Essay

Ein rastloser Typ

Die Schauspieler Werner Wölbern als Baumeister Halvard Solness und Katharina Schmidt als Fräulein Hilde Wangel proben am 15.09.2009) im Schauspielhaus in Hamburg eine Szene aus Henrik Ibsens "Baumeister Solness". Das Stück hatte unter Martin Kusejs Regie am 17.09.2009) Premiere in Hamburg.
Der Schauspieler Werner Wölbern (re) als Baummeister Halvard Solness - ein kaltschnäuziger Unternehmer und Bourgeois - in einer Probe von Henrik Ibsens gleichnamigem Stück im Schauspielhaus Hamburg. © picture alliance / dpa / Bodo Marks
Von Edelgard Abenstein · 23.10.2014
In fast allen Romanen der Weltliteratur trifft man den Bourgeois. Franco Moretti spürt diesem zwielichtigen Wesen über die Jahrhunderte hinweg nach, von Defoes Robinson Crusoe bis Henrik Ibsens Baumeister Solness - ein wahres Lesevergnügen.
Eigentlich ist der Bourgeois ganz aus der Mode gekommen. Sein letztes Revival liegt bald ein halbes Jahrhundert zurück. Damals trat er als Buhmann auf, in der marxistischen Theorie der 68er war er die Negativfigur schlechthin. Heute scheint er vollkommen von der Bildfläche verschwunden.
Der Literaturwissenschaftler Franco Moretti untersucht den Bourgeois in seiner Glanzzeit. Ihn interessieren nicht dessen Taten, er widmet sich der Mentalität dieses Repräsentanten einer Klasse, wie sie in den großen Romanen der Weltliteratur auftrat. Dabei begegnet ihm der Bürger als zwielichtiges Wesen – schillernd zwischen Gewinnstreben und Askese, Tatkraft und Besitzgier, Selbstbeherrschung und Lust an gewagten Unternehmungen. Natürlich leiht Moretti sich sein analytisches Besteck von Karl Marx oder Max Weber, aber er hantiert damit so temperamentvoll, dass sein Buch ein wahres Lesevergnügen ist.
Beständiges Streben nach Produktivität
Am Anfang seines Essays steht erstaunlicherweise ein Abenteurer: Robinson Crusoe. Daniel Defoes Romanheld von 1719 – ein Hasardeur, der alle Warnungen in den Wind schlägt und Schiffbruch erleidet. Obwohl er auf seiner einsamen Insel längst alle Belange des Alltags gemeistert hat, obwohl keiner da ist, um ihn zu kontrollieren, schuftet er weiter. Tagaus, tagein.
Auch darin zeigt sich die "Doppelseele" des bourgeoisen Typus. Ohne sich mit der Frage nach dem Sinn aufzuhalten, strebt er fleißig nach Produktivität, bis in die stilistische Grundstruktur hinein. Es ist "eine Grammatik" des Um-Zu, "des unablässigen Wachstums."
Das ist das Spannende und Originelle an dem Buch: Neben bürgerlichen Themen wie der buchhalterischen Vernunft und großstädtischen Netzwerken in Balzacs "Verlorene Illusionen" etwa, zeigt Moretti, wie das Erzählen selbst sich verwandelt. Während die Bourgeoisie in der "Epoche der Ernsthaftigkeit", dem 19. Jahrhundert, zunehmend zu herrschen beginnt, leistet sie sich private Ruheorte ("Komfort statt Luxus").
Rede der Figuren statt allwissender Erzähler
Genauso der bürgerliche Roman: Die neue Erzählökonomie verlangsamt das Geschehen durch kontemplative Einschübe, Plaudereien, Nachdenken, Stimmungsbilder. So braucht die Heldin in Jane Austens "Stolz und Vorurteil" einunddreißig Kapitel, ehe sie den Heiratsantrag des Geliebten endlich annimmt.
Auch der tendenzielle Abschied vom allwissenden Erzähler verfolgt neue Ziele. Die an dessen Stelle tretende Figurenrede, Emma Bovarys etwa, dient einerseits der Kontrolle der Emotionen, andererseits verführt sie den Leser um den Preis der Distanz mit allen Mitteln zur Einfühlung.
Bis zu Ibsens Dramen schließlich bereitet Moretti die bürgerliche Parallelaktion aus Desillusionierung und Verschleierung überaus geistreich auf, diese "Lebenslüge" par excellence. Obwohl die "Schlüsselfigur der Moderne" mit dem in den Abgrund stürzenden "Baumeister Solness" endet, sind Finanzkrise und Schattenbanken doch allgegenwärtig. Der Bourgeois hat in Bankern und Analysten seine postbürgerlichen Nachfolger gefunden, im Leben wie in der Literatur.

Franco Moretti: Der Bourgeois. Eine Schlüsselfigur der Moderne
Aus dem Englischen von Frank Jakubzik
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
275 Seiten, 24,95 Euro