Europa muss autoritärer werden

Von Günter Müchler · 05.12.2011
Europa braucht mehr Führungsstärke. Wem sich bei dem Wort "autoritär" der Magen umdreht, befindet sich nicht unbedingt auf dem richtigen Dampfer. Ein Staatenverbund, dem die Fähigkeit abgeht, die Aufgaben zu bewältigen, verliert zuerst das Ansehen, dann die Legitimität, meint Günter Müchler.
Als vor zwanzig Jahren der Vertrag von Maastricht fertig war, sagte Helmut Kohl Europa säkulare Veränderungen voraus. Die Veränderungen haben stattgefunden, aber vornehmlich um Europa herum. Dem Toben der Globalisierung steht der alte Kontinent unangepasst gegenüber. Europa muss wählen, ob es zurückfällt auf die Gestalt einer Maulwurfshügellandschaft oder ob es in der Welt eine Zukunft gewinnen will, die seiner Geschichte und seiner Kultur angemessen ist.

Im Moment geben die Pessimisten den Ton an, sieht man von Henry Kissinger ab, der dieser Tage verlautbarte, Europa werde es schon schaffen, irgendwie. Die Hoffnung klammert sich an die historische Erfahrung, dass große Krisen immer auch Chancen bieten. Sie können das Notwendige beschleunigen und für Klarsicht sorgen.

Diese Dialektik scheint sich in der aktuellen Staatsschuldenkrise zu bestätigen. Jedenfalls werden inzwischen die Dinge beim Namen genannt. Die Botschaft an die Griechen: "Ihr müsst entscheiden, ob ihr den Euro behalten wollt oder nicht" war ebenso Klartext wie Joschka Fischers "vergesst dieses Europa der siebenundzwanzig". Während seiner Amtszeit als Bundesaußenminister hatte Fischer die Ausuferungen der Union noch tatkräftig gefördert.

Fischers Forderung nach einer "Avantgarde", die Europa führen müsse, ist kein neuer Gedanke. Aber die Krise eröffnet die Möglichkeit zu tun, was bisher folgenlos hin- und hergewälzt wurde. Europa muss autoritärer werden. Wem sich bei diesem Wort der Magen umdreht, befindet sich nicht unbedingt auf dem richtigen Dampfer. Ein Staatenverbund, der jeden Tag vorführt, dass ihm die Fähigkeit abgeht, die gestellten Aufgaben zu bewältigen, verliert zuerst das Ansehen, dann die Legitimität. Irgendwo auf dieser Strecke steht das organisierte Europa heute.

Angela Merkel und Nicolas Sarkozy haben das erkannt. Ob sie die richtige Formel gegen die Schuldenmacherei besitzen, steht dahin. Zweifel sind angebracht. Aber die beste Lösung, von Thinktanks erdacht, von Gutachtern mit Gütesiegeln versehen, nützt nichts, wenn sie nicht durchgesetzt werden kann. Deshalb sind aller Augen auf Merkel und Sarkozy gerichtet. Die Art und Weise, wie sie erst Griechenland, dann Italien unter Kuratel stellten, war kühn und ohne Beispiel.

Obendrein ließen die Partner sie gewähren. "Ich habe weniger Angst vor deutscher Macht, als ich anfange, mich vor deutscher Inaktivität zu fürchten". Der Satz stammt vom polnischen Außenminister Sikorski und zählt deshalb doppelt. Er sollte Mut machen. Am Ende werden die Partner es vorziehen, dass Merkel und Sarkozy das Heft in die Hand nehmen, statt gemeinschaftlich und regelkonform in den Abgrund zu stürzen.

Auch Fischer hat mit seiner Provokation nur gelinden Widerspruch geerntet. Die Entwicklung, die jetzt vorangetrieben werden muss, wird an Kommission und Parlament vorbeigehen. Das mag man bedauern. Aber wie die Dinge liegen, verfügen nur die Staaten über die geforderte Handlungsfähigkeit, konkret: die Regierungen der starken Staaten.

Im Ansatz hat die Krise schon hervorgebracht, was Europa braucht: ein Direktorium. Langfristig wird es das "couple franco-allemand" überwölben müssen. Zwar wird auch künftig ohne Deutschland und Frankreich nichts gehen. Aber es ist unwahrscheinlich, dass beide immer am gleichen Strang ziehen. Der Deutsche Bund, in dem sich die Vormächte Habsburg und Preußen gegenseitig blockierten, ist kein Vorbild für Europa.

Einer Union höchst unterschiedlicher Staaten eine funktionstüchtige Führung zu geben, die den Zusammenhalt nicht sprengt, ist ein schwieriges Unterfangen. Und doch muss es gelingen. Sonst ist die Renationalisierung Europas unausweichlich und die Chance, die in der Krise steckt, vertan.

Dr. Günter Müchler studierte Politikwissenschaften, Neuere Geschichte und Zeitungswissenschaften. Er arbeitete als Redakteur der Günzburger Zeitung und der Deutschen Zeitung/Christ und Welt, später als Bonner Korrespondent der Augsburger Allgemeinen und der Kölnischen Rundschau (1974 –1987). Im Deutschlandfunk war er Leiter der Aktuellen Abteilung, Chefredakteur und Programmdirektor, zuletzt auch von Deutschlandradio Kultur (bis 2011). Buchveröffentlichungen: "CDU/CSU-Das schwierige Bündnis" (München 1976) und "Wie ein treuer Spiegel. Die Geschichte der Cotta’schen Allgemeinen Zeitung" (Darmstadt 1998).
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Günter Müchler© Deutschlandradio - Bettina Fürst-Fastré
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