Europäische Union

"Cameron versucht, die EU zu erpressen"

Der britische Premier David Cameron diskutiert mit Bundeskanzlerin Angela Merkel im Garten von Schloss Meseberg bei Berlin.
Der britische Premier Cameron will im Gespräch mit Angela Merkel Veränderungen in der EU erreichen © picture alliance / dpa / Fabrizio Bensch / Pool / Archiv
Eckart Stratenschulte im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 29.05.2015
Der Politologe Eckart Stratenschulte hat dem britischen Ministerpräsidenten David Cameron vorgeworfen, ohne konkrete Forderungen nach Berlin zu kommen. Stattdessen erpresse der britische Premierminister die EU und die eigene Bevölkerung.
Cameron transportiere ein generelles Unbehagen an der Europäischen Union, sagte der Leiter der Europäischen Akademie Berlin am Freitag im Deutschlandradio Kultur. Das gebe es in Großbritannien, aber der britische Premierminister verstärke es noch zusätzlich durch seine Aktionen. "Er reist jetzt durch die Lande und sagt: Ich fühle mich nicht wohl, was könnten wir denn mal ändern", sagte Stratenschulte. "Es gibt keinen konkreten Forderungskatalog, über den man dann reden könnte." Auf der allgemeinen Ebene zu sagen, die EU müsse besser und weniger bürokratisch werden, da werde man sich schnell einig. "Aber, was das konkret bedeutet, darüber gibt es weitestgehend Stillschweigen aus London", sagte der Politologe.
Kalte Dusche für Cameron?
"Cameron versucht im Moment über die Bande zu spielen", sagte Stratenschulte über das geplante Referendum in Großbritannien. "Er versucht, die EU zu erpressen mit seiner eigenen Bevölkerung und sagt, ich muss ja etwas ändern, Ihr müsst mir etwas geben, sonst gehen die raus." Auf der anderen Seite versuche der britische Premier seine eigene Bevölkerung zu erpressen. "Das Ergebnis könnte sein, dass Cameron eine kalte Dusche bekommt und hinterher die Entwicklung in eine Richtung geht, die er persönlich ja nicht will." Cameron wolle Großbritannien in der EU halten. "Er tut aber eigentlich alles, um sein Land aus den europäischen Strukturen zu entfernen."
Keine Rede von Masseneinwanderung in Sozialsysteme
Statenschulte unterstrich, dass die Freizügigkeit ein Grundmerkmal der europäischen Integration sei. "Wer daran rüttelt, der gefährdet wirklich alles, was wir in den letzten 50 Jahren entwickelt haben", kritisierte der Politologe Forderungen nach weniger Arbeitnehmer-Freizügigkeit in der EU. "Es ist ja auch heute nicht so, dass jeder in ein anderes Land gehen kann und sagen kann, macht mich glücklich, gebt mit soziale Unterstützung und ich bleibe einfach hier." Die EU biete Regelungen an, damit EU-Bürger die Chance hätten, in einem anderen Land Arbeit zu suchen. "Von einer Masseneinwanderung in die Sozialsysteme, die ja auch bei uns gelegentlich beschworen wird, kann in Wirklichkeit keine Rede sein."

Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Die Europäische Union gehört reformiert, sagen die Briten, sie soll nicht mehr so ein Bürokratiemonster sein, sagen die Briten auch, und Brüssel soll nicht mehr so viel hineinregieren in die nationalen Belange – auch das sagen die Briten. Wir könnten so weitermachen, und vielleicht sagen Sie jetzt, stimmt doch, recht haben sie, die Briten. Ja, dann wäre eigentlich alles ganz einfach in Europa, ist es aber bekanntlich nicht, und deshalb haben wir uns heute, da David Cameron, der britische Premier, mit Forderungen oder sagen wir Ideen an die EU nach Warschau und Berlin reist, nachdem er schon in den Niederlanden und Frankreich gewesen ist, einen ausgewiesenen Europakenner geholt. Er ist jetzt am Telefon, Professor Eckart Stratenschulte, Direktor der European Academy in Berlin. Schönen guten Morgen!
Eckart Stratenschulte: Ja, wunderschönen guten Morgen!
von Billerbeck: Gehören Sie auch zu denen, die die britischen Forderungen an die Europäische Union unterstützen?
Stratenschulte: Haha, wenn man mal wüsste, was die britischen Forderungen sind.
von Billerbeck: Oha!
Stratenschulte: Das ist ja auch völlig unklar. Cameron transportiert ein generelles Unbehagen an der Europäischen Union – das gibt es in Großbritannien, das verstärkt er natürlich auch durch diese Aktionen –, und er reist jetzt durch die Lande und sagt, ich fühle mich nicht wohl, was könnten wir denn mal ändern. Es gibt keinen konkreten Forderungskatalog, über den man dann reden könnte. Auf der allgemeinen Ebene zu sagen, es muss besser werden, es muss weniger bürokratisch werden, ja, da sind wir uns ja schnell einig, aber was das konkret bedeutet, darüber gibt es weitestgehend Stillschweigen aus London.
Missverständnis auf beiden Seiten
von Billerbeck: Das heißt, dann machen wir's doch mal konkret: Welche Forderungen müsste er denn eigentlich stellen oder sollte er direkt stellen?
Stratenschulte: Das ist wirklich die Schwierigkeit. Ich glaube, der britische EU-Beitritt war von Anfang an ein Missverständnis von beiden Seiten. Die Briten haben gedacht, die Kontinentaleuropäer meinen die „Ever Closer Union", also die immer enger werdende Union, die schon in den römischen Verträgen steht, nicht ernst, die Kontinentaleuropäer haben gedacht, na ja, wenn die Briten erst mal drin sind, dann werden sie das schon lernen und akzeptieren.
Das Ergebnis ist ein generelles Unwohlsein Großbritanniens in der Europäischen Union, was auch dazu geführt hat, dass es eine Reihe von Ausnahmetatbeständen für Großbritannien gibt. Aber dieses Unbehagen konkretisiert sich jetzt nicht in Forderung A, B, C, sondern mal in diesem, mal in jenem – dann geht's um die Freizügigkeit, dann geht's um die Bürokratie, dann geht's um die Zusammenarbeit im Rechts- und Innenraum, also das ist ganz schwierig. Wenn Cameron mal eine konkrete Tagesordnung hätte und würde sagen, es geht um Punkt eins, zwei, drei, ja, dann könnte man ja reden. So ist es sehr schwierig.
von Billerbeck: Aber nun hat er ja einen ziemlich guten Wahlsieg eingefahren, der britische Premier, und kommt da so ein bisschen mit breiter Brust und übt ja auch Druck in beide Richtungen aus – einerseits auf die Europäer, selbst wenn die Forderungen jetzt erst mal wolkig sind, andererseits auch auf seine Landsleute. Da geht's ja um das Referendum: Bleiben wir in der EU, gehen wir raus. Kann so eine Strategie eigentlich funktionieren?
Stratenschulte: Cameron versucht im Augenblick, über die Bande zu spielen. Er versucht die EU zu erpressen mit seiner eigenen Bevölkerung und sagt, ich muss ja etwas ändern, ihr müsst mir etwas geben, sonst gehen die raus, und dann versucht er die Bevölkerung zu erpressen mit der EU und sagt, ihr müsst das akzeptieren. Das Ergebnis könnte sein, dass Cameron eine kalte Dusche bekommt und hinterher die Entwicklung in eine Richtung geht, die er persönlich ja nicht will. Er will Großbritannien in der EU halten, er tut aber eigentlich alles, um sein Land aus den europäischen Strukturen zu entfernen.
Keine Extrawürste
von Billerbeck: Aber Großbritanniens Versuch, die Freizügigkeit in Europa einzuschränken, die könnte doch auch in deutschem Interesse sein, denn auch Deutschland hat leere Kassen und ist nicht scharf darauf, mehr Arbeitslosengeld an zugezogene Europäer zu zahlen.
Stratenschulte: Ja, aber das ist doch ein Randproblem, und die Freizügigkeit ist ein Grundmerkmal der europäischen Integration. Wer daran rüttelt, der gefährdet wirklich alles, was wir in den letzten 50 Jahren entwickelt haben. Es ist auch heute nicht so, dass jeder in ein anderes Land gehen kann und sagen kann, macht mich glücklich, gebt mir soziale Unterstützung und ich bleibe einfach hier. Es geht aber darum, dass es Regelungen gibt, dass wenn jemand in einem anderen Land auch Arbeit sucht, also Teil der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist das, er dann auch Unterstützung bekommt, damit er überhaupt die Chance hat, einen Job zu finden. Nur darum geht's ja.
Von einer Masseneinwanderung in die Sozialsysteme, die ja auch bei uns gelegentlich beschworen wird, kann in Wirklichkeit keine Rede sein. Und man könnte so etwas nicht ändern, ohne die europäischen Verträge zu ändern. Dann schnürt man allerdings ein Paket auf, von dem nicht klar ist, ob man es hinterher wieder zubekommt. Denn, wenn Großbritannien sagt, wir haben hier nur zwei, drei Extrawürste, die wir gerne gebraten hätten, darf man sich nicht wundern, wenn die anderen 27 auch mit jeweils zwei, drei Extrawürsten kommen. Dann sind wir schon bei 70, 80 Extrawürsten. Ob wir das dann noch mal zusammenbekommen, das ist die große Frage.
von Billerbeck: Klingt nach einem fürchterlich europäischen Fleischerladen. Cameron fordert ja auch ein Vetorecht der Nationalstaaten, und da denkt man ja auch immer, ja, eigentlich doch prima, aber wenn man's zu Ende denkt, dann ist das doch das Ende der EU.
Stratenschulte: Ja, das ist genau das Problem. Wenn Sie sagen, bei jeder einzelnen Entscheidung – es gibt bestimmte Entscheidungen, die immer noch einstimmig getroffen werden müssen –, aber wenn man sagt, wir drehen das jetzt wieder zurück, es muss alles einstimmig getroffen werden, dann kann man sich bei 28 Staaten überlegen, wie viel man noch zusammenbekommt. Dazu würde so etwas auch die Kompromissbereitschaft völlig reduzieren, denn wenn jeder sagt, ich muss mich nur zurücklehnen und nein sagen, dann kann gar nichts passieren, dann ist er auch nicht bereit, sich zu bewegen. Anders als wenn man sagt, ich muss Einfluss nehmen, sonst könnte ich überstimmt werden. Also mit diesem Prinzip kommen wir in Europa überhaupt nicht weiter.
Großbritannien soll sich im Referendum entscheiden
von Billerbeck: Wie schlimm wäre es denn, wenn die Briten sich tatsächlich ausklinken würden aus der EU?
Stratenschulte: Das wäre schade. Großbritannien ist ein wichtiger Partner. Sie sind ja auch pragmatische, vernünftige Leute. In vielem deutschen Positionen durchaus nahe, wenn es um den Binnenmarkt geht. Wenn es um ihre Forderung geht nach Vollendung des digitalen Binnenmarktes. Sie sind in der Außen- und Sicherheitspolitik ein wichtiger Spieler, aber das ist wie im Privaten auch: Sie können nicht in einer Beziehung zusammenbleiben, wenn ein Partner das nicht will.
Insofern denke ich, ist das Referendum wirklich positiv, dass man sich in Großbritannien jetzt einmal entscheiden muss, will man eigentlich in der EU sein oder nicht. Sollten die Briten sagen, sie möchten das nicht, dann werden wir überlegen müssen, wie wir sie eng an uns anbinden können. Da gibt es ja Konstruktionen wie den europäischen Wirtschaftsraum, sodass sie dann weiterhin Mitglied des Binnenmarktes wären – Kooperation in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, darüber muss man dann reden. Also, es wäre schön, sie blieben drin, es ist hinnehmbar, wenn sie rausgehen. Das Schwierigste ist die Situation im Augenblick, wo sie auf dem Zaun sitzen und sagen, wir wissen eigentlich nicht, ob wir mitspielen wollen oder nicht.
von Billerbeck: Eckart Stratenschulte war das, der Direktor der European Academy, über die Strategie des britischen Präsidenten und das, was daraus folgen könnte. Danke Ihnen für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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