Europa ist längst nicht am Ende

Von Ulrich Woelk · 10.09.2012
Die Krise lässt inzwischen viele an Europa zweifeln. Dabei gibt es europäische Erfolgsgeschichten, die wir nur zu selten wahrnehmen. Ein Beispiel dafür sind die wissenschaftlichen Triumphe des Kernforschungszentrums CERN, meint der Physiker Ulrich Woelk.
Europa treibt auch mir die eine oder andere Sorgenfalte auf die Stirn. Ich frage mich, ob der Euro bestand haben wird, ob nach Griechenland und Portugal bald Spanien und Italien vor den Staatsbankrott stehen und ob am Ende nicht auch Deutschland mit in den Abwärtsstrudel gezogen werden wird.

Die europäische Währungsunion scheint so etwas zu sein wie eine Party, die vorbei ist. Und jetzt, da das Licht angeht, kommen überall die Scherben und leeren Flaschen zum Vorschein. Es muss aufgeräumt werden, und dabei brechen sämtliche beim Feiern vergessenen Animositäten und Antipathien wieder auf.

Aber ist das so? Ist die Europa-Party gelaufen? Oder gibt es nicht doch auch europäische Erfolgsgeschichten, die wir nur zu selten wahrnehmen, weil wir dazu neigen, immer zuerst das zu sehen, was uns Probleme bereitet, anstatt das, was funktioniert? Beruht die europäische Idee wirklich nur auf Geld – oder nicht auch auf Kultur und Wissenschaft?

Zwölf europäische Staaten haben 1953 in Genf das europäische Kernforschungszentrum CERN gegründet: das Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire. Ein Antrieb für diese Initiative war zweifellos auch der Wunsch, in dem tief zerstrittenen und durch zwei Kriege vielfach noch zerstörten Kontinent durch ein gemeinsames Forschungsprojekt ein Zeichen für Versöhnung und Verständigung zu setzen.

Die am CERN zunächst betriebene Erforschung der Kernenergie wurde sehr rasch durch die grundsätzliche Erforschung der Struktur der Materie ergänzt und ersetzt. Teilchenbeschleuniger wurden gebaut, wobei die Erfindung einer neuen Generation von Detektoren in den 60er-Jahren einen ersten wissenschaftlichen Höhepunkt darstellte. Georges Charpak erhielt dafür 1992 den Physik-Nobelpreis.

Seither ist die Geschichte des CERN eine der wissenschaftlichen Erfolge, ja sogar Triumphe. 1983 wurde mit der Entdeckung der W- und Z-Bosonen unser Verständnis vom Aufbau der Materie entscheidend vorangebracht, 2002 gelang erstmals die Produktion und Speicherung von Antimaterie, und seit zwei Monaten steht das CERN mit der Entdeckung des Higgs-Bosons erneut an der Spitze der kernphysikalischen Forschung.

Die Community aus Wissenschaftlern und Technikern, die all dies leistet, ist zwar schon lange keine rein europäische mehr, weil es brillante Forscher überall auf der Welt gibt. Aber gerade dass diese Elite aus derzeit 85 Staaten nach Genf kommt, um dort zu arbeiten, zeigt die einzigartige Bedeutung des CERN, das mittlerweile die größte kernphysikalische Forschungseinrichtung der Welt ist und dessen Budget zu 95 Prozent von der EU aufgebracht wird.

Nun könnte man gegen diesen unbezweifelbaren Triumph einer europäischen Idee und Institution einwenden, dass den Menschen in Griechenland die Entdeckung eines neuen Elementarteilchens in ihren momentanen Nöten herzlich wenig nichts nützt. Weder werden dadurch die griechischen Schuldenberge abgetragen noch die Staatsfinanzen Spaniens oder Portugals saniert.

Aber es ist immer falsch, die geistig-kulturellen Interessen einer Gemeinschaft gegen ihre materiellen Bedürfnisse auszuspielen. Das Jahresbudget des CERN liegt bei ungefähr einer Milliarde Euro – eine absolute Marginalie verglichen mit den Beträgen, die derzeit auf europäischer Ebene zur Banken- und Staatenrettung beinahe im Wochenrhythmus hin und her bewegt werden.

Auch wenn niemand wissen kann, wie es mit Europa weitergeht, so ist eines doch ziemlich gewiss: Die europäische Finanzkrise wird in 30 Jahren ein Teil der Geschichte sein, an den man sich vielleicht nur noch in groben Zügen erinnert. Die am CERN gefundenen Zusammenhänge dagegen sind unvergänglich. Sie sind ein Teil des festgefügten Bauplans der Natur, den wir mit jeder neuen Entdeckung ein wenig besser verstehen. Durch das europäische Projekt des CERN wird die Menschheit tatsächlich klüger - und das ist schon ein guter Anlass, zur Abwechslung auch einmal die europäischen Sektkorken knallen zu lassen.

Ulrich Woelk, geboren 1960 in Köln, studierte Physik in Tübingen und Berlin. Sein erster Roman, "Freigang", erschien 1990 im S. Fischer Verlag und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Seit 1995 lebt Ulrich Woelk als freier Schriftsteller in Berlin. Seine Romane und Essays sind unter anderem ins Chinesische, Französische, Englische und Polnische übersetzt. Zuletzt erschien "Joana Mandelbrot und ich".
Ulrich Woelk
Ulrich Woelk© Bettina Keller
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