EU-Sondergipfel zur Flüchtlingsproblematik

Gesine Schwan vermisst "vorbehaltlose Solidarität"

Aus dem Mittelmeer gerettete Flüchtlinge kommen an Bord eines italienischen Marineschiffes in Salerno an.
Aus dem Mittelmeer gerettete Flüchtlinge kommen an Bord eines italienischen Marineschiffes in Salerno an. © picture alliance / dpa / Ciro Fusco
Gesine Schwan im Gespräch mit Nana Brink · 23.04.2015
Wie viel "europäische Identität" gibt es wirklich? Auch über diese Frage wird auf dem heutigen EU-Sondergipfel zur Flüchtlingsproblematik diskutiert. Gesine Schwan sieht das skeptisch, Wettbewerbsdenken habe sehr viel zerstört.
Die frühere Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder und SPD-Politikerin, Gesine Schwan, vermisst eine gemeinsame solidarische Haltung innerhalb der Europäischen Union.
Selbst weniger dramatische Schwierigkeiten als das jetzige Flüchtlingsproblem seien in Europa bisher nicht gerade solidarisch angegangen worden, sagte Schwan im Deutschlandradio Kultur. Das sei keine gute Perspektive:
"Möglicherweise ist aber einmal diese dramatische und fürchterliche Erfahrung der Ertrinkenden auch ein solcher Schock, dass sich Menschen noch einmal fragen, ob es ihnen nicht wirklich sehr viel besser geht als in anderen Ländern."
So Schwan vor dem heutigen Sondergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs. Es sei aber erfreulich, dass es in vielen europäischen Ländern, auch in Deutschland, sehr viele Initiativen gebe, "die ausdrücklich die neu ankommenden Flüchtlinge, die Asylsuchenden willkommen heißen".
"Die Manie des Wettbewerbsdenkens"
Sie hoffe, dass der "Schock dieser Bilder" einiges auslösen werde, äußerte Schwan. Sie glaube allerdings nicht, dass es eine europäische Identität "im Sinne einer vorbehaltlosen Solidarität" geben werde. Mit der gesamten Form der Marktradikalität und der Diskreditierung staatlicher Leistungen sei Solidarität in den letzten 30 Jahren ohnehin verloren gegangen:
"Die Manie des Wettbewerbsdenkens, das alles hat sehr viel zerstört."
Die Politikwissenschaftlerin Schwan verwies auf ein gewisses "Spannungsverhältnis" bei der möglichen Aufnahme von Asylsuchenden auch in Deutschland. Auf der einen Seite wolle man nur diejenigen aufnehmen, die "jetzt gerade in unsere Wirtschaft" passten. Diese Menschen würden allerdings auch merken, dass sie damit nur instrumentalisiert werden würden:
"Und dass damit, was hier so schön Willkommenskultur genannt wird, unterminiert wird. Denn diese Willkommenskultur heißt ja eigentlich, dass wir nicht nur ein paar technische Sachen machen, sondern von innen her auch wirklich die Anderen willkommen heißen. Da sind wir Deutsche nicht besonders stark."

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Sie kommen vor allem aus Syrien, aus Mali, Eritrea und Nigeria, also aus Heimatländern, in denen Terror herrscht oder unverschuldete Armut, die so groß ist, dass Eltern ihre Kinder nicht ernähren können. An die 800 Menschen sind am Wochenende im Mittelmeer ertrunken, bei dem Versuch, diesem Elend zu entkommen.
Es sei mehr als dringlich, dass die EU endlich Wege findet, um die Menschen davon abzuhalten, ihr Leben zu riskieren, so heißt es in der Union vor dem heutigen Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs. Und nun sollen die Mittel und Ausrüstung für die Seenotrettung verdoppelt werden. Klingt gut, aber reicht das? Und wer von denen, die gerettet werden und die es schaffen nach Europa, wer von ihnen kann, ja, muss bleiben?
Immerhin heißen 59 Prozent der Deutschen die Flüchtlinge in Deutschland willkommen, aber wie ist es, wenn mehr kommen? Und sind wir uns einig in Europa, wer bei uns einziehen darf? Darüber spreche jetzt mit der Sozialdemokratin Gesine Schwan, ehemals Präsidentin der Viadrina-Universität in Frankfurt Oder. Einen schönen guten Morgen, Frau Schwan!
Gesine Schwan: Schönen guten Morgen!
Nana Brink: Können wir von einem europäischen Haus überhaupt sprechen?
Gesine Schwan: Also, sicher nicht in dem Sinne, dass alle, die in diesem Haus wohnen, miteinander solidarisch sind. Im Gegenteil. Selbst weniger dramatische Probleme sind mit der gesamten Banken- und Staatsschulden- und Euro-Krise bisher in den letzten Jahren in Europa nicht gerade zunehmend solidarisch angegangen worden, sondern im Gegenteil. Insofern ist das keine gute Perspektive.
Möglicherweise aber ist einmal diese dramatische Erfahrung und fürchterliche Erfahrung der Ertrinkenden auch ein solcher Schock, dass sich Menschen noch mal fragen, ob es ihnen nicht wirklich sehr viel besser geht als in andern Ländern. Und es gibt ja auch in unseren Ländern, auch in Deutschland, sehr viele Initiativen – das finde ich sehr erfreulich –, die ausdrücklich die neuankommenden Flüchtlinge, die Asylsuchenden willkommen heißen. Es ist also zu hoffen, dass dieser Schock und die Bilder, die durch alle Wohnzimmer jetzt gehen, einiges auslösen. Aber natürlich ist das Problem gigantisch.
Manie des Wettbewerbsdenkens
Nana Brink: Trotzdem möchte ich noch mal ein bisschen bei dieser Identität bleiben, bei der europäischen, bei diesem Haus. Weil letztendlich müssen wir es ja zusammen lösen. Ist das Wort von dieser europäischen Identität ein Wolkenkuckucksheim? Es gibt ein ganz schönes Zitat von Guy Verhofstadt, das ist der ehemalige belgische Premierminister, der gesagt hat: Das Europa von heute, das ist eine Reliquie der Vergangenheit. Das ist ein Europa, das unfähig ist, Probleme zu lösen. Hartes Wort.
Gesine Schwan: Hartes Wort, obwohl gerade auch Guy Verhofstadt sehr viel versucht zu machen. Sicher, nach dem Zweiten Weltkrieg war es unmittelbar für viele spürbar, wie nötig es ist, zusammenzustehen und auch der Schrecken des Krieges und der Verbrechen saß noch in den Knochen. Aber ich glaube, eine Identität im Sinne einer vorbehaltlosen Solidarität, die wird es nicht geben, die gibt es auch nicht innerhalb Deutschlands, auch nicht innerhalb der Länder, auch nicht innerhalb der Städte.
Das ist ja immer wieder sowieso so, dass wir in den letzten 30 Jahren mit der gesamten Form der Marktradikalität, auch der Diskreditierung von allem, was Staat und staatliche Solidarität angeht, Solidarität immer mehr verloren haben. Die Manie des Wettbewerbsdenkens, das alles hat sehr viel zerstört. Dennoch muss man immer wieder aufbauen. Aber die Zugehörigkeit zu Europa, die könnte man durchaus steigern und nicht nur mit schönen Reden, sondern zum Beispiel, indem die vielen Initiativen, die es gibt, auch leichter von Europa finanziert werden können. Das sind ganz technische Sachen.
Aber machen Sie mal den Versuch, solidarische Wachstumsinitiativen von unten, von den Gemeinden zustande zu bringen. Da kommen Sie vor einen gigantischen Antragsberg, den Sie als Bürgerinitiative überhaupt gar nicht bewältigen können. Hier wäre auch viel möglich, damit es von unten wachsen kann, dass wir grenzüberschreitend auch die durchaus freudige Erfahrung machen können, gemeinsame Projekte zur Hilfe für andere zustande zu bringen.
Aufnahme von Asylsuchenden
Nana Brink: Also, wenn wir vielleicht noch nicht von diesem großen Wort Identität sprechen, dann müssen wir uns aber doch verständigen. Wir müssen uns ja darüber verständigen, dass wir die Asylsuchenden aufnehmen. Über deren Aufnahme, da kann man ja gar nicht diskutieren, schon allein aus moralischen Gründen nicht, aber auch über die Migranten. Wen wollen wir einladen? Darüber müssen wir uns ja in Europa verständigen. Können wir das?
Gesine Schwan: Na ja, das hängt davon ab, ob wir wollen. In der Politik tut sich nichts von alleine, wenn wir nicht selbst alle die Ärmel aufkrempeln. Und es gibt da ein Spannungsverhältnis dazwischen, dass wir einerseits aus wirtschaftlichen Gründen die aufnehmen wollen, die jetzt gerade in unsere Wirtschaft passen, dass aber auf der anderen Seite gerade die dann merken, dass sie eigentlich nur instrumentalisiert sind, und dass damit das, was hier so schön Willkommenskultur genannt wird, unterminiert wird.
Plädoyer für eine "Willkommenskultur von innen"
Denn diese Willkommenskultur heißt ja eigentlich, dass wir nicht nur paar technische Sachen machen, sondern von innen her auch wirklich die anderen willkommen heißen. Da sind wir Deutsche nicht besonders stark. Wir sind nicht spontan freundlich. Auch in anderen Ländern ist das nicht immer so. Aber wir müssen uns dann schon auf, sagen wir mal, zumindest Mengen einigen.
Und wir sollten vor allen Dingen, die, die schon bei uns sind, viel besser integrieren, in dem Sinn, dass wir ihnen die Möglichkeit bieten, nicht nur kulturell, sondern auch handfest auf dem Arbeitsmarkt zu arbeiten. In dem Maße, wie wir – und wir werden in Zukunft gute Arbeitskräfte brauchen – wird das auch geschehen. Aber es ist schon ein Spannungsverhältnis dazwischen, dass wir sicher nicht völlig unausgebildete Menschen in rauen Mengen ganz schnell aufnehmen können, das ist zu schwer. Aber dass wir auf der anderen Seite auch nicht nur die Rosinen picken dürfen für Ausgebildete, für deren Ausbildung woanders bezahlt worden ist.
"Der EU-Gipfel könnte etwas anstoßen"
Nana Brink: Wenn wir heute noch einmal auf den EU-Gipfel blicken, welche Hoffnung haben Sie da? Glauben Sie, um das noch mal aufzunehmen, was Sie vorab gesagt haben, dass dieser Schock so nachhaltig war, dass es ein Signal geben wird?
Gesine Schwan: Er wird schon, denke ich, etwas anstoßen. Und da kann man einfach nur auch in der Öffentlichkeit sehr viel damit dafür sorgen, und jeder vor Ort. Die Staatschefs sind mir anderen Sachen auch beschäftigt. Sie gucken darauf, wie ihr Wahlpublikum reagieren wird, sie werden auch ihre Worte erwägen.
Obwohl ich manchmal denke, dass jemand, der dann wirklich vorprescht und mal sich als Mensch zeigt, auch eine durchaus breitere Unterstützung bekommt, als man sich das so denkt. Es gibt Umfragen, dass eine Mehrheit von Deutschen bereit ist zur Solidarität, sowohl innerhalb Europas, als auch nach außen. Wenn sie wissen, dass ihr Geld gut und vernünftig und, sagen wir mal, zum Beispiel korruptionsfrei angelegt ist.
Nana Brink: Gesine Schwan, vielen Dank für das Gespräch und die Zeit.
Gesine Schwan: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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