Eurovision Song Contest

"Grandioser Durchmarsch für Conchita Wurst"

Conchita Wurst bei der Ankunft in Kopenhagen. Der Travestiekünstler vertritt Österreich beim Eurovision Songcontest 2014.
Der Travestiekünstler Conchita Wurst © picture alliance / dpa / Prokofyev Vyacheslav
Moderation: Matthias Hanselmann · 09.05.2014
Viel Wirbel um die österreichische Finalistin Conchita Wurst – eine Frau mit Vollbart, die eigentlich ein Mann ist. Werden die Russen ihre Bühnenshow bei der Grand-Prix-Übertragung wegen "Homosexuellenpropaganda" vom Sender nehmen?
Matthias Hanselmann: Beim Finale des Eurovision Song Contest geht es morgen – so kann man nach dem zweiten Halbfinale gestern ohne rot zu werden sagen – um die Wurst, denn frenetisch gefeiert wurde Conchita Wurst, die Travestiekünstlerin mit dem Vollbart und der Barbiefigur. Und das Finale ist auch politisch brisant, schließlich beginnt es morgen mit dem ukrainischen Beitrag, der dann später Konkurrenz aus Russland bekommen wird. Der Journalist Elmar Kraushaar beobachtet den Eurovision Song Contest oder ESC, und er ist auch schon am Austragungsort, nämlich in Kopenhagen. Guten Tag, Herr Kraushaar, hallo!
Elmar Kraushaar: Ja, guten Tag, Herr Hanselmann!
Hanselmann: Zunächst zum politischen Aspekt der morgigen Show: Beim ersten Halbfinale des ESC hat's ja Extrabeifall gegeben für die Ukraine und Buhrufe für Russland – erwarten Sie, dass das morgen ähnlich ablaufen wird?
Kraushaar: Das lässt sich schwer voraussagen. Ich selbst war ein bisschen überrascht, dass es eigentlich hier vor Ort in den ganzen Tagen bis zum Halbfinale keine große Rolle spielte, der Konflikt, der ja die Nachrichten beherrscht. Dann aber zeigte sich am Abend des Halbfinales, dass wohl doch was gärt: Nämlich als Russland gezogen wurde für den Einzug ins Finale, gab es ordentlich Buhrufe. Deswegen lässt sich schwer voraussagen, ob das morgen ähnlich sein kann. Es zeigt sich aber hier, dass die russische Delegation mit ihren Sängerinnen, ein Zwillingspaar, sich sehr, sehr schwertut mit diesem offensichtlich schlechten Image, was ihr Land hier genießt. Sie verweigern sich allen Gesprächen. Wenn man in den Pressekonferenzen oder als Journalist bei ihnen nachfragt, keine Antworten, no politics, es ist immer das Gleiche, man erfährt von ihnen gar nichts. Sie halten sich da ganz, ganz fein zurück. Das schafft natürlich nicht wirkliche neue Freunde.
Im Gegensatz dazu die Ukraine: Die Vertreterin der Ukraine ist ganz anders. Sie wird natürlich ständig gefragt nach der Situation in ihrem Land, und sie ist immer wieder bereit, dazu Stellung zu nehmen, immer wieder zu sagen, also ich bin hier für die Ukraine, die ganze Ukraine steht hinter mir, das Land muss befreit werden und so weiter und so fort. Also sie hat immer auch ein politisches Statement parat. Und das wiederum sorgt natürlich dafür, dass unter den Journalisten beispielsweise natürlich eine größere Sympathie im Moment für die Ukraine da ist.
Die Frau mit Vollbart heißt Thomas Neuwirth
Hanselmann: Ich wollte es nämlich gerade erzählen, auch für die Hörerinnen und Hörer, die sich nicht so besonders für den ESC interessieren: Aus Russland, da kam harsche Kritik an diesem Wettbewerb, und zwar von dem Politiker Witali Milonow. Dieser Mann hat in Russland das Antihomosexualitätsgesetz mitgeschrieben, und er hat vor dem ESC gegen den österreichischen Beitrag protestiert, also gegen die gestern so gefeierte Conchita Wurst, die Frau mit Vollbart, hinter der ein schwuler Mann mit dem bürgerlichen Namen Thomas Neuwirth steckt. Und der versteht sich als Botschafter für Toleranz oder Botschafterin für Toleranz. Er sagt, ich habe diese bärtige Lady kreiert und möchte damit der Welt zeigen, dass man sein kann, wie man möchte. Der Transvestit Conchita Wurst auf derselben Bühne wie die russischen Teilnehmer, das sei offenkundige Homosexualitätspropaganda und geistiges Verderben. So hat sich Witali Milonow geäußert. Aber die Russen nehmen jetzt offenbar diese Homosexualitätspropaganda in Kauf, oder?
Kraushaar: Ja, sie müssen das in Kauf nehmen, weil sie sind natürlich als Teilnehmer gezwungen, die Veranstaltung auch zu übertragen. Es gab sowohl in Russland als auch in Weißrussland Forderungen von rechten Populisten, während der Übertragung von Conchita Wurst kurzzeitig aus dem Programm auszusteigen, aber ich glaube nicht, dass das durchzuführen ist. Der russische Sender beruhigt im Moment seine Zuschauer damit, dass sie sagen, wir bringen ja eh erst durch die Zeitverschiebung bedingt in Moskau die Veranstaltung weit nach Mitternacht. Das heißt, wenn Conchita Wurst auf der Bühne und auf dem Bildschirm erscheint, dann sind die kleinen Kinder hoffentlich schon im Bett und könnten so was nicht mehr sehen.
Hanselmann: Was meinen Sie denn, wie wird man denn in Europa abstimmen über die russischen Zwillinge und die ukrainische Sängerin. Also werden Stimmen aus Osteuropa, aus Polen, aus dem Baltikum alle gegen Russland abgegeben werden?
Kraushaar: Das glaube ich nicht, weil wäre das so, dann hätte schon im Halbfinale Russland ausscheiden müssen. Aber offensichtlich sind da noch genügend Stimmen – man weiß leider noch nicht, wie viele – genügend Stimmen zusammengekommen, sodass Russland ins Finale auch gerutscht ist. Deswegen kann man das im Moment sehr schwer nur sagen, sehr schwer nur prognostizieren. Wenn man sich die beiden Acts anguckt, also die beiden Songs, mit denen die jeweiligen Künstler auf der Bühne stehen, dann mag es sein, dass die Ukraine deutlich vorne liegt, weil das einfach die bessere Performance ist. Das ist zwar auch nur ein ganz normaler Popsong, wie man ihn schon oft genug gehört hat, hat trotzdem deutlich mehr Sehwert. Die Russinnen, die beiden Zwillinge, die 17-jährigen Zwillinge, kommen nur ganz schlecht rüber. 17-jährige junge Mädchen, die wirklich sehr, sehr steif, sehr kalt, nicht sehr nett auf der Bühne wirken, das kann für die Russen dann tatsächlich Punktabzüge bedeuten.
Hanselmann: Diesen Wettbewerb gibt es ja nun schon fast 60 Jahre, früher hieß er ein bisschen anders – gibt es andere Beispiele aus der Geschichte des ESC dafür, dass die politischen Ereignisse schon in den ESC sozusagen hineingefunkt haben?
Politische Konflikte häufig Thema beim Grand Prix
Kraushaar: Das hat es immer gegeben, von Anfang an, ziemlich von Anfang an. In den 60er-Jahren zum Beispiel spielte schon der Konflikt Griechenland–Türkei, die Auseinandersetzungen vor allem um Zypern immer eine Rolle. Das heißt, sobald das eine Land zum Grand Prix einzog, hat das andere die Teilnahme wieder zurückgezogen, es gab immer so ein Pingpongspiel hin und her. Dann gab es in den 70er-Jahren die Auseinandersetzung – wir erinnern uns – zwischen England, also Großbritannien, und Nordirland. Da gab es dann auch Probleme, dass die Engländer Angst hatten, in der aufgeheizten Situation ihre Teilnehmer nach Nordirland zu schicken, als Nordirland dran war, den Grand Prix auszurichten.
Israel hatte immer wieder Probleme mit den arabischen Nachbarn. Man muss dazu sagen, dass in der EBU, also dem Veranstalter des Eurovision Song Contest, auch arabische Länder, auch arabische Sender mit dabei sind. Und deswegen gab es dann wenn Israel dabei war und ihren Teilnehmer präsentierte, dann sind die arabischen Sender ausgestiegen und haben das Finale oder die Sendung nicht übertragen. Das sind immer so kleine Scharmützel, die stattgefunden haben. So richtig spannend und richtig brisant wurde es vor allem, als der Bürgerkrieg in Jugoslawien, also der Zerfall Jugoslawiens zum Höhepunkt kam.
1993, als Bosnien-Herzegowina zum ersten Mal zum Grand Prix gegangen ist, mussten die Teilnehmer aus der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas, nämlich aus Sarajewo bei Nacht und Nebel fliehen und mussten nach Irland versuchen rüberzukommen, um dann doch noch teilnehmen zu können, und haben dann auf der Bühne versucht, auch mit ihrem Lied auf die Lage im Land, also auf eine belagerte Stadt, belagertes Land, auf ein Bürgerkriegsgebiet aufmerksam zu machen.
Das heißt also, Konflikte militärischer, politischer Art waren immer wieder Thema im Grand Prix oder hatten immer wieder auch ihre Auswirkungen auf das, was dann gezeigt werden konnte oder aber auch nicht.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das „Radiofeuilleton", wir sprechen mit dem Journalisten Elmar Kraushaar, der den Eurovision Song Contest beobachtet am Austragungsort in Kopenhagen. Morgen ist das Finale, Herr Kraushaar, wem geben Sie denn für das Finale die größten Chancen, auch Conchita Wurst?
Kraushaar: Seit dem gestrigen Abend, seit dem Halbfinalabend war das so ein grandioser Durchmarsch für Conchita Wurst, dass ich im Moment tatsächlich auch dran glaube, obwohl ich mir das vorher nicht vorstellen konnte, dass Conchita Wurst tatsächlich gewinnen könnte. Also hier ist im Moment jeder überzeugt, egal wen Sie jetzt fragen, alle sind überzeugt, Conchita Wurst macht das Rennen. Und wie gesagt, ich bin im Moment auch so ein bisschen angesteckt von diesem Fieber und würde sagen, das kann wirklich gut sein, dass Conchita Wurst morgen Abend gewinnt.
Hanselmann: Ich habe heute gelesen, dass man sogar schon schreibt, "The Wiener takes it all", weil Conchita aus Wien kommt.
Kraushaar: The Wiener takes it all, genau. Sehr schöner Spruch.
Hanselmann: Und der deutsche Beitrag, also die drei Damen von Elaiza, haben die eine Chance?
Kraushaar: Man mag es gar nicht sagen, aber sie haben keine Chance. Ich persönlich muss sagen, ich bin sehr enttäuscht. Es ist das erste Mal seit einigen Jahren, dass ich richtig auch für einen deutschen Beitrag dabei bin und sage, die machen das, die machen das gut, die haben allen Willen, sich gut zu platzieren, und sie haben auch allen Grund, sich darauf zu freuen, dass sie gut platziert werden könnten. Aber bei den Reaktionen in den ersten Tagen hier, wo sie erschienen sind bei Proben und so weiter, war nie eine sehr überzeugende Reaktion, weder bei den Fans noch bei den Journalisten aus den anderen Ländern. Also da bin ich im Moment sehr pessimistisch. Es wäre für mich eine Überraschung, wenn Deutschland unter den ersten Zehn landet.
Hanselmann: Es ist ein sehr nettes Lied, sehr frisch und so weiter, aber keine Sensation.
Kraushaar: Ja, unbedingt.
"Ralf Siegel ist wirklich eine angesehene Person"
Hanselmann: Nun gibt es ja aber aus deutscher Sicht noch eine Sensation bei diesem ESC: Ralf Siegel, inzwischen 68 Jahre alt, der ja damals mit "Ein bisschen Frieden" und Nicole für Deutschland siegte, der ist dieses Mal auch dabei, allerdings sozusagen under cover, oder?
Kraushaar: Na, Ralf Siegel ist eigentlich immer dabei. Der versucht jedes Jahr irgendwo in irgendeinem kleinen Land unterzukommen, weil er genau weiß, in Deutschland hat er überhaupt keine Chance mehr, mit einem Lied auch nur zu einem Vorentscheid vorgelassen zu werden. Aber in anderen Ländern nimmt man durchaus noch gerne seine Kompositionen, weil – das muss man wissen – Ralf Siegel ist in diesem ESC-Universum wirklich eine angesehene Person. Man nennt ihn Mister Grand Prix, er ist wirklich ein Elder Statesman. Er ist so lange dabei, seit 40 Jahren dabei, hat 22 Titel für den Wettbewerb gebracht, und die meisten Titel – das will man in Deutschland immer gerne vergessen – sind sehr erfolgreich gelaufen und wurden sehr erfolgreich platziert. Und in diesem Jahr ist er zum dritten Mal für San Marino am Start und hat dann, was niemand erwartet hatte, den Sprung vom Halbfinale ins Finale geschafft.
Als das am Dienstagabend rauskam, war ein unglaublicher Jubel. Alle haben die Sängerin aus San Marino gefeiert, als ob sie schon die Siegerin des ganzen Wettbewerbs sei, weil damit hat überhaupt niemand gerechnet, weil es an sich eine ganz typische Siegel-Komposition ist, etwas Altbackenes, sehr Schlagermäßiges, also gar nicht mehr zeitgemäß, wenn man das mit den anderen Titeln vergleicht, die hier präsentiert werden. Trotzdem hat es offensichtlich genügend Stimmen und Anhänger gefunden, dass der Titel dann doch ins Finale gerutscht ist.
Hanselmann: Elmar Kraushaar, Beobachter des Eurovision Song Contest, live aus Kopenhagen. Vielen Dank, Herr Kraushaar, und vor allen Dingen viel Spaß morgen Abend!
Kraushaar: Ja, ich danke Ihnen! Tschüss!
Hanselmann: Tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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