Europa in der Krise

"Die Vielfalt als Stärke begreifen"

Ein Flüchtlingskind berührt am 18.09.2015 ein EU-Schild im Bahnhof von Tovarnik in Kroatien mit der Hand.
Schlamm und Regen setzen den schutzsuchenden Menschen in Idomeni zu: Europa gibt derzeit ein trauriges Bild ab © picture alliance / dpa / Gregor Fischer
Ralf Fücks im Gespräch mit Dieter Kassel · 10.03.2016
Europa steckt in einer veritablen Krise. Was ist die Antwort darauf? Mehr Integration, die Vereinigten Staaten von Europa? Der grüne Vordenker Ralf Fücks will eher in die andere Richtung.
Auf die Flüchtlingskrise in Europa mit mehr europäischer Integration antworten, gar den Traum von den Vereinigten Staaten von Europa vorantreiben und verwirklichen – das hat der Historiker Brendan Simms im Deutschlandradio Kultur vorgeschlagen.
Ralf Fücks, Vorstand der grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, antwortet ihm. Für Fücks sind die Vorschläge von Simms eine sympathische, aber keine realistische Idee. "Das ist das Wunschdenken einer postnationalen Elite, die auf die Krise der EU mit einer großen Sprung nach vorne antworten will – und wenn man das ernsthaft betreiben würde, dann würde man nur die Tendenz zur Renationalisierung weiter fördern", sagte er im Deutschlandradio Kultur.
Fücks warnte davor, die weitere Vertiefung der Integration als "fortschreitende Zentralisierung" zu denken. Das würde eine enorme Demokratiekrise auslösen. Eine europäische Regierung in Brüssel hätte nicht ansatzweise die gleiche Legitimation wie die nationalen Regierungen. Er empfiehlt stattdessen "ein flexibles Netzwerk mit unterschiedlichen Stufen der Vergemeinschaftung".

Das Gespräch im Wortlaut:

Dieter Kassel: Ausgerechnet jetzt, wo manch einer froh wäre, wenn die EU das bliebe, was sie ist, und nicht auseinanderbricht, ausgerechnet jetzt schlägt der Historiker Brendan Simms, einer der beiden Autoren des Buches "Europa am Abgrund", vor, die Union so schnell wie möglich umzuwandeln in die Vereinigten Staaten von Europa. Auf meinen Einwand, das sei doch scheinbar der völlig falsche Moment dafür, reagierte er gestern so:
O-Ton Brendan Simms: Ich glaube, jetzt ist genau der richtige Moment. Denn alle diese Veränderungen können eigentlich nur gemacht werden, wenn man ein bisschen Spielraum hat. Das heißt, wenn wir glauben, die Krise ist jetzt sehr stark – in einigen Monaten oder Jahren wird sie noch stärker sein. Das heißt, wir müssen die Möglichkeit, die wir im Moment haben, nutzen, um Europa umzubauen, damit wir bereit sind oder imstande sind, Krisen in den nächsten Jahren standzuhalten.
Kassel: So weit Brendan Simms. Wie real die Vorstellung von den Vereinigten Staaten von Europa gerade jetzt ist, darüber wollen wir heute mit Ralf Fücks reden, einer der beiden Vorstände der Heinrich-Böll-Stiftung. Guten Morgen, Herr Fücks!
Ralf Fücks: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Sehen Sie das genauso? Ist, auch wenn man den Eindruck auf den ersten Blick nicht hat, gerade jetzt der richtige Moment dafür?

Die Vereinigten Staaten von Europa? Wunschdenken!

Fücks: Es ist schon eine sympathische Idee, hat ja auch eine lange Geschichte im Grunde schon, seit den 40er-Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, Europa als Vereinigte Staaten von Europa zu denken, als eine supranationale Union, die den alten Nationalstaat dann ablöst. Ich fürchte nur, das ist das Wunschdenken einer postnationalen Elite, die auf die gegenwärtige Krise der EU mit einem großen Sprung nach vorne antworten will. Und wenn man das ernsthaft jetzt betreiben würde, dann würde man nur die Tendenz zur Renationalisierung in Europa weiter fördern, die wir ja gegenwärtig schon beobachten können.
Für mich war eine Erfahrung da, ein richtiges Schlüsselerlebnis, nämlich die Mehrheitsentscheidung im Europäischen Rat über die Verteilung von Flüchtlingen nach einem Quotensystem. Und das hat eine regelrechte Revolte ausgelöst vor allem der mittelosteuropäischen Staaten, aber nicht nur dort, und das zeigt doch, dass in fundamentalen Fragen die Mehrheit der Europäer nicht bereit sind, ihre nationale Souveränität vollständig aufzugeben, damit ihre Mitbestimmungsmöglichkeiten auf europäische Entscheidungen. Und wenn man Europa weiter vor allem als ein Eliteprojekt von oben denkt, dann wird man nur die populistische Revolte von unten noch weiter fördern, die wir gegenwärtig beobachten können.
Kassel: Nun muss man der Fairness halber sagen, dass Brendan Simms und sein Koautor Benjamin Zeeb genau das in ihrem Buch durchaus bedenken. Sie sagen deshalb auch, man müsse zum einen natürlich zuerst die Bevölkerung überzeugen, bevor man dann politisch versuchen kann, Tatsachen zu schaffen. Und sie sagen, das muss man vermutlich in jedem Land mit einer anderen Taktik machen. Konkret schlagen sie zum Beispiel vor, in Spanien muss man vor allem die jungen Menschen davon überzeugen, dass die Vereinigten Staaten von Europa das Problem der Jugendarbeitslosigkeit lösen könnten, in Osteuropa zum Beispiel der Bevölkerung klarmachen, ein solcher neuer Staat würde auch mehr Schutz gegen Russland bieten.

Es gibt kein europäisches One-fits-for-all-Modell

Fücks: Ich halte das für einen Denkfehler. Die vertiefte Integration in Europa, für die ich ja unbedingt bin, verstärkte Zusammenarbeit, verstärkte Koordination unserer Politik als fortschreitende Zentralisierung der politischen Macht in Brüssel zu denken, als ein Prozess, in dem die alten Nationalstaaten abgelöst werden durch eine neue Staatlichkeit in Brüssel.
Vor allem aus zwei Gründen: Das Erste, das würde eine enorme Demokratiekrise herbeiführen, die wir heute ja schon in den Anfängen haben. Weil das Europaparlament in Brüssel und eine mögliche europäische Regierung – also man verwandelt die Kommission in eine vollständige Exekutive – auch nicht entfernt die demokratische Legitimation hätte wie heute die nationalen Parlamente und Regierungen.
Und das Zweite, ich glaube nicht, dass wir Europa als ein One-fits-for-all-Modell denken können. Also, eine einheitliche Politik für alle europäischen Staaten, dazu ist die ökonomische, die politische und kulturelle Vielfalt in Europa zu groß.
Man muss diese Vielfalt umgekehrt eher als Stärke denken, also überlegen, wie Europa als Einheit in der Vielfalt funktionieren kann, mit differenzierten Lösungen statt mit dem Versuch, alle in den Gleichschritt zu bringen.
Also, meine Utopie von Europa wäre eher ein flexibles Netzwerk mit unterschiedlichen Stufen der Vergemeinschaftung, jetzt zum Beispiel in der Flüchtlingspolitik: Warum soll nicht die Bundesrepublik mit einer Handvoll anderer Staaten vorangehen und sagen, jawohl, wir sind bereit, im großen Stil legal Flüchtlingen die Einreise in unsere Gesellschaften zu ermöglichen, auch wenn die anderen nicht mitziehen wollen, wir tun das als eine Coalition of the Willing.
Ähnliches könnte man denken etwa in der Verteidigungspolitik, endlich damit anzufangen, die nationalen Armeen aufzulösen und in eine europäische Armee zu verwandeln. Das wird nicht gelingen mit 28 oder 29 Staaten, aber vielleicht könnten vier, fünf Staaten da den Anfang machen und sozusagen vorangehen.
Also, ich denke eher, wir brauchen ein solches differenziertes und vielfältiges Europa, das den tatsächlichen Unterschieden Rechnung trägt, statt zu versuchen, sie zu nivellieren.
Kassel: Aber ich bin mir nicht sicher, ob ein Modell der Vereinigten Staaten von Europa unbedingt eine Nivellierung bedeuten soll. Vielleicht ist es auch schon ein Denkfehler zu sagen, die EU-Kommission wird umgewandelt. Vielleicht brauchen wir eine völlig neue Reform der Regierung.
Und bleiben wir bei Ihrem Beispiel, Flüchtlingspolitik: Man könnte dann doch als Gesamtstaat sagen, wir nehmen Flüchtlinge auf, verteilen sie aber sinnvoll, so wie es innerhalb Deutschlands nach dem Königsteiner Schlüssel zum Beispiel funktioniert, und das könnte dann auch das Ergebnis haben, dass Deutschland, einige wenige andere Länder, mehr aufnehmen als der Rest!

Tief verwurzelte Tradition nationaler Souveränität

Fücks: Ja, aber es zeigt sich auch gegenwärtig gerade, dass es keine Bereitschaft gibt in dieser Frage, Entscheidungen in Brüssel zu akzeptieren, selbst wenn sie von einer Mehrheit der Regierungen dort getroffen werden. Es ist ja gar keine Entscheidung des Europaparlaments oder der Kommission gewesen.
Das heißt, man muss Sachen respektieren, dass es in Europa eine sehr tief verwurzelte Tradition von nationaler Souveränität gibt. Und gerade bei den Ländern, die Sie gerade erst neu zurückgewonnen haben in Mittelosteuropa, gilt aber im Prinzip … Genauso für Frankreich oder Großbritannien, ich meine, das ist ja ein Scherz, dass dieser Vorschlag jetzt in einem Moment kommt, wo in Großbritannien über den Brexit abgestimmt wird, also den Austritt aus der Europäischen Union.
Die Bereitschaft, diese nationale Souveränität aufzugeben, kann meines Erachtens nur in einer Form gefordert werden, dass man sagt, wir "poolen" nationale Souveränität, also, wir gehen in Richtung mehr Koordination, wir suchen nach mehr Gemeinsamkeiten, aber nicht als Auflösung der Nationalstaaten, die erstens als Garantie für soziale Sicherheit und zweitens immer noch als Inbegriff der demokratischen Republik gelten.
Kassel: Ralf Fücks, Vorstand der Friedrich-Ebert-Stiftung, sagt, die Vereinigten Staaten von Europa sind nicht die beste Zukunftsversion für die EU, zumindest nicht in diesem Moment. Herr Fücks, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Fücks: Gerne, tschüs!
Kassel: Tschüs!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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