Eurasische Wirtschaftsunion

Das kleinere Übel für Kirgistan

Der Dordoi-Markt in der Nähe von Bischkek, der Hauptstadt Kirgistans.
Der Dordoi-Markt in der Nähe von Bischkek, der Hauptstadt Kirgistans © Deutschlandradio / Gesine Dornblüth
Von Gesine Dornblüth  · 10.12.2014
Was halten die Kirgisen vom geplanten Beitritt zur Eurasischen Wirtschaftsunion, zu der bisher Russland, Kasachstan und Weißrussland zählen? - Gesine Dornblüth war bei Händlern an der Grenze zu Kasachstan, auf dem großen Containermarkt bei Bischkek und hat mit Regierungsvertretern gesprochen.
Noch hängt Nebel über dem Großen Tschui-Kanal. Raureif überzieht die kahlen Bäume am Straßenrand. Früh morgens ist nicht viel los am Grenzübergang Akdschol von Kirgistan nach Kasachstan. An einem Klapptisch packt eine Frau Socken um, verteilt sie auf zwei Tüten.
"Das ist Ware aus China. Das ist gute Qualität. Die Ware geht gut. Sie ist billig. Weil der Zoll zwischen Kirgistan und China niedrig ist."
Die Frau heißt Saulje. Sie ist in der Nacht mit einem Sammeltaxi aus Kasachstan gekommen, hat ein paar Stunden in einem billigen Hotel geschlafen, früh morgens eingekauft. Nun ist sie auf dem Rückweg. Eine Tüte reißt. Sie landet im Graben, wo sich bereits Plastik türmt.
"Ich komme einmal im Monat nach Kirgistan. Ich bin Rentnerin und verdiene mit den Socken etwas dazu."
Saulje profitiert von der Lage Kirgistans. Das Land ist in der WTO, wie China. Deshalb sind die Waren aus China hier besonders billig. Kasachstan ist dagegen mit Russland in einer Zollunion. Schon seit vier Jahren. Um sie zu schützen, haben die Länder Handelsbarrieren errichtet, auch gegenüber der Billigware aus Kirgistan. Die Zöllner am Grenzübergang Akdschol kontrollieren genau. Kleinhändler aber dürfen bis zu 50 Kilo Ware im Monat zollfrei über die Grenze bringen. Eine Einnahmequelle für tausende Arbeitslose in der Region. Ein Mann mit einem Wägelchen kommt dazu. Tolik Bikturganowitsch verdient sein Geld als Träger, hilft den Kasachen, ihre 50 Kilo über die Grenze zu transportieren. Er zieht ein Lederetui mit einem Ausweis aus der Tasche.
"Hier, schauen Sie mal. Ich bin ein ehemaliger Major der Miliz. Der Lohn dort war so gering, dass ich lieber hier Geld verdiene."
Die Menschen hier fragen sich allerdings, wie lange das noch möglich sein wird. Denn Kirgistan will der Zollunion beitreten. Dann fallen zwar die Zollkontrollen an der Grenze nach Kasachstan weg. Zugleich muss dann aber Kirgistan seine Außengrenzen besser schützen und die Zölle für Waren aus China erhöhen. Die kasachische Sockenhändlerin Saulje sieht das mit Sorge.
"Die Ware wird teurer werden. Es wird sich dann nicht mehr lohnen, nach Kirgistan zu fahren. Besser, Kirgistan würde nicht Mitglied in der Zollunion."
Der Ex-Major und Warenträger Tolik Bikturganowitsch sieht es ähnlich.
"Die reichen Leute werden profitieren. Wir aber, die armen Leute, werden es schwer haben. Die Preise werden steigen. Und eine Zeit lang wird es in Kirgistan sehr schwierig werden. Das ist jedenfalls meine Meinung."
Ein Schwung Fußgänger kommt über die Grenze. Ein Taxifahrer geht ihnen entgegen, bietet seine Dienste an. Dordoi, ruft er. Dordoi heißt der Großmarkt. Er liegt eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt, und hier finden sich viele Stimmen, die den Beitritt Kirgistans zur Zollunion herbeisehnen.
50.000 Menschen arbeiten auf dem Großmarkt Dordoi
Einer der Gänge zwischen scheinbar endlosen Reihen von Containern. In diesem Gang gibt es Hosen, kilometerweit. Dordoi ist der größte Markt in Zentralasien. Rund 50.000 Menschen arbeiten hier. Jelena Kadyrkulowa handelt mit Damenhosen aus China. Sie ist seit mehr als zehn Jahren im Geschäft. Sie hat ihre Ware in fünf Städte in Russland verkauft und nach Kasachstan. Wegen der Handelsbeschränkungen funktioniert das nicht mehr.
"Es gab eine Zeit, da habe ich 50.000 Hosen in drei Monaten verkauft. Jetzt sind es vielleicht 5000. Als Kasachstan, Russland und Weißrussland vor vier Jahren die Zollunion gründeten, blieben die Kunden weg. Hier auf dem Dordoj-Markt verkaufen wir jetzt fast nur noch an Einzelkunden. Die Lage ist wirklich kritisch. Die Zeit ist reif. Wir müssen der Zollunion beitreten. Im Übrigen bin in der UdSSR geboren. Wir lieben Russland sehr. Und wir kommen gut mit den Russen aus."
Dass Kirgistan mit dem Beitritt zur Zollunion seine Importzölle gegenüber China auf russisches und kasachisches Niveau anheben muss, dass der Einkauf in China dann teurer wird, schreckt Jelena nicht.
"Anfangs, als die Pläne für die Zollunion aufkamen, waren wir alle dagegen. Weil wir uns nicht auskannten. Aber dann haben wir das alles analysiert. Unsere Wirtschaft schrumpft zurzeit wegen der geschlossenen Grenzen. Wenn wir der Zollunion nicht beitreten, wird es 30 Prozent schlechter. Wenn wir beitreten, nur zehn Prozent. Da nehmen wir doch das kleinere Übel. Wer dagegen ist, hat einfach keine Ahnung."
Für alle Fälle hat Jelena Kadyrkulowa begonnen, selbst Hosen nähen zu lassen, in Kirgistan. Arbeitskraft ist billig. Die Stoffe kauft sie auf einem Markt in Bischkek. Sie will weg vom reinen Handel. Durch die Wertschöpfung seien die Gewinnchancen größer.
"Ich habe gerade erst damit angefangen. Erst mal 120 Stück. Daran verdiene ich fast gar nichts. Wir entwickeln das noch. Aber wenn ich gute Qualität produziere, werde ich sehr viele Kunden haben. Wir sind derzeit in einer Übergangsperiode. Die muss man nutzen und nachdenken."
Das ist ganz nach dem Geschmack der Regierung. Sie will Kirgistan zu einem Erzeugerland machen. Valerij Dill ist der stellvertretende Premierminister Kirgistans, ein Mann mit deutschen Wurzeln. Er spricht von landwirtschaftlichen Betrieben, die entstehen sollen, von Molkereien und Schlachtereien, von Textilfabriken. Russland hat einen Entwicklungsfond mit Kirgistan aufgelegt, mit dem Geld sollen Produktionsstätten gebaut werden.
"Natürlich werden die ersten zwei, drei Jahre schwierig für uns. Aber schauen Sie sich unsere geographische Lage an. Mit unseren Nachbarn Usbekistan, Tadschikistan, China und Kasachstan haben wir keine Alternative zur Zollunion. Und wenn die Leute sagen, dass wir mit dem Beitritt zur Zollunion und zur Eurasischen Union unsere Unabhängigkeit verlieren, dann sagen wir: Die Zollunion ist ein rein wirtschaftliches Bündnis. Sie hat keinen Einfluss auf die Politik. Wir treten ohne Furcht bei."
Eine Insel der Demokratie in Zentralasien
Kirgistan gilt in Zentralasien als eine Insel der Demokratie. Während in den Nachbarstaaten gerontokratische Despoten dauerregieren, hat die Regierung in Kirgistan mehrfach gewechselt. 2005 gab es eine Art farbige Revolution, ähnlich wie in der Ukraine. 2010 wurden bei Demonstrationen von Regierungsgegnern dutzende Menschen getötet. Viele Kirgisen haben Angst davor, dass sich so etwas wiederholt. Sie sehnen sich nach Stabilität. Vizepremier Dill beteuert:
"Wir werden nicht von den demokratischen Prinzipien abweichen. Das Volk Kirgistans hat ein hohes Gerechtigkeitsgefühl. Deshalb ist es mehrfach auf die Straße gegangen und hat gegen Korruption, Clanwirtschaft und Ungerechtigkeit protestiert."
Damit sich Kirgistan innerhalb der Zollunion politisch behaupten kann, ist aber auch Einigkeit im eigenen Land nötig. Dort gibt es nach wie vor Verbesserungsbedarf. Besonders im Süden des Landes.
Osch in Südkirgistan. Die zweitgrößte Stadt im Land. An der Alisher Navoi Straße verkaufen Kinder Fladenbrot. Ein offener Kleinlaster parkt. Auf der Ladefläche stehen Rinder, mit den Hörnern am Gestänge festgeschnürt. Zwischen intakten ein- und zweistöckigen Häusern eine Ruine: Niedergebrannte Mauern, im Gitter, hinter dem Mal Fenster waren, ein Mercedes-Stern und ein VW-Zeichen. Das war einmal ein Autohaus.
In Osch kam es im Juni 2010 zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Kirgisen und der usbekischen Minderheit. Hunderte Menschen starben, meist Usbeken. Ganze Straßenviertel wurden niedergebrannt. Auch die Häuser in der Alisher Navoi Straße. Heute sind fast alle wieder aufgebaut. Der Usbeke Tahrir Borobajew steht vor seinem Laden, der eigentlich eine Garage ist. Darin Stapel mit Klopapier, Mehlsäcke, Konserven, Reisigbesen, ein Ständer mit Kartoffelchipstüten, Kanister mit Sonnenblumenöl.
"Wir sind zwei Jahre bei Verwandten untergekommen. Wir haben das Haus selbst wieder aufgebaut, die Regierung hat uns Baumaterial gegeben."
Ob er wisse, wer sein Haus niedergebrannt habe, damals, vor viereinhalb Jahren? Tahrir Borobajew winkt ab. Eine Frau mischt sich ein.
"Die Lage normalisiert sich langsam wieder. Die Regierung war damals schuld."
Immer wieder hört man in Osch, die Unruhen seien schon so lange her, vier Jahre, das Volk wolle vergessen. Sie seien alle Bürger Kirgistans: Kirgisen, Usbeken und all die anderen Minderheiten. Die Regierung fördert das nach Kräften. Sie will die nationale Identität festigen, und zwar, indem sie eine nationale Kultur propagiert. In den Schulen werden verstärkt Geschichte und Traditionen Kirgistans unterrichtet.
Im usbekischen Gymnasium von Osch ist Subbotnik, Arbeitseinsatz. Vor dem Eingang füllt ein Mädchen Wasser ab. Die Schüler müssen den Garten säubern. Die Kinder kommen aus usbekischen Familien, sie werden auf russisch und usbekisch unterrichtet. Kirgisisch ist Fremdsprache ab der ersten Klasse. In diesem Jahr hat die Schule zusätzlich ein sogenanntes Manas-Zentrum eingerichtet, auf Anordnung des Staatspräsidenten.
Der kirgisische Nationalheld war tolerant und weltoffen
Im Foyer hängt ein Transparent: "Manas - mein Erbe" steht darauf. Manas war ein kirgisischer Nationalheld im neunten Jahrhundert. Er galt als tolerant und weltoffen. Über sein Leben gibt es ein Versepos, und auf Geheiß des Präsidenten lesen Schüler in ganz Kirgistan das Werk.
Shokirdshon ist 14 Jahre alt. Er hockt im Schneidersitz auf dem Teppich, hat die Augen geschlossen, verzieht das Gesicht zu Grimassen.
"Ich habe ein Szene vorgetragen, in der Manas alle Männer zusammengerufen hat, um mit ihnen in den Krieg zu ziehen."
Ein Mädchen wird gerufen, Maftuna, auch sie sagt Verse auf Kirgisisch auf.
"Ich liebe die kirgisische Sprache. Weil ich in Kirgistan lebe."
Die Direktorin steht dabei und nickt zufrieden. Der stellvertretende Bürgermeister von Osch, Iljitschbek Ergeschov, unterstreicht:
"Die Menschen in Osch wollen, dass sich die Lage konsolidiert. Sie wollen die Einheit des Volkes, Freundschaft zwischen den unterschiedlichen Ethnien. Wir brauchen vor allen Dingen gesellschaftliche und politische Stabilität. Und Einheit. Zugleich haben wir Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit. Jeder darf seine Meinung in seiner Mutter-sprache äußern."
Ergeschow berichtet von Folklore-Festivals und multiethnischen Fußballturnieren. Dem Anwalt Valerian Vachitov ist das zu wenig. Nach den Unruhen hat er viele Usbeken verteidigt, die damals - aus seiner Sicht zu Unrecht - verurteilt wurden. Vachitov sagt, die Usbeken würden noch immer benachteiligt, sie seien in wichtigen Positionen unterrepräsentiert.
"Man muss das Manas-Epos verbreiten, man muss Folklore verbreiten, man muss die Menschen aufklären. Das ist alles richtig. Aber man muss auch mehr Vertreter der ethnischen Minderheiten in den Staatsdienst holen, in den Polizeidienst, an die Gerichte. Da gibt es keinen großen Fortschritt."
Doch auch der Anwalt Valerian Vachitov sagt, beide Seiten in Osch wollten Frieden. Das Vertrauen wachse wieder. Und auch er wählt das Wort Stabilität. Und verbindet es mit der Zollunion.
"Kirgistan ist ein kleiner Staat. Er muss irgendeinem Wirtschaftsbündnis beitreten. Wie es dann in der Zollunion weitergeht, wird von unserer Regierung abhängen. Je enger die Verbindungen mit Russland werden, desto besser für uns. Noch besser wäre es natürlich, sich Europa anzugleichen. Aber Europa ist weit weg."
Mehr zum Thema