Evolution der Sprache

29.10.2007
Der Germanistik-Professor Wolfgang Steinig befasst sich in seinem Buch "Als die Wörter tanzen lernten" mit der Entstehungsgeschichte der Sprache. Seine These: Ohne Musik und Tanz hätte sich die Sprache nicht entwickelt.
Ohne Sprache kein Radio, keine Zeitung, keine Werbung. Der Einsatz von Sprache ist allerorts selbstverständlich. Dennoch funktioniert Sprache keineswegs reibungslos und selten so effizient wie gedacht. Warum etwa misslingen Formulierungen? Grundlegender: Warum sind Wörter und Grammatik notwendig, um sich zu verständigen? Wie ist Sprache entstanden?

Der Ursprung der Sprache liegt im Dunkeln. Dennoch ist Wolfgang Steinig, Professor für Germanistik, überzeugt: Sprache hat sich entwickelt – von Handgesten und protosprachlichen Lauten über Tanz und mithilfe von Musik und Riten hin zu einer hochkomplexen grammatischen Sprache, die nicht immer deckungsgleich das übertragen kann, was das Gehirn als Denkorgan betreibt.

Den Nachweis führt Steinig auf gut 450 Seiten und mittels einer Zeitreise durch verschiedene Etappen der Menschheitsgeschichte. Dabei kommen Grabbeilagen und Höhenmalereien, archaische Tänze und rituelle Gesänge ebenso in den Blick wie Gespräche bei Klassentreffen und Flirts im Café. Insbesondere Erkenntnisse der Evolutionsforschung und der Verhaltensbiologie veranlassen den Siegener Professor zur These:

"Sprache hat sich nicht entwickelt, um effizient kommunizieren zu können, sondern um auf eigene Fähigkeiten zu verweisen und den Artgenossen glaubwürdig zu signalisieren, welche Qualitäten man besitzt."

Ein Schelm, wer hier nur an Politiker denkt. Zugrunde liegt das "Handicap-Prinzip". Dieses fundamentale Verhaltensmuster wendet Steinig – das ist sein Clou – auch auf den Ursprung der Sprache und deren Evolution an. Es deckt sich in weiten Teilen mit dem Prinzip der sexuellen Selektion, das Charles Darwin dem Prinzip der natürlichen Selektion zur Seite stellt.

Um seinen Genen zum Erfolg zu verhelfen, um sich im evolutionären sowie im aktuellen Spiel um Ressourcen, Sexualpartner und Macht zu behaupten, ist der Mensch bereit, immerzu Handicaps einzugehen, seien sie etwa biologischer, kultureller oder sprachlicher Art.

Ein Beispiel: Wer statt der Worte Hund und Baum Wörter wie Rauhaardackel und Wacholder verwendet, drückt sich präziser aus, kann Prestige gewinnen, geht aber auch das Risiko ein, mit der Bezeichnung zu scheitern.

Der Buchtitel verweist auf die verblüffende Annahme: Der Grammatik der Sprache ging die Grammatik des Tanzes voraus. Für tänzerische wie für sprachliche Abfolgen gelten das Baukastensystem der Komposition, das Prinzip der Rekursivität sowie Beschränkungsregeln aufgrund körperlicher Grenzen und ästhetischer Optionen.

"Das Medium, das den Transfer vom Tanz zur Sprache ermöglichte, war die Musik: In rituellen Tänzen zum Rhythmus von Trommeln entstanden die ersten komplexen Lautmuster, die nach einfachen grammatischen Regeln funktionierten."

Wolfgang Steinig legt eine schlüssige Theorie vor, die Ursprung, Wandel und Gegenwart der Sprache zu erklären vermag. Der "populärwissenschaftlich formulierte Text" ist gut lesbar und bietet kaum sprachliche Handicaps. Das mag dem wissenschaftlichen Renommee des Autors wenig dienlich sein, ermöglicht dem Leser aber einen barrierefreien Einblick in ein faszinierendes Forschungsfeld der Linguistik, das die Entdeckungen zahlreicher anderer Disziplinen nutzt.

Rezensiert von Thomas Kroll

Wolfgang Steinig: Als die Wörter tanzen lernten. Ursprung und Gegenwart von Sprache
Elsevier, Spektrum Akademischer Verlag, München 2007
456 Seiten, 24,00 Euro