Europas Kulturhauptstadt Wroclaw

Multikulti mit dunklen Flecken

Blick von der Elisabethenkirche auf den mittelalterlichen Marktplatz in Wroclaw (ehemals Breslau) in Polen,
Blick von der Elisabethenkirche auf den mittelalterlichen Marktplatz in Wroclaw (ehemals Breslau) in Polen, Aufnahme von 1967 © picture-alliance / dpa
Von Florian Kellermann · 07.01.2016
Wroclaw, ehemals Breslau, ist eine der größten Städte Polens, reich an europäischer Kultur und in diesem Jahr Europas Kulturhauptstadt. Mit der europäischen Kultur der Toleranz und Vielfalt können viele Breslauer nichts anfangen - auch in dieser polnischen Stadt marschieren Rechtsextreme auf. Der demokratische Teil der Bevölkerung hält aber gegen.
Der große Platz in der Mitte der Altstadt heißt einfach "der Ring" - auf polnisch "rynek". Er ist auf der einen Seite 205 Meter lang, auf der anderen nur ein wenig kürzer. Wer dort spazieren geht, versteht den Namen "der Ring" sofort. Denn in der Mitte steht ein Häuserblock, darunter das von der Gotik geprägte alte Rathaus, das Wahrzeichen von Breslau. Der Spaziergänger geht meist rings um diese Gebäude herum.
An einem Stand mit Grill kauft Jaroslawa eine Wurst - für sich und für ihre sechsjährige Tochter Wika. Die beiden stammen aus Luhansk, ganz im Osten der Ukraine.
"Die Menschen hier sind gutherzig und offen. Wika hat gerade ihren Handschuh verloren, da läuft uns schon jemand nach und bringt ihn uns. Mit ihrer Mütze ist das auch schon passiert. Der Staat hier gehört dem Volk, deshalb helfen sich die Leute auch gegenseitig."
Zudem freue sich ja ganz Breslau, das es bald Europäische Kulturhauptstadt sein wird, sagt Jaroslawa.
"Wir wohnen am Stadtrand, selbst dort werden die Straßen hergerichtet, neue Straßenschilder, neue Radwege, alle geben sich große Mühe, die Stadt herauszuputzen."
Das hier sei das Europa, wonach sich die Ukrainer sehnen, sagt sie und schaut den anscheinend glücklichen Paaren mit ihren dick vermummten Kinderwagen nach. Sie weiß nicht, dass dieser Begriff Europa auch hier nicht selbstverständlich ist, dass die neue polnische Regierung ihn anders versteht als die meisten westlichen Europäer. Der Streit um das Verfassungsgericht in Warschau und den öffentlichen Rundfunk, den sie vom Zaun gebrochen hat - das scheint in Breslau im Moment noch weit weg.
Auch die kleine Wika fühlt sich wohl, sie geht schon in die Schule.
Der Anfang sei nicht leicht gewesen, sagt sie, aber jetzt gehe es immer besser. Und dann könne sie sich ja noch mit Gebärdensprache verständigen. Mit Mathematik hätte sie jedenfalls kein Problem. Die habe sie schon gelernt, als sie ein halbes Jahr alt war. Lange, lange sei das her, damals, in der Ukraine.
Die Flüchtlinge aus der Ukraine bilden vorerst die jüngste historische Schicht dieser Stadt, die wie wenige andere die Geschichte Mitteleuropas verkörpert. Als Jaroslawa ihre Wurst bestellt, spricht die Verkäuferin wie selbstverständlich Russisch mit ihr.
Stolz auf die 1000-jährige Geschichte
Krzysztof Ruchniewicz, der Leiter des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschlandstudien an der örtlichen Universität, ist in Breslau geboren und stolz auf die 1000-jährige Geschichte.
"Diese Stadt wurde von unterschiedlichen Nationen, Kulturen geprägt. Und gerade in den letzten Jahren haben wir gesehen, wie wichtig es ist, an diese unterschiedlichen Etappen in der Geschichte der Stadt anzuknüpfen, sie neu zu entdecken oder neu zu lesen. Und das heißt, dass hier inzwischen eine ganz interessante Plattform geschaffen worden ist, wo sich viele Fremde heimisch fühlen. Das finde ich auch ganz interessant, ganz spannend."
Viele der heutige Stadtbewohner stammen von ehemaligen Lembergern ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die deutschen Breslauer aus der Stadt vertrieben, Niederschlesien wurde polnisch. Dafür kamen Polen aus Lemberg, das ukrainisch wurde – und auch sie zogen nicht freiwillig 600 Kilometer westwärts. Noch heute gibt es ein Restaurant mit Lemberger Spezialitäten auf dem Ring. Und das Denkmal des polnischen Schriftstellers Aleksander Fredro, das früher in Lemberg stand, steht heute dort, wo früher ein Reiterstandbild von Friedrich Wilhelm III zu sehen war.
Breslau gehörte im Mittelalter zur polnischen und zur böhmischen Krone, später auch zu Österreich, zu Preußen und - bis zum Zweiten Weltkrieg - zum Deutschen Reich. Krzysztof Ruchniewicz, der Leiter des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschlandstudien an der örtlichen Universität, ist in Breslau geboren und stolz auf die tausendjährige Geschichte. Gerade mit der deutschen Vergangenheit ihrer Stadt taten sich die Breslauer lange Zeit schwer. Das hatte vor allem politische Gründe, sagt Krzysztof Ruchniewicz. Denn Deutschland erkannte lange die Oder-Neiße-Grenze nicht an - konnte also bis vor 25 Jahren noch Anspruch auf Niederschlesien und Breslau erheben.
"Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich viele Menschen hier unsicher gefühlt haben, dass auch im Sinne der Kommunisten wichtig war, diese Angst zu schüren. Denn so konnte man leichter die Bevölkerung auf der eigenen Seite, auf der kommunistischen Seite haben, weil die Kommunisten die Garanten für diese Grenze waren."
Dennoch ließen gerade diese Kommunisten die stark zerstörte Altstadt von Breslau mustergültig restaurieren. Heute haben die meisten Stadtbewohner kein Problem damit, auch die deutsche Geschichte der Stadt als ihre anzuerkennen.
Blick über Breslau
Blick über Breslau© dpa/picture alliance/Forum Marek Maruszak
Sphärische Klänge in einer Fabrikhalle südwestlich der Altstadt. Hier üben Musiker, Schauspieler und Helfer für das große Eröffnungs-Spektakel, zu dem 150.000 Zuschauer erwartet werden. "Erwachen" heißt es und wird in vier Stadtteilen gleichzeitig beginnen. Von dort aus nehmen vier Geister ihren Weg ins Zentrum auf - zurzeit stehen die Metallgestelle in vier verschiedenen Ecken der Halle.
Mitten durch den zehn Meter hohen Raum schlendert Chris Baldwin. Der britische Regisseur inszenierte 2012 die Fackel-Zeremonie bei den Olympischen Spielen in London, nun ist er verantwortlich für "Erwachen".
"Ich weiß nicht, ob ich das sagen darf: Der Geist dort hinten ist mir am liebsten, es ist der Geist der vielen Glaubensrichtungen. Wenn er sich am 17. Januar durch die Stadt bewegt, begegnen ihm auf dem Weg vier verschiedene Chöre. Einer singt katholische, einer orthodoxe und einer jüdische Musik - und einer geistliche Musik aus verschiedenen nicht-westlichen Kulturen."
Neben dem Geist der vielen Glaubensrichtungen gibt es den Geist des Wiederaufbaus, den Geist der Innovation - und der Geist der Flut. Die Oder, ihre Brücken und ihre Naturkatastrophen faszinieren Chris Baldwin. Das Verhältnis zum Wasser sage viel aus über die heutigen Breslauer, sagt Baldwin.
"Es war faszinierend, was hier 1997 passiert ist. Das Jahr der großen Oder-Flut. Die Bürger der Stadt sind von Zuhause gekommen, sie haben sogar ihre Arbeitsplätze verlassen, ganz spontan, und sind zur Universitätsbibliothek gegangen. Die Universität liegt direkt neben dem Fluss. Sie haben die Bücher geholt und zu höher gelegenen Orten am Ring gebracht. Deshalb haben wir damals einerseits eine Katastrophe gesehen, auf der anderen Seite aber das Erwachen von Bürgerstolz und Bürgergemeinschaft."
Solche Geschichten erzählt Chris Baldwin nicht nur Journalisten oder Gästen der Stadt: Er erzählt sie den Polen selber. Das Jahr, in dem die Stadt Kulturhauptstadt sein wird, solle die Menschen hier auch selbstbewusster machen, meint er.
"Die Menschen sind sich nicht im Klaren darüber, welche Rolle menschliche Werte in dieser Stadt wieder spielen, wie erfolgreich sie ist. 180.000 junge Menschen studieren hier an Universitäten. Hier gibt es Theater auf europäischem Spitzenniveau. Mir kommt es manchmal so vor, als ob Breslau und ganz Polen sich nicht wirklich bewusst sind, was für eine dynamische europäische Nation sich hier entwickelt hat."
Das ist allerdings nicht ganze Wahrheit. Denn eine solche Entwicklung stößt immer wieder auf Widerstand, auch im weltoffenen Breslau.
Ein Mittwochabend im vergangenen November. Zwei ultranationalistische Gruppierungen versammeln sich auf dem Marktplatz. Sie grölen Parolen gegen den Islam und gleichzeitig gegen Israel. Doch dabei bleibt es nicht. Sie haben eine Puppe mitgebracht, mit schwarzem Hut und Schläfenlocken. In der linken Hand hält sie die Fahne der Europäischen Union.
Am Ende der Demo wird die Puppe, die Karikatur eines Juden, mit Benzin übergossen und unmittelbar vor dem Breslauer Rathaus verbrannt.
Ein paar hundert Meter von dort entfernt sitzt Aleksander Gleichgewicht im jüdischen Café, direkt neben der Breslauer Synagoge. Er ist Vorsitzender der jüdischen Glaubensgemeinde der Stadt.
"Ich habe meine Empörung darüber ausgedrückt, dass die Polizei nicht eingegriffen hat und später auch die Staatsanwaltschaft so faul und träge reagiert hat. Ich frage mich, warum das so ist. Meiner Ansicht nach sollten sich unsere Abgeordneten damit beschäftigen. Schlimmer ist allerdings - und auch das ist in Polen schon vorgekommen - wenn die Staatsanwaltschaft an die Wände geschmierte Hakenkreuze als indisches Sonnensymbol interpretiert."
Der polnische Vize-Regierungschef und Kulturminister Piotr Glinski ist erst wenige Tage im Amt, will aber bereits am Polnischen Theater in Breslau ein missliebiges Stück absetzen lassen.
Der polnische Vize-Regierungschef und Kulturminister Piotr Glinski ist erst wenige Tage im Amt, will aber bereits am Polnischen Theater in Breslau ein missliebiges Stück absetzen lassen.© picture alliance / dpa
Aleksander Gleichgewicht erinnert aber auch die Gegendemonstrationen, die der nationalistischen Kundgebung folgten - und die deutlich zahlreicher waren.
"Die Versammlung der Nationalisten durfte einfach nicht zum Vorspiel für unser Jahr als Kulturhauptstadt werden. Sie hat uns daran erinnert, dass wir die europäischen Werte verteidigen müssen. Bei einem Konzert für Offenheit und Toleranz sind daraufhin zahlreiche hervorragende Breslauer Künstler aufgetreten. Das war dann das eigentliche Präludium zum Jahr als Kulturhauptstadt."
Aleksander Gleichgewicht zeigt die imposante Synagoge zum Weißen Storch, eines von zwei heute noch genutzten jüdischen Gotteshäusern. Das Gebäude ist im klassizistischen Stil erbaut. Im Inneren stützt sich die doppelstöckige Galerie auf elegante helle Bögen. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte die jüdische Gemeinde in Breslau 22.000 Mitglieder, die Reformgemeinde nicht mitgerechnet. Heute sind es noch 250. Dennoch bemüht sie sich um Traditionspflege.
"Das ist ein Ner Tamid, ein Ewiges Licht. Probieren sie mal, das sind zwei, drei Kilogramm reines Silber, hergestellt 1811 in Breslau. Was in den folgenden 200 Jahren mit dieser Lampe passiert ist, wissen wir nicht. Unser Geheimdienst, wie ich scherzhaft sage, hat sie in einem Warschauer Antiquariat entdeckt hat, 45.000 Zloty, 10.000 Euro, viel Geld für unsere arme Gemeinde. Aber wir haben einen Sponsor gefunden."
Etliche Veranstaltungen zum Kulturjahr werden in der Synagoge stattfinden. Die jüdische Gemeinde hat keine Berührungsängste: Vor kurzem tanzten Derwische auf der Bühne, die in das Gotteshaus integriert ist.
Inzwischen bittet die Presseabteilung der Kulturhauptstadt Journalisten, Kuratoren und Beteiligten keine Fragen zur polnischen Politik zu stellen. Die werden sich aber kaum umgehen lassen. Denn Polen hat seit zwei Monaten eine neue Regierung, die europäische Werte auf ihre ganz eigene Weise interpretiert. Sie legte das Verfassungsgericht lahm und schränkte damit die Gewaltenteilung ein. Außerdem macht sie sich daran, die volle Kontrolle über das öffentliche Radio und Fernsehen zu übernehmen.
Die immer massivere Kritik aus der EU wehrte der Vorsitzende der rechtskonservativen Regierungspartei PiS, Jaroslaw Kaczynski, vor wenigen Tagen ab:
Toleranz und Vielfalt kommen bei PiS nicht vor
"Die polnische Regierung verteidigt die Demokratie gegen den von Konzernen regierten Staat, sie verteidigt die Bürgerrechte. Die Religionsfreiheit, die heute im westlichen Europa zutiefst gefährdet ist, ja, die es an vielen Orten gar nicht mehr gibt. Sie verteidigt auch die Meinungsfreiheit, die unter dem Namen der politischen Korrektheit vielerorts eingeschränkt oder aufgehoben wurde. Polen ist heute eine Bastion des echten Europa."
Europäische Werte wie Toleranz und kulturelle Vielfalt, wie sie in Breslau 2016 gepriesen werden sollen, kommen in der Rhetorik der Regierungspartei PiS allerdings kaum vor.
Die Breslauer haben den neuen Wind, der aus der Hauptstadt Warschau weht, schon zu spüren bekommen. Kulturminister Piotr Glinski wollte eine Theateraufführung im staatlichen Polnischen Theater verhindern. Die Bezirksverwaltung von Niederschlesien jedoch weigerte sich einzugreifen, die Premiere fand statt. Die gleichen Ultranationalisten, die kurz zuvor eine Juden-Puppe verbrannt hatten, wollten nun den Eingang zum Theater absperren. Die Polizei musste einen Korridor bilden, damit die Besucher ins Gebäude gelangten.
In der Bevölkerung wächst der Widerstand gegen die Regierung. In Warschau und auch in Breslau gingen schon Zigtausende auf die Straße. Das mache ihm Mut, sagt Krzysztof Ruchniewicz, der Leiter des Breslauer Willy-Brandt-Zentrums.
"Das war eine ganz große Überraschung für das Regierungslager, damit haben sie überhaupt nicht gerechnet. Diese Demonstrationen haben gezeigt, dass die Zivilgesellschaft sehr stark ist. Das heißt, die beobachtet ganz genau. Vielleicht wird sich daraus etwas Größeres machen, wenn die Bevölkerung jetzt feststellt, dass Errungenschaften der letzten 25 Jahre jetzt einfach kaputt gemacht werden."
Wird sich Breslau als Europäische Kulturhauptstadt positionieren? Bürgermeister Rafal Dutkiewicz, der seine eigene, lokale Partei gegründet hat, gilt als Gegner der neuen Regierung. Im Stadtrat arbeitet er mit der rechtsliberalen Oppositionspartei "Bürgerplattform" zusammen.
Das Neue Horizonte Festival ist auch in der Innenstadt von Breslau. 
Das Neue Horizonte Festival ist auch in der Innenstadt von Breslau. © imago / Eastnews
Im Rahmen des Kulturhauptstadt-Programms sind bisher keine politischen Diskussionen vorgesehen. Chris Baldwin, Regisseur der geplanten Großereignisse, glaubt allerdings, dass Breslau quasi von Natur aus einer nationalistischen Politik widerstehen werde.
"Es gibt über 135 Brücken hier in der Stadt. 90 Prozent davon wurden von Deutschen gebaut. Von diesen 90 Prozent wiederum sind sehr viele von deutschen Architekten mit jüdischer Abstammung konzipiert worden. Das Gewebe dieser Stadt erzählt Dir von der Vielfalt der Identitäten, die mit ihr verbunden sind. Das kannst Du nicht leugnen. Alle möglichen Spuren und Ideen hier sagen uns, dass ein Konzept einer puren, reinen Identität in einer Stadt wie dieser nicht haltbar ist."
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