"Es werden eine Reihe von Argumenten genannt, die ich aber sämtlich nicht stichhaltig halte"

Rainer Lehmann im Gespräch mit Christopher Ricke · 17.07.2010
In Berlin wird die sechsjährige Grundschule schon praktiziert, parallel können Kinder dort aber auch nach vier Jahren auf das Gymnasium. Rainer Lehmann, Professor vom Institut für Erziehungswissenschaften an der Humboldt-Universität, findet nur schwer Argumente für die verlängerte Primarstufe.
Christopher Ricke: Wie wird in Zukunft in Hamburgs Schulen gelernt – sechs Jahre gemeinsam in der Primar-, in der Grundschule, oder doch in einem differenzierten Schulsystem? Es gibt eine heftige Diskussion, nun den Volksentscheid. In Berlin gibt es schon seit Langem die Erfahrung mit der sechsjährigen Grundschule, und darum habe ich mich verabredet mit Professor Rainer Lehmann vom Institut für Erziehungswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, der sich mit diesem Thema recht lange schon beschäftigt hat. Guten Morgen, Professor Lehmann!

Rainer Lehmann: Guten Morgen, Herr Ricke!

Ricke: Was halten Sie denn von der Erfahrung in Berlin von der sechsjährigen Grundschule, wenn man es ganz knapp zusammenfasst – Erfolg oder Misserfolg?

Lehmann: Man muss den allgemeinen Erfolg der sechsjährigen Grundschule in Berlin nicht bestreiten, muss aber berücksichtigen, dass es in Berlin beide Möglichkeiten gibt: Ungefähr knapp zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler können in Berlin nach Klasse 4 übergehen an sogenannte grundständige Gymnasien. Und das scheint auch ein guter Weg zu sein.

Ricke: Es gibt, wenn ich das richtig sehe, einen ziemlichen Run auf diese grundständigen Gymnasien, das heißt, die Eltern bemühen sich, ihre Kinder aus der sechsjährigen Grundschule rauszubekommen. Warum ist das so?

Lehmann: Es gibt eine Reihe von Kindern, die nach Meinung der Eltern nicht hinreichend gefördert werden in den Grundschulen. Und in der Tat gibt es Indizien dafür, dass diese Befürchtungen nicht grundlos sind. Diejenigen, die übergehen in Berlin, haben einen Lernfortschritt gegenüber dem Berliner Durchschnitt von ungefähr zwei Jahren. Das ist ein Unterschied, der in einem normalen Klassenzimmer schwer aufzufangen ist.

Ricke: Na, das heißt doch dann, dass die sechsjährige Grundschule, wenn ich das richtig zu Ende denke, die besseren, die leistungsstärkeren Schüler bremst.

Lehmann: Ich würde es gerne positiv formulieren: Die Schüler, die sehr leistungsstarken Schüler, könnten sich noch besser entwickeln, wenn sie zusätzliche Lernmöglichkeiten bekämen. Und das ist ja in Berlin dann auch der Fall. Die haben zum Beispiel eine zusätzliche Fremdsprache, die sehr viel Lernenergie aufnimmt.

Ricke: Dann schauen wir uns die sozialen Unterschiede an, um die geht es ja auch. Es geht ja auch darum, dass wir Abgehängte in der Gesellschaft haben und die Hoffnung, dass durch ein längeres, gemeinsames Lernen diese sozialen Disparitäten nicht so sich ausprägen, wie es zurzeit ist. Besteht da Hoffnung?

Lehmann: Jedenfalls nicht durch die Verlängerung der Grundschulzeit. Dafür gibt es überhaupt keinen Beleg. Im Vergleich der 16 Bundesländer ist vielmehr Berlin als eines der beiden Länder mit sechsjähriger Grundschule, dasjenige, das die höchsten sozialen Disparitäten überhaupt hat. Nun sage ich nicht, das ist nur Schuld der sechsjährigen Grundschule, aber es gibt keine Hoffnung, dass die ... keine begründete Hoffnung, dass die Sechsjährigkeit daran nennenswert etwas ändert.

Ricke: Aber wenn die sechsjährige Grundschule im sozialen Bereich nichts ändert und im Leistungsbereich die Leistungsstärkeren eher bremst, was bleibt dann als Pro-Argument?

Lehmann: Na ja, es werden eine Reihe von Argumenten genannt, die ich aber sämtlich nicht stichhaltig halte. Also, es wird zum Beispiel gesagt, die Lehrer seien nunmehr gezwungen, auf die größere Vielfalt in den Klassen einzugehen, wenn man die Grundschulzeit verlängert. Man versucht, das zu unterstützen durch Lehrerfortbildungsmaßnahmen. Aber das, was in Hamburg vorgeschlagen ist und teilweise geschieht, ist nicht wirklich ernst zunehmen: Ein zusätzlicher Kurs von 30 Stunden Lehrerfortbildung entspricht einer Vermehrung der Lehreraus- und -fortbildung um ungefähr zwei Prozent, das ist doch kein ernsthafter Grund, starke Effekte zu erwarten.

Ricke: Na, dann nehme ich doch noch ein Pro-Argument hier aus der Kiste, das heißt: Bürgerlich geprägte Eltern treiben vielleicht auch ihre gar nicht so leistungsstarken Kinder aufs Gymnasium und es könnte doch klug sein, diese Entscheidung über die weitere Schulwahl eben nicht mit zehn Jahren zu treffen, sondern mit zwölf. Ist das eine Idee?

Lehmann: Auch dafür gibt es, soweit mir bekannt ist, kein wirklich ernst zunehmendes Argument, dass die soziale Selektivität nach sechs Jahren geringer sein sollte als nach vier Jahren, im Gegenteil: Der eine oder andere Grund spricht dafür, dass sie sogar noch steigt, denn es gehen dann ein Lernfortschritte in den Klassenstufen 5 und 6, die, wie wir aus Berlin wissen, ihrerseits sehr stark sozial geprägt sind. Also, die Lernfortschritte sind in den gemeinsamen Berliner Grundschulen deutlich ausgeprägter in den sogenannten bildungsnahen Familien.

Ricke: Also, wenn wir am Ende der Primarschule da zu keinem Ergebnis kommen, schauen wir vielleicht an den Anfang. Wie wäre es denn mit dem verpflichtenden Vorschuljahr, damit Kinder, die vielleicht auch sprachliche Rückstände haben, bei der Einschulung in der ersten Klasse auf einem Niveau sind?

Lehmann: Ob man das erreichen kann, ist noch mal wieder eine andere Frage, aber ein verpflichtendes Vorschuljahr würde ich für eine ausgesprochen vernünftige Maßnahme halten. Übrigens auch einen Ausbau in Hamburg der sogenannten Aufbaugymnasien, also der Möglichkeit, nach Klasse 6 überzugehen an ein Gymnasium. Das gab es ja viele Jahre und sollte unbedingt ausgebaut werden. Und eine weitere Maßnahme, die vernünftig wäre, wäre am oberen Ende der Stadtteilschule, Sekundarstufe 1, wie immer sie heißen, ein Ausbau des Systems der Fachgymnasien. Das ist eine ausgesprochen gut funktionierende Maßnahme, die wir aus anderen Bundesländern kennen.

Ricke: Professor Rainer Lehmann vom Institut für Erziehungswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Vielen Dank, Herr Lehmann!

Lehmann: Gern geschehen!