Evangelische Kirche denkt Familie neu

Christine Bergmann im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 29.06.2013
Nicht nur die Ehe, sondern auch andere dauerhafte Formen des Zusammenlebens will die Evangelische Kirche in Deutschland künftig als Familie verstehen. Dafür gibt es viel Kritik. Christine Bergmann sieht in der Neuausrichtung keine Abwertung der Ehe. Entscheidend seien Verbindlichkeit und Fürsorge, nicht die Form der Beziehung.
Kirsten Dietrich: Es ist eine ihrer umstrittensten Veröffentlichungen der letzten Zeit, die die Evangelische Kirche in Deutschland EKD in der vergangenen Woche in Berlin vorgestellt hat. "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit" heißt die Schrift, der Untertitel verspricht "Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken". In den 160 Seiten der Orientierungshilfe verberge sich nichts weniger als ein Kurswechsel in Sachen Familienpolitik, kündigte Nikolaus Schneider an, der Ratsvorsitzende der EKD. Und das war nicht tief gestapelt.

Wer von außerhalb der Kirche das Papier liest, kann erstaunt sein, in welcher Breite die evangelische Kirche künftig Lebensformen unterstützen will, solange sie von verlässlicher Fürsorge über die Generationen hinweg geprägt sind. Aus den Kirchen erhebt sich indes wütender Protest. Er vereint konservative und evangelikale Protestanten und den evangelischen Arbeitskreis in der CDU mit Katholiken. Und auch einige evangelische Landesbischöfe sind nicht glücklich damit, wie die evangelische Kirche künftig mit und über Familien reden will.

Ich habe mich vor der Sendung mit Christine Bergmann getroffen, einer der Autorinnen. Christine Bergmann war Familienministerin im Kabinett von Gerhard Schröder und Bundesbeauftragte zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs. Sie leitete drei Jahre lang die sogenannte Ad-hoc-Kommission, die die familienpolitische Orientierungshilfe für die evangelische Kirche in Deutschland verfasste. Ich habe mit Christine Bergmann über die Kritik an dem Papier gesprochen – und wollte auch wissen, ob es denn auch Reaktionen gab, über die sie sich gefreut hat.

Christine Bergmann: Am meisten habe ich mich gefreut über die Reaktion von Menschen, die eben nicht in einer traditionellen Ehe leben, sondern in anderen Familienformen, und die jetzt sagen: Na, endlich hat meine Kirche jetzt auch deutlich gemacht, dass wir ja in gleicher Weise auch Fürsorge füreinander übernehmen, dass wir Verantwortung übernehmen, dass wir natürlich verbindlich miteinander leben wollen und hoffen, dass das alles von Dauer ist, und dass wir eben nicht irgendwelche Familienformen zweiter Qualität sind.

Dietrich: Sie haben gut drei Jahre an Ihrem Papier gearbeitet. Was waren denn da die Punkte, an denen es am meisten Diskussionen gab?

Bergmann: Wir waren uns eigentlich ziemlich einig darüber, dass wir die Wertschätzung aller Familienformen wollen und die Anerkennung. Das war uns eigentlich sehr wichtig. Und gleichzeitig eben sagen wollen, was uns wichtig ist beim Zusammenleben, beim familiären Zusammenleben, egal, in welcher Form das ist. Es war schon gar nicht so einfach, das Thema ein bisschen abzugrenzen, denn das ist natürlich wirklich ein sehr weites Feld, wenn man über Familien redet.

Wir haben uns hier auch Mühe gegeben, das ein bisschen historisch einzubetten. Das ist ja auch spannend, mal zu sehen, dass eigentlich die bürgerliche, traditionelle Ehe eigentlich ein Produkt der Neuzeit ist, dass also schon in älteren Zeiten es eine breite Vielfalt von Familienformen gab. Es war wichtig, zu gucken, wie ist denn eigentlich die rechtliche Situation, wie hat die sich geändert, und die hat sich ja ganz gewaltig geändert in den letzten Jahren, natürlich auch noch mal wirklich sehr genau uns anzusehen, in welchen Familienformen Menschen heutzutage leben und in welcher Weise, auch in welcher, Qualität sie miteinander leben. Das dann auch noch ein bisschen einzugrenzen, das hat uns eigentlich fast mehr Schwierigkeiten gemacht als uns über das Thema zu verständigen. Da waren wir uns eigentlich, die Theologen, die Soziologen, die Juristinnen, eigentlich alle ziemlich einig, in welche Richtung wir dieses Papier entwickeln wollen.

Dietrich: Trotzdem kommt jetzt von verschiedenen Seiten – von innerhalb der Kirche, von eher aus freikirchlichen Richtungen – massive Kritik an dem Papier. Hat Sie diese Kritik überrascht?

Bergmann: Ja, ehrlich gesagt, ja. Das hätte ich eigentlich nicht erwartet. Ich kann das überhaupt nicht nachvollziehen, wie weit man das als einen Angriff auf die Ehe betrachtet, wenn man sagt, andere Familienformen, in denen eben wirklich verbindlich, fürsorglich, liebevoll miteinander umgegangen wird, die schätzen wir in gleicher Weise wert – das ist doch keine Abwertung der Ehe! Das ist das, was mich eigentlich sehr überrascht hat, zumal in dem Papier dieses auch wirklich nicht getan wird.

Also alle wünschen sich ja auch eine stabile Beziehung und wir wollen eigentlich auch ermutigen, das eben auch in einer Ehe zu leben, aber wir nehmen eben zur Kenntnis, dass es viele andere Familienformen gibt, mit denen wir in gleicher Weise umgehen müssen und die in gleicher Weise auch Unterstützung erfahren müssen und Anerkennung, eben auch in der Kirche.

Dietrich: Der Punkt, an dem sich die Kritik aus dem theologisch-konservativen Spektrum am meisten entzündet, ist wahrscheinlich die Wertung der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, also der Umgang mit der sogenannten Homo-Ehe. Die wird, so sagt es die Kritik, der traditionellen Ehe damit gleichgestellt und das sei nicht biblisch. Ist das so?

Bergmann: Nun bin ich keine Theologin, aber wir hatten ja Theologen auch in dieser Ad-hoc-Kommission und haben eigentlich auch theologisch nachgewiesen, dass man nicht davon ausgehen kann, dass die gleichgeschlechtlichen Lebensweisen in gar keiner Weise anerkannt werden können. Und wir haben eine rechtliche Situation. Und wir haben gerade wieder ein Urteil bekommen vom Bundesverfassungsgericht. Ja, für uns war das eigentlich schon klar, dass wir gar nicht anders können, als zu sagen: Wenn diese Partnerschaften und diese Familien, Kinder sind da ja mitunter auch dabei, eben wirklich das, was wir wollen, sich umeinander kümmern, respektvoll miteinander umgehen, dann kann ich doch nicht sagen, ich akzeptiere das nicht oder ich toleriere es vielleicht mal gerade so, sondern das muss ich dann schon auch entsprechend anerkennen.

Also das war für uns eigentlich in der Ad-hoc-Kommission kein größeres Konfliktthema. Da wussten wir schon, dass das ein Punkt ist, bei dem es Diskussionen gibt. Wir kennen den ja auch aus den einzelnen Landeskirchen, aber auch da ist die Position ja sehr unterschiedlich. Es gibt Landeskirchen, die auch gleichgeschlechtliche, also homosexuelle Paare segnen. Es gibt Landeskirchen, die sogar sagen, wir wollen da eigentlich gar keinen großen Unterschied mehr machen zwischen der Segnung einer Ehe und einer gleichgeschlechtlichen Lebensweise oder Lebensform. Da sind die Gemeinden mitunter schon sehr viel weiter als kirchenleitende Menschen, natürlich insbesondere in den eher evangelikalen Kreisen.

Dietrich: Geht es da bei der Kritik vielleicht auch ein bisschen darum, dass da in Ihrer Orientierungshilfe die gelebte Wirklichkeit Vorrang vor dem bekommt, was als Gottes Gebot empfunden wird? Also ich zitiere mal aus der Schrift: "Ein normatives Verständnis der Ehe als göttliche Stiftung und eine Herleitung der traditionellen Geschlechterrollen aus der Schöpfungsordnung entspricht nicht der Breite des biblischen Zeugnisses."

Bergmann: Ja, dafür haben wir ja auch eine Menge Bibelstellen mit angeführt in der Schrift. Also auch in der Bibel gibt es ja sehr unterschiedliche Familienformen. Das ist ja mal ganz spannend, das zu verfolgen. Und das ist immer wieder der Punkt, dass wir klar sagen: Es geht nicht um die Form, in der zusammengelebt wird. Es geht uns um das liebevolle Miteinander, um die Stärkung einer Gemeinschaft in sehr unterschiedlichen Formen. Das verstehe ich auch unter evangelischer Freiheit. Und es geht uns auch um ein partnerschaftliches Zusammenleben. Auch das haben wir ja in der Orientierungshilfe sehr ausgeführt.

Und da darf man auch nicht ganz übersehen, dass gerade die traditionelle Ehe, die eben eigentlich in der bürgerlichen Zeit erst das Idealbild geworden ist, auch im kirchlichen Kontext, sehr häufig dazu beigetragen hat, patriarchale Geschlechterverhältnisse zu zementieren. Das ist schon auch ein Punkt, der dazugehört, wenn man über traditionelle Ehe redet. Und wir ganz klar immer wieder betonen: Es geht uns um die partnerschaftliche Familie, um das gleichberechtigte Miteinander, auch um die Rechte der Kinder in einer Familie, dass sie gut aufwachsen, liebevoll aufwachsen, keine Gewalt erfahren. Und das sind doch alles Dinge, die kann man doch nur gutheißen, finde ich jedenfalls.

Dietrich: Es gab auch von außerhalb der Kirche die Kritik, dass es genau aber auch auf diesem Feld Normen bräuchte, nicht unbedingt, damit man sie alle auf den Punkt erfüllt, sondern damit man überhaupt weiß, worauf man zuarbeitet, woran man sich abarbeiten soll.

Bergmann: Ja, aber das ist ja eigentlich gerade das Missverständnis. Die Evangelische Kirche gibt ja nicht Normen auf, sie gibt uns eine Vorrangstellung auf für dieses traditionelle Eheverständnis, sondern sie sagt: Genau diese Norm, die Verbindlichkeit des Miteinander-Lebens, diese liebevolle Zuwendung, die Fürsorge füreinander, die ist uns wichtig. Und wenn diese Normen in anderen familiären Beziehungen gelebt werden – genau das wollen wir eigentlich. Wir wollen, dass Menschen so miteinander umgehen, unabhängig davon, in welcher Form das jetzt passiert.

Dietrich: Bedrückt es Sie, dass die katholische Kirche auch deutlich sagt, dass damit die evangelische Kirche, mit diesem Papier, eigentlich nicht mehr auf der gleichen Ebene über Familie redet?

Bergmann: Na, das ist ja nun nichts Neues. Also das kann mich jetzt nicht weiter erschüttern. Zum einen sage ich da immer: Wir können nicht nur mit dem Gucken auf eventuelle Kritik der anderen, in dem Fall eben auch der katholischen Kirche oder auch der orthodoxen Kirche, das, was wir für richtig halten, lassen. Das ginge nun auch nicht. Das verträgt sich mit meinem evangelischen Verständnis nun schon überhaupt nicht. Und zum anderen müssen wir ja ganz deutlich sagen: Wir haben doch immer schon unterschiedliche Positionen. Vielleicht haben wir es jetzt noch mal deutlicher ausgesprochen, aber für die Protestanten, für die Reformierten, evangelische Kirche ist die Ehe kein Sakrament wie für die Katholiken, sondern sie ist laut Luther ein weltlich Ding, das wir hochschätzen, dass wir auch eben unter den Segen Gottes stellen, aber was für uns nicht nur die einzige Form ist, in der man sozusagen verbindlich und liebevoll miteinander leben kann. Wir sehen, dass es daneben andere Formen gibt, und wenn die Inhalte stimmen, sagen wir: Das ist wunderbar und sollte auch gefördert werden.

Und das ist ja auch das, was uns so wichtig ist, deutlich zu machen: dass genau die Sorgearbeit, die in der Familie geleistet wird, eben eine ist, die nach wie vor sehr gering geschätzt wird. Da geht es nicht nur um die Sorge für die Kinder, da geht es eben auch um die Sorge für die Eltern, für die Kranken, und das ist ja ein Wert in einer Gesellschaft, der gar nicht hoch genug geschätzt werden kann, und wenn wir unsere demografische Entwicklung angucken und wissen, wie sehr wir genau diese Sorgearbeit immer mehr brauchen in der Gesellschaft, dann ist es doch auch wichtig, dass eine Kirche sagt: Darum geht es uns.

Und lasst uns doch jetzt mal endlich auch die Sozialpolitik und die Familienpolitik sehr viel mehr auch in diese Richtung weiterentwickeln, dass Menschen in der Lage sind, auch diese Fürsorgearbeit zu leisten. Da sind wir auch in dem Bereich, wie sehen eigentlich die Arbeitsmarktbedingungen aus, schaffe ich das denn noch, mich um Kinder zu kümmern, schaffe ich das denn noch, mich um meine alten Eltern zu kümmern? Alle diese Dinge gehören ja auch dazu.

Dietrich: Das entzaubert natürlich so ein bisschen diese Familie als Sehnsuchtsort, an dem man eben mal als einzigem Ort der Gesellschaft nichts aushandeln muss, sondern wo einfach alles so gelingt und wo das Scheitern nicht von vornherein als Möglichkeit mit im Vordergrund steht.

Bergmann: Na ja, nun gibt es ja genug Ehen, die scheitern. Das wissen wir ja auch alle miteinander. Also die Form, in der man zusammenlebt, ist ja keine Garantie dafür, dass es kein Scheitern gibt. Und auch, wenn man sich eine gute Ehe wünscht, ist man nicht davor gefeit, dass es nicht funktioniert. Gerade auch im Scheitern brauchen Menschen Zuwendung, brauchen Unterstützung, brauchen das Gefühl, dass sie in einer Kirche aufgehoben sind, auch wenn ihnen jetzt gerade irgendwas kräftig danebengegangen ist.

Dietrich: Wie geht es jetzt weiter mit dem Papier? Der Altbischof Hartmut Löwe hat gesagt: Das Papier muss korrigiert werden, weil sonst evangelische Christen ihre Heimat in der Kirche verlieren.

Bergmann: Ich sehe das nicht so. Nach dem, was ich mittlerweile an Mails bekommen habe und ansonsten höre, habe ich eher den anderen Eindruck. Also mir sagen dann eher Menschen, jetzt fühlen wir uns in dieser Kirche wieder mehr zu Hause. Also ich hoffe, dass das vielleicht dazu beiträgt, dass Menschen, die meinten, wenn sie jetzt nicht so diesen Normen folgen, in der Kirche nicht wohlgelitten sind. Das darf ja nicht passieren. Und genau diese sagen mir jetzt: Ich fühle mich in meiner Kirche vielleicht wieder eher zu Hause. Ich weiß, ich werde anerkannt, auch wenn ich eben in meiner Ehe gescheitert bin, auch wenn ich in einer anderen Form zusammenlebe. Das, finde ich, ist schon ein ganz wichtiger Punkt.

Diskutieren kann man über alles, das ist klar. Wir haben die Orientierungshilfe gemacht. Wir werden uns sicherlich nicht noch mal an die Arbeit setzen und vor allen Dingen nicht in der Richtung korrigieren, dass wir sagen, das ist nicht richtig, weil wir schon alle miteinander davon überzeugt waren, dass das eigentlich die richtige Richtung ist und ich mich ehrlich gesagt immer wundere, wie viel Aufregung das jetzt gibt.

Wenn wir um uns herum gucken, dann sehen wir so viel unterschiedliche Familienformen, die gelingen oder nicht gelingen, aber das ist jetzt weniger von der Form abhängig, sondern von den Einzelnen, wie sie auch mit Konflikten fertig werden können. Und wir müssen doch alle stärken darin, zu sagen, gut zusammenzuleben und eben sowohl für die Jüngeren als auch für die Pflegebedürftigen dann auch ein Stück Verantwortung zu übernehmen. Darum muss es uns doch gehen. Alles andere halte ich schon fast für Luxus, jede andere Diskussion, sage ich ganz klar.

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Die Orientierungshilfe Zwischen Autonomie und Angewiesenheit
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