Europäische Union

Die wirklich große Krise kommt jetzt

Sicherheitskräfte und Flüchtlinge an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien
Sicherheitskräfte und Flüchtlinge an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien © dpa/picture-alliance/ Georgi Licovski
Von Barbara Wesel · 22.08.2015
Weltweit sind so viele Menschen auf der Flucht wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Zu Hunderttausenden kommen sie auch in Länder der EU. Die Flüchtlingskrise sei die wahre Prüfung für Europa, meint Barbara Wesel.
Die Sommerpause fällt in Brüssel in diesem Jahr aus. Dafür sorgen dramatische Fernsehbilder von irakischen Familien, die auf griechischen Ferieninseln landen und dort auf die Unfähigkeit der Behörden stoßen. Über 100.000 Flüchtlinge erreichen inzwischen pro Monat die Ufer der Europäischen Union.
Dabei hat man gerade mit Ach und Krach und großem Kommentatoren-Geschrei die griechische Finanzkrise überstanden. Üblicherweise kommt in der EU nach so heftigem Streit und so mühsamer Konsensbildung eine Zeit der bürokratischen Langeweile, eine Art Ausatmen des politischen Körpers. Aber Entspannung ist in diesem Sommer gestrichen. Die Rettung Griechenlands vor der Staatspleite dürfte allenfalls ein Vorgeplänkel gewesen sein. Die schiere Masse der Flüchtlinge aus den Krisen- und Kriegsgebieten Afrikas und des Mittleren Ostens zwingt die Europäer jetzt, sich einem ihrer größten Versäumnisse zu stellen: Sie haben keine praktikable, humane und faire Flüchtlings- und Migrationspolitik.
Augen zu und durch
Hier hat die EU jahrelang nach der Devise gelebt: Wenn wir die Augen zukneifen, dann sieht keiner die Konstruktionsfehler unserer Politik.Am Beispiel der Griechenland-Rettung lässt sich noch einmal zeigen, wie dieses Europa funktioniert: Die Gegensätze prallen offen aufeinander, die Positionen scheinen unversöhnlich.
Spielen heißblütige Südeuropäer mit, gibt es auch Beleidigungen, Türen-Schlagen und Theaterdonner. Am Ende sorgen die Erwachsenen dafür, dass eine Art Lösung geschaffen wird, mit frischem Geld und salvatorischen Formeln. Zu diesem Kreis gehören immer Deutschland, die Niederlande, manchmal Frankreich und ein paar weitere Länder, die Gemeinschaftssinn und Nationalinteresse in Einklang bringen können.
Zuletzt hat der große Skeptiker Wolfgang Schäuble im Bundestag gezeigt, wie das geht. Monatelang ertrug er die giftigen Vorwürfe griechischer Neo-Marxisten und angelsächsischer Post-Keynesianer mit Gleichmut. Und er bewies schließlich noch einmal, dass Disziplin für ihn die höchste politische Tugend ist. Ohne Leidenschaft, aber pflichtgemäß verteidigte er das dritte Rettungsprogramm, an dessen Chancen er aus Erfahrung kaum glauben mag, das aber unter den Umständen für Europa die beste politische Lösung scheint.
Jetzt aber zieht die nächste große europäische Krise auf, und Angela Merkel hat schon vorhersagt, dass sie wohl viel schwerwiegender wird. Das beginnt bei der Zuständigkeit: Asylpolitik ist Sache der Mitgliedsländer, Brüssel ist hier weitgehend außen vor, und der betreffende Posten in der EU Kommission eher schwach besetzt. Präsident Jean-Claude Juncker hat zwar schon im Frühjahr die Brisanz des Themas erkannt und es zur Chefsache erklärt, sich aber an der Bockbeinigkeit der europäischen Regierungen bislang die Zähne ausgebissen.
Sein erster Versuch, gerade einmal 60.000 anerkannte Flüchtlinge nach einem fairen Verteilungsschlüssel unterzubringen, scheiterte am Starrsinn einer Ablehnungsfront vorwiegend aus Osteuropa. Wobei Großbritannien einmal mehr zeigte, dass es sich aus jeder konstruktiven Europapolitik abgemeldet hat und sofort sein Opt-out in Anspruch nahm. Der Ausbau von Calais zur Hochsicherheitszone ist nur ein weiteres Zeichen für die Totalverweigerung der Regierung Cameron. An jeder Straßenecke zitiert der Premier nur noch das "nationale Interesse" Großbritanniens – leider gibt er damit für ein paar andere Regierungschef den Ton an.
Schnell kommt ein hysterischer Ton auf
Denn der Streit um die Verteilung der Flüchtlinge in Europa geht um eines der letzten Bollwerke nationaler Selbstbestimmung: Die Frage, wer in einem Land zu welchen Bedingungen leben oder gar Bürger werden darf. Kaum ein Thema ist so sensibel, so von Emotionen bestimmt. In den meisten Ländern kommt bei der Debatte um die Aufnahme von "Fremden" schnell ein hysterischer Ton auf, der leicht in Ausländerhass umschlägt und rechtsnationalistischen Parteien zum Aufschwung verhilft. Aus Angst vor dem Front National zeigt sich die französische Regierung hartleibig gegen Flüchtlinge. Aus Angst vor Ukip hat sich Premier Cameron zum Vorkämpfer einer regelrechten Anti-Ausländer-Politik gewandelt. Da finden sich die Deutschen derzeit in der Rolle der Guten und haben sogar die englischsprachige Presse auf ihrer Seite: Berlin wahre quasi im Alleingang die humanitären Werte Europas, lobt etwa die "Financial Times".
Daran können wir uns vorübergehend freuen. Aber alle Flüchtlinge bei uns aufzunehmen löst das Problem nicht. 60 Prozent der gegenwärtig Ankommenden, so schätzen Hilfsorganisationen, sind tatsächlich schutzberechtigt. Sie können nicht nur von Schweden und Deutschland aufgenommen werden. Das hat weniger finanzielle als politische Gründe: Die neuerdings erfreuliche Hilfsbereitschaft und Akzeptanz bei vielen Bürgern kann nicht grenzenlos ausgedehnt werden. Sie muss vor allem durch das Gefühl der Fairness gestützt werden. Und daran fehlt es völlig. Denn bisher funktioniert Flüchtlingspolitik in der EU nach dem St. Florians-Prinzip: Jeder ist froh, wenn die Migranten woanders hängen bleiben.
Die Mutter aller Schlachten steht bevor
Der Kampf aber um Neuformulierung dieser Politik in der EU, die das dysfunktionale und absurde Dublin-Verfahren ablösen muss, wird die Mutter aller politischen Schlachten in Europa. Bisher müssten theoretisch die Ankunftsländer Italien und Griechenland alle Asylsuchenden bei sich aufnehmen, faktisch ist das unmöglich und sie verteilen sich auf illegalen Wegen in Europa. Hier ein Verfahren einzuführen, das alle gerecht an den Belastungen beteiligt, wird schwieriger sein als alles, was die EU bisher bewältigt hat. Denn angesichts eines erkennbaren Trends zur Renationalisierung von Politik rührt die Flüchtlingsfrage an den Kernbestand nationaler Selbstbestimmung, und die wird von vielen Ländern mit Zähnen und Klauen verteidigt.
Richten wir uns auf eine lange Reihe nächtlicher Gipfeltreffen ein, bei denen die Fetzen fliegen werden. Und Chancen für einen Erfolg gibt es nur dann, wenn die Bundeskanzlerin tut, was sie am liebsten meidet: Die Rolle der Vorreiterin und mächtigsten Regierungschefin der EU einzunehmen. Denn außer ihr gibt es derzeit keine Europäer von Gewicht. Überall wird klein, feige und national gedacht. Wenn Angela Merkel noch einen Platz im europäischen Geschichtsbuch will: Der Kampf um eine menschenwürdige Flüchtlingspolitik ist ihre Chance.
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