmal Trockenübungen angesagt.
Mitten in der endlosen Weite des Watts sitzt Freddy mit seiner Freundin Evelin in einem dreirädrigen offenen Strandfahrzeug, dem sogenannten Kite-Buggy. Eine Hand an der Bremse, die andere an der Lenkstange des Kites übt er die richtigen Flugbewegungen im Wind. Hin und wieder schmettert eine Bö seinen Schirm zu Boden. Dann läuft Evelin aufs Watt und richtet den Drachen wieder auf. Auch sie hat einen Kite-Kurs begonnen, um Freddy unterstützen zu können. Für die gemeinsame Mitte, sagt sie. Seit sie über die Risiken dieses Extremsports unterrichtet wurde, ist sie allerdings etwas skeptisch.
"Wenn so ein Kite auf Power ist, dass der locker mal einen Arm durchschneiden kann, das muss man einfach wissen, also die Schnüre. Hand abschneiden ist natürlich schon ... nicht so ein kleiner Kite, das glaub ich nicht, aber trotzdem kann das schon sehr weh tun. Gerade, wenn du dich mit dem Arm verhedderst, dass er einmal um den Arm rumgeht, dann wird es gefährlich."
Gefährlich wird es auch, wenn der Buggy bei starkem Wind richtig Fahrt aufnimmt. Mit 50, 60 Stundenkilometern über das Watt zu rasen ist für viele ein ganz besonderer Spaß.
Seit sieben Jahren bietet die Wassersportschule Nieblum Kite-Kurse für Rollifahrer an. Angeschoben wurde das Projekt von Nicolas Lanquetin, genannt Nick, einem ehemaligen Windsurflehrer und Freund des Besitzers. Nach einem schweren Snowboard-Unfall ist der sportbesessene Österreicher an den Rollstuhl gefesselt.
Gemeinsam mit seinen Föhrer Surffreunden entwickelte Nick Ideen für ein behindertengerechtes Kiteboard. Zwei Jahre dauerte die Testphase. Mittlerweile besitzt Nick ein eigenes Kite-Equipment und ist an Surfspots und -schulen auf der halben Welt unterwegs. Seine Freunde nutzen die Erfahrungen ihres "Nik-Projekts" und veranstalten unter dem Titel "Roll & Fly" Workshops für Rollifahrer. Dirk Hückstädt:
"Als wir angefangen haben damit, haben sie alle gesagt: Jaja genau, Rollstuhlfahrer sollen kiten, ja merkt ihrs selber, bis wir dann die ersten Bilder ins Netz gestellt haben und den Leuten gezeigt haben, dass es geht und wie es geht. Seitdem sind wir als Station mit dem 'Roll & Fly' bekannt wie ein bunter Hund in der gesamten Kite-Szene."
Kiten, wann immer es die Bedinungen zulassen
An sechs Tagen geht es für maximal vier Teilnehmer richtig zur Sache: Von "Trockenhandling" des Kites, Buggyfahrten mit Drachen und Handlenkung bis hin zum Kitesurfen auf dem Wasser sind die Kurse nichts für sogenannte "Weicheier", meint Dennis Berges, Mitarbeiter des Roll&Fly-Projektes:
"Die schlucken Wasser, die spucken, die machen alles, aber die sind so ehrgeizig, das ist echt Wahnsinn. Die sind ehrgeiziger als ein normaler, laufender Fußgängermensch. Das macht das dann wett, wenn die so motiviert da sind."
Dennis arbeitet hauptberuflich im Rettungsdienst auf Föhr, geht kiten, wann immer die Wind-Bedingungen und seine Zeit es zulassen und hilft gelegentlich bei seinem Freund Dirk am Surfstand aus. Bei Roll & Fly ist er von Anfang an dabei. Das Kite -Projekt für die Rollifahrer ist ihm regelrecht ans Herz gewachsen:
"Es ist so mit das Größte, wenn die mal wieder noch n Tick mehr Freiheit kriegen, und das haben wir festgestellt, dass das wirklich super klappt, wenn die denn erste Erfolge haben mit drei, vier, fünf Meter selbstständig fahren alleine ohne Hilfen. Manche fahren 700 Meter am Stück und die sind einfach nur noch am Jaulen, am Schreien und die freuen sich tierisch. Es ist natürlich auch Knochenarbeit, denn die frieren sehr schnell durch, die Jungs und Mädels. Selbst freut man sich total und hat denn selbst so einen Adrenalinkick mit, also man kann sich mit denen super gut mitfreuen dann, und das ist ne gute Sache, find ich."
Drei Helfer pro Rollstuhlfahrer sind nötig, um einen sicheren Ablauf gewähr-leisten zu können. Einer hilft dem Kiter beim Starten direkt im Wasser, zwei begleiten ihn im Boot. Falls der Kiter umkippt, und das kommt am Anfang öfter vor, springt einer der Helfer vom Boot ins Wasser, um ihn wieder auf- und richtig im Wind auszurichten.
Freitag Morgen, 7 Uhr. Nach 5 Tagen mit wenig Wind, bläst heute eine ganz andere Brise. Der querschnittgelähmte Freddy will unbedingt auf s Wasser.
"Wenn der Dirk das ok gibt, bin ich dabei. Also das sieht gut aus, find ich. Ich bin schon heiß drauf, freu mich auch drauf …"
Dabei sind die Bedingungen schwierig, sagt der Surflehrer. Vor dem endgültigen Start letzte mahnende Worte:
"Die sagen, und mit die mein ich die Lehrer, ich hatte nämlich heute noch gar keinen Schirm in der Hand, die sagen, dass wir Böen da draußen haben, Schwankungen um die 10 Knoten. Gefühlt würde ich mal behaupten, wir haben 18 bis 28 Knoten. Ich nehme jetzt mal meinen Windmesser mit runter und messe. Die gesamte Gruppe, die wir gerade auf dem Wasser hatten , haben alle aufgegeben, sind alle wieder an Land. Ziehst du dich um?"
Freddy rollt zur Umkleidekabine und kommt kurze Zeit später komplett im Neopren-Anzug wieder heraus. An den Dünen warten Dirk und Dennis mit einem gelben Kajak. Freddy schwingt sich von seinem Rollstuhl in das Boot und lässt sich über den Sand bis zum Wasser ziehen.
Dort liegt bereits sein Schirm fertig aufgebaut neben dem Board mit der Sitzschale. Freddy steigt vom Boot in das Board und schnallt die Gurte fest.
"Und? Ja! Adrenalin steigt? Ich bin gespannt!"
Dann zieht ihn Dirk ins tiefere Wasser und drückt ihm den Schirm in die Hand.
"Denk dran: immer schön in den Zenit fliegen, dann richtest du dich von selber wieder auf. Einmal leicht powern, bisschen hoch, dass die Nase vom Brett rauskommt, ok, du hast ja noch Sinuskurven gelernt und so, dann wollen wir mal: und mehr fliegen, mehr fliegen!"
Langsam entfernen sich die beiden vom Ufer. Nach wenigen Metern läßt Dirk das Brett los, es kommt ins Gleiten. Das Wasser spritzt, Freddys Haare wehen im Wind. Er lacht.
"Am Kiten fasziniert mich, dass man mit Naturgewalten fahren kann. Dass man mit Wind, Wasser sich selbstständig bewegen kann. Auch wenn man so gut ist, dass man Sprünge machen kann, da kommt ja das Fliegen noch dazu, das find ich superschön."
"Hopp, alles gut..Du Renee ich merk schon, du machst dich langsam vertraut mit der Königsdisziplin, ..dass ich das Ding überhaupt angehoben hab"
Circa 70 Kilometer südlich von Berlin, auf dem ehemaligen sowjetischen Militärflugplatz "Altes Lager" bei Jüterbog, bereitet sich Jakob Raithel auf seinen nächsten Start vor. Er schwingt sich vom Rollstuhl auf den Boden, packt sich ein in das sogenannte Gurtzeug, einer Art Schlafsack, wickelt zwei Streifen Klettband um die Beine.
"Das ist nur, damit die Haxen halbwegs sortiert sind, dass die im Gurtzeug auch so liegen bleiben wie sie sollen. Festgeschnallt wird hier mit was Reellem."
Jakob zieht den Reißverschluss zu, dreht sich auf den Bauch und lässt sich von befreundeten Fliegern mit speziellen Klinken in den Drachen einhängen. Zwei heben ihn hoch, ein dritter klinkt ihn ein:
"Kann losgehen,...übernehm wieder die Aufhängung. Einer hat hier angefasst, und ich hab hier an den Knien, ich muss noch die richtige Position finden, auf drei: 1,2,3 drin!"
Seit seinem 15. Lebensjahr ist Jakob Raithel querschnittgelähmt.
"Ich hatte einen Verkehrsunfall-mit dem Fahrrad über eine Bundesstraße gefahren und mit dem Auto erwischt worden. Nicht viel passiert, halt Wirbelsäule gebrochen. Ich sag immer: ärger dich nicht über Dinge, die du nicht ändern kannst."
Also nahm er sein Leben in die Hand, studierte Maschinenbau in Köln und spezialisierte sich auf den Bau von Windkraftanlagen. Zur Zeit arbeitet er in Bremerhaven als technischer Leiter in der Entwicklung.
"Hoffnung, dass man auch so weit gehen kann"
Seit seiner Kindheit träumt der agile Mittdreißiger vom Fliegen. Vor acht Jahren konnte er seinen Traum verwirklichen. Andreas Becker, damals Fluglehrer in Jüterbog, bildete Jakob nach einer neuen Methode aus. Das heißt: Fluglehrer und -schüler fliegen gemeinsam mit einem Drachen. Jakob machte seinen Flugschein und kommt seitdem regelmäßig her, um ein paar Runden zu drehen. Zur Zeit lässt er sich für den Start an der Winde ausbilden.
Einen guten Kilometer vom Startplatz der Drachenflieger entfernt steht auf einem Anhänger die Winde, eine Maschine, die Gleitfluggeräte per Seilzug in die Höhe befördert. Olaf Barthodzie, Fluglehrerassistent der Drachenflugschule "Fly Magic", sitzt am Bedienungspult und nimmt die Startkommandos der Piloten entgegen. Der Umgang mit Jakob macht ihm sichtlich Spaß:
"Allein schon ihn anzupacken und er sagt: 'Ich mach jetzt einen Liegestütz, hebt ihr mich hinten hoch', mit ihm so unproblematisch umzugehen, das ist so amüsant, ihm zuzusehen, wenn er sich ins Gurtzeug schält, sich auf den Rücken legt, seine Beine da reinstopft, sich startklar macht und wir dann mit dem Startwagen über ihn drüber rollen, um ihn dann in sein Gerät, in die Hauptaufhängung einzuhängen. Das macht mir einen riesen Spaß, ihn da in die Luft zu befördern. Und dann kommt noch was hinzu: Da ja solche Extremsportarten auch mit einem Risiko verbunden sind, denk ich manchmal: was würde ich machen, wenn ich in dieser Position wäre, querschnittgelähmt, meine Beine machen nicht mehr das, was sie sollen, und dann macht mir das Hoffnung, dass man auch so weit gehen kann, dass man sagen kann, guck mal: der kann immer noch das machen, wofür sein Herz brennt!"
Unterdessen ist Jakob fertig für den Abflug. Sein Drachen steht auf dem Startwagen, ein Gestell mit Rädern, das am Boden bleibt, wenn der Pilot mit seinem Fluggerät abhebt. Letzte Tipps vor dem Start:
"Das wird jetzt unruhiger, der Wind jetzt viel stärker am Boden...bisschen schneller reinheizen, Speed is your friend, ja, nur dann ausleiten Jakob, nicht gleich aufsetzen, das ist klar, Bogen musst du immer fliegen…"
Und dann geht's los. Startleiter Eberhard Dengler übernimmt das Kommando:
"Winde für den Start kommen...der nächste Pilot ist der Jakob mit seinen 80 Kilo auf dem Startwagen…"
Das Seil zieht an, der Wagen setzt sich in Bewegung, wird schneller. Nach ein paar Metern hebt der Drachen ab und steigt in die Höhe. Wenige Sekunden später hat er seine Ziel-Höhe erreicht. Jakob klinkt sich aus.
"Der Start sieht sehr gut aus, er hat alles gut im Griff, fliegt ruhig, sauber, ich brauch ihm nichts sagen..nur noch eingreifen, wenn er wirklich große Fehler macht, sonst lass ich lieber die Piloten allein fliegen, dann lernen sie auch am meisten."
Weit geht der Blick aus 400 Metern Höhe über Brandenburgs Kiefern- und Heidelandschaft. Ohne Barrieren, völlig frei - auch das gibt Jakob Auftrieb!
"Was für mich heute fliegen bedeutet: Wenn ich am Drachen hänge, ist alles andere weg, ausgeblendet, egal. Wenn ich irgendwo unter einer Wolke hänge, flieg ich halt dem Piepsen hinterher und da gibt es keine Arbeit mehr, da gibt es keinen Stress in der Beziehung mehr, da gibt's überhaupt nix mehr. Da gibt's nur: wo ist die nächste Wolke, wo ist jetzt der nächste Bart, im Zweifelsfall: wie komm ich sicher wieder runter. Und das hat irgendwie ein entspannendes Moment. Sowohl ein spannendes als auch ein entspannendes!"
Den Steuerbügel fest in den Händen zieht Jakob mit seinem Drachen am Himmel ruhige Kreise. Die Beine haben beim Fliegen keine Funktion. Gelenkt wird mit dem ganzen Körper, erklärt Martin Ackermann, Jakobs Fluglehrer:
"Man muss an sich nur die Arme bewegen können, um den Körper gerade zu lassen. Man arbeitet hauptsächlich mit den Armen und hält dabei den Körper in einer Linie. Das funktioniert bei Jakob ganz hervorragend, weil seine Armmuskulatur eh stärker ausgeprägt ist als bei einem normalen Menschen, kommt ihm das fliegerisch zu Gute. Eigentlich hat er beste Voraussetzungen!"
Nach 15 Minuten landet Jakob sanft und wohlbehalten auf dem Bauch auf der Wiese neben der Landebahn. Er pellt sich aus dem Gurtzeug, setzt seinen Helm ab, schiebt die Brille hoch und strahlt.
"So jetzt ist es wieder warm. "Wie ist es gelaufen?" Ja, hier vorne über der Position trägts ein bisschen, erstaunlicherweise bei dem Wetter, da konnte man 2 bis 3 Kreise drehen, ohne große Höhe zu verlieren."
Für die Zukunft schweben ihm viel längere Ausflüge vor, denn jeder ist ein bleibendes Geschenk.
"Was ich jetzt auch noch nie gemacht hab, bin noch nie in den Bergen geflogen, also noch nicht am Hang gestartet, das würd ich gerne mal machen und was ich auch noch nicht gemacht habe, was bis jetzt für mich auch noch kein großes Bedürfnis war, langsam würde ich es gerne mal machen: wegzufliegen. Ich hab mich immer im Gleitwinkelbereich des Platzes aufgehalten, das heißt, man kommt jeder Zeit sicher zurück. Einfach weil, einen Rollstuhl mitnehmen beim Drachen, entweder eine hochspezialisierte Lösung sein muss, oder keine Option ist."
Mittagszeit an einem sonnigen Tag im österreichischen Kössen in Tirol. An der Talstation Unterberghorn herrscht Hochbetrieb. Eine voll besetzte Gondel nach der anderen verlässt den Boden und schwebt aufwärts in Richtung Gipfel. Mit dabei ist auch Petra Kreuz aus dem benachbarten Oberbayern. Seit mehr als 10 Jahren kommt die querschnittgelähmte 47 jährige her, um mit ihrem Gleitschirm zu fliegen.
"Stellst meinen Rolli bitte da unten rein, nicht dass meine Sitzfläche nass wird…"
Man kennt sich am Unterberghorn, und die Angestellten der Bergbahn wissen genau, welche Handgriffe nötig sind, um Petra sicher nach oben zu befördern. Sie halten den Lift an, befestigen den Rollstuhl in der Kabine, helfen Petra beim Einsteigen und drücken wieder den Startknopf. Auf dem Weg zum Gipfel erinnert sich Petra an ihren letzten Langstreckenflug in dieser Gegend, gemeinsam mit ihrem Mann Peter, den sie vor 5 Jahren geheiratet hat. Einmal quer durch alle benachbarten Berge ging die Tour.
"Sind dann über den Wilden Kaiser zum Zahmen Kaiser geflogen, vom Zahmen Kaiser zum Brennkopf, dann zum Geigelstein, dann zur Kampenwand und zurück über den Taubensee über Reit im Winkel wieder zum Unterberghorn. Das haben wir mal so nachgeschaut auf der Landkarte, sind um die 60 Kilometer. Wir waren unterwegs knapp drei Stunden, und die höchste Höhe, die wir bei dem Flug hatten, waren 3547 Meter und das ist hier für Alpen-Nordseite eigentlich sehr hoch."
Fliegen als größte Leidenschaft
Langsam schwebt die Gondel über Wipfel und Wälder. Der kleine Ort Kössen wird kleiner und kleiner. Die blonden Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden, sportlich gekleidet in Outdoorjacke und Goretexhose schaut Petra lächelnd aus dem Fenster und genießt das fantastische Panorama.
Um die 100 Flüge macht sie jährlich, trotz ihrer schweren Behinderung, die sie in jungen Jahren fast aus der Bahn geworfen hätte. Es passierte im Jahr 2000, acht Jahre nach ihrer Pilotenprüfung, beim Drachenfliegen in den Dolomiten:
"Das war eine blöde Geschichte, das kann eigentlich überall passieren, und zwar bin ich gleich nach dem Start mit dem Drachen ohnmächtig geworden. Aus unerklärten Gründen. Ich hab keine Krankheiten, es sind keine Erbkrankheiten in der Familie bekannt, ich hab auch keine Schwächen, war immer sportlich, immer gesund, bin halt da nach dem Start 50 Meter geflogen und dann wurde ich ohnmächtig. Und dadurch, dass ich ein bisschen schief im Gurtzeug gelegen bin, ist der Drachen mit mir eine leichte Kurve geflogen und ist gegen eine Felsmauer geflogen. Und dann hab ich halt mit der Querschnittlähmung zu leben begonnen."
Da sie wusste, dass sie ihren Unfall nicht selbst verschuldet hat, und da Fliegen ihre größte Leidenschaft ist, beschloss Petra einfach weiterzumachen. Noch in der Reha entwarf sie einen eigenen, dreirädrigen Flugrollstuhl, mit dem sie den Startvorgang am Hang überbrücken wollte. Sie ließ ihn von einem Freund bauen.
"Eine Woche, nachdem ich aus dem Koma aufgewacht bin, hab ich das konstruiert, hab die Zeichnung gemacht, hab das immer ein bisschen verfeinert und nach meinem Jahr Krankenhausaufenthalt und Reha, das waren 361 Tage genau, hab ich dann das fertig konstruierte und auch angefertigte Teil Probe geflogen, und das hat super funktioniert und seitdem bin ich glücklich."
Nach zehn Minuten Fahrt hält die Gondel an der Bergstation. Petra rutscht vom Sitz der Kabine in ihren Flugrolli, nimmt den Gleitschirm auf den Schoß, schnallt sich an. Ehemann Peter und Freund Ernst schieben sie das letzte steile Stück über einen Schotterweg bis zum Startplatz. Eine gute Einstimmung für später, sagt Peter, da kommt der Kreislauf in Wallung:
"Deswegen suchen wir uns auch immer Fluggebiete, in denen das von der Logistik her leicht zu bewältigen ist. Die Petra mit ihren 115 Kilo Gesamtgewicht, einschließlich Fluggerät, ist natürlich schon eine rechte Anstrengung durch die Berge zu ziehen."
Wenige Augenblicke später kommt der Startplatz in Sicht. Traumhaft gelegen auf 1400 Metern. Bis in die Schweiz reicht der Blick über die Gipfel. Einige Piloten haben ihre bunten Schirme bereits ausgebreitet und warten auf die nächste Windbö. Petra sucht sich ein freies Plätzchen und stellt ihren Flugrolli fest.
"Der Startplatz darf nicht zu steinig sein, keine groben Steine oder von den Kühen so abgetretene Flächen, soll wenn möglich eine schöne, einigermaßen gerade Almwiese sein. 20 Meter lang ungefähr, damit ich genug Zeit hab, um den Schirm aufzuziehen und noch ein bisschen Geschwindigkeit zu erzeugen, um abzuheben."
Und dann beginnt das Prozedere der Vorbereitung: Vorderrad fixieren, damit es sich bei der Landung nicht querstellen kann, Wasserflasche und Brotzeit verstauen, Höhenmesser, das sogenannte Vario, auf dem Cockpit befestigen und vor allem: warm anziehen.
"Das mach ich deswegen, weil normalerweise wenn wir fliegen, wollen wir ja so hoch wie möglich fliegen und momentan haben wir die 0-Grad-Grenze auf 2400 Metern. Wir starten jetzt auf 1400 Meter, das heißt, wir müssen eigentlich 1000 Meter machen, was an einem normalen, sonnigen, thermischen Tag eigentlich relativ einfach möglich ist und auf 2400 Metern ist man froh, wenn man einen dicken Ski-Overall an hat, und darunter einen Fleecepullover."
Dazu noch Handschuhe, Fleeceschal, Helm und Rückenprotektor. Schließlich: der Funkgeräte-Check mit Peter:
"… channel note 5,7, so, machen wir mal einen Radio-Check, radiocheck, radiocheck, loud and clear, wunderbar, dann haben wir Kommunikation."
Viele Flüge unternimmt Petra gemeinsam mit ihrem Mann, einem ebenso begeisterten Paraglider wie sie. Im Sommer fliegen sie im Alpenraum, im Winter in Australien, wo Peter als Landschaftsgärtner engagiert ist. Den gemeinsamen Sport empfindet der 50-Jährige als etwas ganz Besonderes:
"Es ist immer ein sehr schönes Erlebnis, wenn wir das in direkter Nähe miteinander teilen können. Wenn wir dann in der Thermik auf 2000 Metern umeinander herumkreisen, uns zurufen und winken, dann ist das die geteilte Freude, die ist mit Sicherheit noch mehr als doppelte Freude."
Dann wird es ernst. Peter bringt den Flugrolli auf dem leicht abfallenden Hang in Position. Zwei Helfer werden benötigt, um Petra in die Luft zu bringen: einer vorne am Rolli, einer hinten.
"Derjenige, der vorne hilft, schaut sich den Schirm in der Steigphase an, dass alle Leinen sauber sind, ohne Verknoten und Verhängen, und dann start ich hier hinten durch, und bring die Petra auf Abhebegeschwindigkeit und lass dann los und finde mich mitten im Lauf ohne Schirm."
Doch bevor es soweit kommt, ist Warten angesagt. Warten auf den richtigen Aufwind. Die Tragegurte in den Händen sitzt Petra in ihrem stabilen, orangenen Wagen und schaut konzentriert auf die roten und gelben Fähnchen, die Auskunft geben über Windrichtung und Windstärke.
"Jetzt kommt was, jetzt kommt was, ok, die nehmen wir, allez hopp, Schirm kommt gut, weiter weiter Gas geben, juppa, juhu,… "
Sobald Petra in der Luft ist, beginnt auf dem Platz geschäftiges Treiben. Alle anderen Piloten wollen jetzt auch starten. Für sie ist Petra eine wichtige Orientierungshilfe.
"Ja, weil sie eine unheimlich erfahrene Pilotin ist, sie hat das im Gespür, sie spürt diesen Aufwind eben, wahrscheinlich noch bevor das überhaupt an dem Vario, an diesem Höhenmesser dann eben angezeigt wird, und deshalb geht sie da sehr zielsicher hin und schafft es dann, genauso in die Thermik einzukreisen, dass das wunderbar funktioniert."
Auch die Zuschauer sind begeistert:
"Is Wahnsinn, oder? Ja, das hab ich noch nicht gesehen, aber das ist mutig! Schön!"
Frei wie ein Vogel zieht Petra am Himmel ihre Kreise.
"Mein Fliegen ist eigentlich das Genussfliegen. Das ist einfach genial, wenn man die Welt dann von oben sieht, noch dazu als Rollifahrer, das ist brutal! Nach dem Starten bin ich wie jeder andere Pilot, ich hab keine Stufen, keine zu engen Türen, ich komm überall hin wo die anderen auch hinkommen und kann bis zur Wolke fliegen, ich kann wegfliegen bis zum nächsten Berg, ich kann wieder zurückfliegen, ich bin total frei dort oben und kann frei entscheiden, was ich machen will."
Eine Stunde später setzt Petra sanft auf der Landewiese auf, rollt ein paar Meter aus, und bleibt glücklich stehen.
"Es war schön, wunderschön. Wollt ich die Talquerung machen, wollt zum Brennkopf rüberfliegen, hat aber nicht gereicht, und dann bin ich wieder zurückgeflogen und hab einen supertollen Bart gefunden, der mich gleich wieder hinaufgeschossen hat bis über Startplatzhöhe, haha juhu!"
Bart, so heißt die Thermik, der schlauchförmige Aufwind, im Fliegerjargon. Nachdem der Schirm zusammengelegt ist, trifft man sich zum Landebier im Garten der Fliegerbar, unmittelbar neben der Landewiese. Petra öffnet ihren mitgebrachten Koffer und bietet selbst gemachte Freundschaftsbänder, T-Shirts und Schlüsselanhänger zum Verkauf an. Bei regem Austausch über Flug-Erfahrungen und Erlebnisse wird so manche Geschichte zum Besten gegeben:
"Eins von den witzigsten Sachen, die mir mal passiert sind, das war in Greifenburg, das ist in Kärnten, da bin ich dann auf der Landewiese gelandet und dann kommt da so ein Junge zu mir her, der war vielleicht acht Jahre alt, stellt sich vor mich hin, ich sitz noch im Flugrolli und da schaut er mich so an und sagt: "Hey, bist du wohl zu faul zum Laufen? (lacht) da hätt ich mich kugeln können vor Lachen ... "
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