EU-Referendum in Großbritannien

Die Kunst des guten Entscheidens

Die Flagge Großbritanniens und die der Europäischen Union
Die Flaggen Großbritanniens und der Europäischen Union - die heutige Abstimmung in Großbritannien sehen viele Menschen als Schicksalstag für Europa. © Facundo Arrizabalaga, dpa picture-alliance
Gerd Gigerenzer im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 23.06.2016
Mehr Bauch oder mehr Kopf? Das wird auch bei der Abstimmung der Briten über das EU-Referendum eine Rolle spielen. Reine Intuition nutze bei dieser Entscheidung wenig, sagt der Psychologe Gerd Gigerenzer: Gefragt sei der informierte und "risikokompetente Bürger".
Leinen kappen oder nicht? Mit dem EU-Referendum haben die Briten heute eine wichtige Entscheidung zu treffen. Manche werden dabei eher der Vernunft folgen, andere vielleicht mehr "aus dem Bauch heraus" wählen.
Doch auch für eine "Bauchentscheidung" brauche man ein gewisses Maß an Information und politischer Bildung, so der Psychologe Gerd Gigerenzer im Deutschlandradio Kultur. Studien hätten allerdings gezeigt, dass die Briten unter den Europäern zu denjenigen gehörten, die am wenigsten über die EU Bescheid wüssten:
"Intuition funktioniert dann, wenn jemand sehr viel Erfahrung über einen Bereich hat. Es ist ja keine Willkür, kein sechster Sinn, keine göttliche Eingebung, sondern es ist gefühltes Wissen. Man spürt, was man tun soll, kann es aber selber nicht erklären. Das heißt, wenn Sie über eine Sache wenig wissen, dann hilft Ihnen die Intuition herzlich wenig."
Mit einem fundierten Wissen über politische Vorgänge sei auch eine bessere Risikoabschätzung über die Folgen einer Entscheidung möglich, sagte Gigerenzer:
"Was wir brauchen, sind risikokompetente Bürger, die ein bisschen genauer hinschauen, die sich besser informieren, die sich nicht einfach verängstigen oder emotional in irgendeine Ecke drücken lassen. Und dann kann man nur die Daumen drücken, dass es genügend davon in Großbritannien gibt."

Wird die Vorliebe für das Bekannte siegen?

Die Einschätzung von Gigerenzer zum Ausgang des EU-Referendums lautet:
"Ich denke und hoffe, dass unter den sehr vielen unentschiedenen Briten am Ende – wenn sie an die Wahlurne gehen – dann doch noch die Vorliebe für das Bekannte kommt. Dass man Ende denkt: 'Na ja, das kriegen wir schon hin, bevor wir jetzt die großen Experimente machen.'"
Der Psychologe und Sachbuchautor Gerd Gigerenzer ist seit 1997 Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Er arbeitet auch am 2009 gegründeten Harding-Zentrum für Risikokompetenz. Seit 2015 ist er Gründer und Gesellschafter von "Simply Rational - Das Institut für Entscheidung".

Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Heute ist der Tag, an dem entschieden wird, ob die Europäische Union künftig ein Mitglied weniger haben wird, weil die Briten über Gehen oder Bleiben abstimmen. Und man könnte meinen, dass derlei Abwägungen kühl, rational, mit dem Kopf also getroffen werden. Nur, wenn man Professor Gerd Gigerenzer glaubt, dann ist das eben genau nicht so und auch gar nicht so schlecht.
Der Psychologe leitet das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, hat 2015 "Simply Rational – Das Institut für Entscheidung" gegründet, und seine preisgekrönten Sachbücher, "Das Einmaleins der Skepsis" und "Bauchentscheidungen" wurden in 18 Sprachen übersetzt. Also, er ist der Mann, uns zu erklären, wie es so läuft mit unseren Entscheidungen, auch solchen wie der der Briten heute. Professor Gigerenzer, ich grüße Sie!
Gerd Gigerenzer: Seien Sie gegrüßt!
von Billerbeck: Der Wahlkampf für oder gegen den sogenannten Brexit, der läuft sehr emotional, der ist sehr aufgeladen. Macht Ihnen das Sorge, was die Qualität der Entscheidung angeht?
Gigerenzer: Vor allen Dingen, da die Studien zeigen, dass die Briten unter den Europäern zu denjenigen gehören, die am wenigsten Bescheid wissen, am wenigsten gut informiert sind, wie die EU funktioniert und was sie macht. Und zugleich ist der größte Anteil dagegen. Und das macht mir schon Sorgen.

Intuition braucht auch "gefühltes Wissen"

von Billerbeck: Sie sagen nun, dass intuitive Entscheidungen, also das, was wir Bauchentscheidungen nennen, oft die besseren sind im Vergleich zu vermeintlich rationalen, und Sie haben das auch in Experimenten belegt in Bezug auf Aktienkäufe zum Beispiel. Woran liegt das?
Gigerenzer: Intuition funktioniert dann, wenn jemand sehr viel Erfahrung über einen Bereich hat. Es ist ja keine Willkür, kein sechster Sinn, keine göttliche Eingebung, sondern es ist gefühltes Wissen. Man spürt, was man tun soll, kann es aber selbst nicht erklären. Das heißt, wenn Sie wenig wissen über eine Sache, dann hilft Ihnen die Intuition herzlich wenig.
von Billerbeck: Das heißt, dass das im Fall der Briten auch zutrifft? Denn Sie haben ja gesagt, die Briten wissen am allerwenigsten in Europa über die EU.
Gigerenzer: Genau. Das macht mir eben schon Sorgen. Dennoch denke und hoffe ich, dass unter den sehr vielen Unentschiedenen Briten am Ende, wenn sie an die Wahlurne gehen, dann doch noch die Vorliebe für das Bekannte kommt und dass man da am Ende denkt, na ja, das kriegen wir schon hin, bevor wir jetzt die großen Experimente machen.
Es ist nicht richtig, dass der Bauch oder Intuition immer besser ist. Sondern, wie gesagt, wenn jemand sehr viel Erfahrung hat mit Großbritannien und mit Europa – und die Zukunft kann man sowieso nicht vorhersagen –, und dann spürt, was das Richtige zu tun ist, das ist eine Bauchentscheidung. Wenn man keinerlei Ahnung hat und nur nach dem reagiert, was einem seine eigenen Bekannten sagen, dann kann es gefährlich sein.

Risikobewertung des britischen EU-Ausstiegs

von Billerbeck: Nun forschen Sie ja auch über das Thema Risikoabschätzung, und das Problem bei Entscheidungen, auch dieser, die da heute fällt, sind ja auch viele Unwägbarkeiten. Sie haben es ja eben auch gesagt. In die Zukunft kann man nicht schauen. Also die Frage, womit gehe ich welches Risiko ein. Auch das hat man ja im Wahlkampf sehr schön sehen können: Risiken kann man unterschiedlich bewerten, also zum Beispiel die Risiken des Ausstiegs für die britische Wirtschaft. Da gab es diese und jene Studien und diese und jene Meinungen. Was tut denn der normale Wähler dann?
Gigerenzer: Ich glaube, ich kann einem nicht schaden, wenn man sich ein bisschen kundig macht. Der normale Deutsche schaut etwa drei Stunden Fernsehen jeden Abend, meistens nutzlos – also es gibt einige gute Sendungen. Das kann man sich sparen und mal ein gutes Buch lesen oder eine gute Sendung ansehen.
Aber auf der anderen Seite ist es auch wichtig zu realisieren, dass man eben nicht alles wissen kann, dass die Welt eben nicht sicher ist, wie Benjamin Franklin es einmal sagte: Nichts ist sicher auf dieser Welt außer dem Tod und den Steuern. Und das heißt, dass man auch lernen muss, mit den Risiken umzugehen. Und auch damit rechnen, dass man mal danebenliegt.
Ich denke, was wir brauchen, sind risikokompetente Bürger, die ein bisschen genauer hinschauen, die sich besser informieren und sich nicht einfach verängstigen lassen oder emotional in irgendeine Ecke drängen lassen. Und da kann man nur die Daumen drücken, dass es genügend solche gibt in Großbritannien.
von Billerbeck: Hoffnungen waren das des Psychologen Gerd Gigerenzer, der uns von der Qualität von Bauchentscheidungen berichtet hat. Ich danke Ihnen!
Gigerenzer: Es war mir eine Freude!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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